Subjektivität

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Quk
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Sa 21. Dez 2024, 15:03

Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 14:28
Dem stimme ich zu. Subjektivität umfasst viel mehr als nur das Geschmackliche. Zum Beispiel etwas mögen, sich für etwas begeistern, von etwas fasziniert sein, von etwas überzeugt sein (oder auch: etwas überzeugend finden), etwas gut oder schlecht finden, aber auch etwas hassen, bei etwas Ekel empfinden, etwas ablehnen, etwas lustig finden u.v.m.
Naja, "mögen", "begeistern", "gutfinden", "schlechtfinden" und all das zähle ich zum "geschmacklichen" :-)

Ich meine eher solche Blickwinkel:

• Methodik
• Stilistik
• Klarheit, Vagheit
• Spontaneität, Planung
• Interpretierbarkeit
• Vieldeutigkeit, Eindeutigkeit
• Originalität
• Emotionalität, Sachlichkeit
• Geschmackliche Ansprache
• ...




Wolfgang Endemann
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Sa 21. Dez 2024, 15:49

Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 12:22

Ist das eher Subjektivität in Deinem Sinne, Wolfgang?
Du hast meine Position exakt wiedergegeben. Da die meisten diese Position verstehen, sogar die, die sie ablehnen (wie zB die Positivisten), wäre es im Kontrast schon interessant, in einem eigenen Strang die von Dir angesprochene und geteilte Schmitzsche ein wenig zu explizieren, denn sie ist eben überhaupt nicht geläufig. scheint zur gängigen quer zu liegen. Aber vielleicht gibt es ja eine Kurzfassung des Wesentlichen von Schmitz selbst. Du hast ja schon seine Hegelinterpretation und sein Verständnis von Mathematik dokumentiert. Gibt es einen Zugang, der keinen 1000-seitigen Lesestoff erfordert?

Einen Moment möchte ich noch bei meinem Versuch bleiben, Schmitz mit meinen Worten zu erfassen. Wenn ich von innerer Leiblichkeit rede, ist doch ganz klar nicht die äußere Leiblichkeit gemeint, die von anderen angeschaut, angefaßt usw werden kann, sondern nur die, die allein ich wahrnehme/wahrnehmen kann, meine Bauchschmerzen, meine Aufgedrehtheit usw, mein Michwahrnehmen als biologisches Objekt, was widerspricht der Subjektivität in Deinem Sinn, was mißfällt Dir an dem Begriff "biologisches Objekt"? Was also ist falsch an dem Ausdruck "innere Leiblichkeit", was bedeutet stattdessen Leiblichkeit bei Schmitz?




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Consul
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Sa 21. Dez 2024, 16:27

Subjektivität ist das Gegenteil von Objektivität, wobei kein absoluter Gegensatz bestehen muss; denn es kann unterschiedliche Grade von Objektivität bzw. Subjektivität geben. Zudem gibt es unterschiedliche Auffassungen dieser Begriffe:
"The famous distinction between objective and subjective is ambiguous between an epistemic sense, where 'epistemic' means having to do with knowledge, and an ontological sense, where 'ontological' means having to do with existence. In the epistemic sense, the distinction between the objective and the subjective is between different types of claims (statements, assertions, beliefs, etc.): epistemically objective claims can be settled as matters of objective fact, the subjective are matters of subjective opinion. For example, the claim that van Gogh died in France is epistemically objective. Its truth or falsity can be settled as a matter of objective fact. The claim that van Gogh was a better painter than Gauguin is epistemically subjective; it is a matter of subjective evaluation. Underlying this epistemic distinction is an ontological distinction between modes of existence. Some entities—mountains, molecules and tectonic plates for example—have an existence independent of any experience. They are ontologically objective. But others—pains, tickles and itches, for example—exist only insofar as they are experienced by a human or animal subject. They are ontologically subjective. I cannot tell you how much confusion has been generated by the failure to distinguish between the epistemic and the ontological senses of the distinction between subjective and objective. …Pains, as I just said, are ontologically subjective. 'But are they epistemically subjective as well?' It is absolutely important to see that that question makes no sense. Only claims, statements, etc. can be epistemically subjective or objective. Often statements about ontologically subjective entities such as pains can be epistemically objective. “Pains can be alleviated by analgesics” is an epistemically objective statement about an ontologically subjective class of entities."
——————
"Die berühmte Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv ist mehrdeutig zwischen einem epistemischen Sinn, wobei ‚epistemisch‘ bedeutet, mit Wissen zu tun zu haben, und einem ontologischen Sinn, wobei ‚ontologisch‘ bedeutet, mit Existenz zu tun zu haben. Im epistemischen Sinne besteht die Unterscheidung zwischen objektiv und subjektiv zwischen verschiedenen Arten von Urteilen (Aussagen, Behauptungen, Überzeugungen usw.): epistemisch objektive Behauptungen können als objektive Tatsachen geklärt werden, subjektive sind Fragen subjektiver Meinung. So ist beispielsweise die Behauptung, dass van Gogh in Frankreich gestorben ist, epistemisch objektiv. Ihre Wahrheit oder Falschheit kann als objektive Tatsache geklärt werden. Die Behauptung, dass van Gogh ein besserer Maler als Gauguin war, ist epistemisch subjektiv; es ist eine Frage subjektiver Bewertung. Dieser epistemischen Unterscheidung liegt eine ontologische Unterscheidung zwischen Existenzweisen zugrunde. Manche Entitäten – Berge, Moleküle und tektonische Platten zum Beispiel – haben eine Existenz, die unabhängig von jeglicher Erfahrung ist. Sie sind ontologisch objektiv. Andere – Schmerzen, Kitzeln und Jucken zum Beispiel – existieren jedoch nur insoweit, als sie von einem menschlichen oder tierischen Subjekt erfahren werden. Sie sind ontologisch subjektiv. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viel Verwirrung durch die fehlende Unterscheidung zwischen der epistemischen und der ontologischen Bedeutung der Unterscheidung zwischen subjektiv und objektiv entstanden ist. …Schmerzen sind, wie ich gerade sagte, ontologisch subjektiv. 'Aber sind sie auch epistemisch subjektiv?' Es ist absolut wichtig zu sehen, dass diese Frage keinen Sinn ergibt. Nur Urteile, Aussagen usw. können epistemisch subjektiv oder objektiv sein. Oft können Aussagen über ontologisch subjektive Entitäten wie Schmerzen epistemisch objektiv sein. 'Schmerzen können durch Analgetika gelindert werden' ist eine epistemisch objektive Aussage über eine ontologisch subjektive Klasse von Entitäten."
[Übersetzt von Google Translate]

(Searle, John R. Seeing Things As They Are: A Theory of Perception. New York: Oxford University Press, 2015. pp. 16-7)
"The first understanding of objectivity is perhaps the most common one. It is that an objective judgement is a judgement that is free of prejudice and bias. One might put this by saying that it is a judgement to which any fair-minded person could agree, no matter what views they held." (p. 4)

"The second understanding is that an objective judgement is a judgement which is free of all assumptions and values." (p. 5)

"The third notion of objectivity is focused directly on how we arrive at our views or theories. It is that an objective procedure is one that allows us to decide between conflicting views or theories." (p. 6)

"This is the fourth understanding of objectivity, and in philosophical and scientific discussions from the 18th century onwards, we find a move away from a negative understanding of objectivity as freedom from prejudice or bias, towards the positive idea that objectivity consists in accurate representation." (p. 9)

"There is one final understanding of objectivity that needs to be considered briefly. This is the idea that something is objective if it leads to conclusions which are universally accepted. Part of the motivation for this idea is that when one considers results in the natural sciences, for example, there is a very significant level of agreement, a level of agreement that cuts across cultures, religions, and just about any other kind of cognitive endeavour. But this is at best a test of, or sign of, objectivity, not a definition of what objectivity is." (p. 10)
——————
"Das erste Verständnis von Objektivität ist vielleicht das gebräuchlichste. Ein objektives Urteil ist ein Urteil, das frei von Vorurteilen und Befangenheit ist. Man könnte es so ausdrücken, dass es ein Urteil ist, dem jede fair denkende Person zustimmen kann, unabhängig davon, welche Ansichten sie vertritt." (p. 4)

"Das zweite Verständnis ist, dass ein objektives Urteil ein Urteil ist, das frei von allen Annahmen und Werten ist." (p. 5)

"Der dritte Begriff der Objektivität konzentriert sich direkt darauf, wie wir zu unseren Ansichten oder Theorien gelangen. Ein objektives Verfahren ist eines, das es uns ermöglicht, zwischen widersprüchlichen Ansichten oder Theorien zu entscheiden." (p. 6)

"Dies ist das vierte Verständnis von Objektivität, und in philosophischen und wissenschaftlichen Diskussionen ab dem 18. Jahrhundert sehen wir eine Abkehr von einem negativen Verständnis von Objektivität als Freiheit von Vorurteilen oder Befangenheit hin zu der positiven Idee, dass Objektivität in einer genauen Darstellung besteht." (p. 9)

"Es gibt noch ein letztes Verständnis von Objektivität, das kurz betrachtet werden muss. Dies ist die Idee, dass etwas objektiv ist, wenn es zu allgemein akzeptierten Schlussfolgerungen führt. Ein Teil der Motivation für diese Idee ist, dass es bei der Betrachtung von Ergebnissen in den Naturwissenschaften beispielsweise ein sehr hohes Maß an Übereinstimmung gibt, ein Maß an Übereinstimmung, das sich über Kulturen, Religionen und so ziemlich jede andere Art kognitiver Anstrengung erstreckt. Aber dies ist bestenfalls ein Test oder ein Zeichen von Objektivität, keine Definition dessen, was Objektivität ist." (p. 10)
[Übersetzt von Google Translate]

(Gaukroger, Stephen. Objectivity: A Very Short Introduction. Oxford: Oxford University Press, 2012.)
"Objectivity is a value. To call a thing objective implies that it has a certain importance to us and that we approve of it. Objectivity comes in degrees. Claims, methods and results can be more or less objective, and, other things being equal, the more objective, the better. Using the term “objective” to describe something often carries a special rhetorical force with it. The admiration of science among the general public and the authority science enjoys in public life stems to a large extent from the view that science is objective or at least more objective than other modes of inquiry. Understanding scientific objectivity is therefore central to understanding the nature of science and the role it plays in society.

Given the centrality of the concept for science and everyday life, it is not surprising that attempts to find ready characterizations are bound to fail. For one thing, there are two fundamentally different ways to understand the term: product objectivity and process objectivity. According to the first understanding, science is objective in that, or to the extent that, its products—theories, laws, experimental results and observations—constitute accurate representations of the external world. The products of science are not tainted by human desires, goals, capabilities or experience. According to the second understanding, science is objective in that, or to the extent that, the processes and methods that characterize it neither depend on contingent social and ethical values, nor on the individual bias of a scientist. Especially this second understanding is itself multi-faceted; it contains, inter alia, explications in terms of measurement procedures, individual reasoning processes, or the social and institutional dimension of science. The semantic richness of scientific objectivity is also reflected in the multitude of categorizations and subdivisions of the concept.

If what is so great about science is its objectivity, then objectivity should be worth defending. The close examinations of scientific practice that philosophers of science have undertaken in the past fifty years have shown, however, that several conceptions of the ideal of objectivity are either questionable or unattainable. The prospects for a science providing a non-perspectival “view from nowhere” or for proceeding in a way uninformed by human goals and values are fairly slim, for example.

This article discusses several proposals to characterize the idea and ideal of objectivity in such a way that it is both strong enough to be valuable, and weak enough to be attainable and workable in practice. We begin with a natural conception of objectivity: faithfulness to facts, which is closely related to the idea of product objectivity. We motivate the intuitive appeal of this conception, discuss its relation to scientific method and discuss arguments challenging both its attainability as well as its desirability. We then move on to a second conception of objectivity as absence of normative commitments and value-freedom, and once more we contrast arguments in favor of such a conception with the challenges it faces. The third conception of objectivity which we discuss at length is the idea of absence of personal bias."
——————
"Objektivität ist ein Wert. Etwas als objektiv zu bezeichnen impliziert, dass es für uns eine gewisse Bedeutung hat und dass wir es gutheißen. Objektivität gibt es in Abstufungen. Behauptungen, Methoden und Ergebnisse können mehr oder weniger objektiv sein, und unter sonst gleichen Bedingungen gilt: je objektiver, desto besser. Die Verwendung des Begriffs „objektiv“ zur Beschreibung von etwas hat oft eine besondere rhetorische Kraft. Die Bewunderung der Wissenschaft in der breiten Öffentlichkeit und die Autorität, die die Wissenschaft im öffentlichen Leben genießt, rührt zu einem großen Teil von der Ansicht her, dass die Wissenschaft objektiv oder zumindest objektiver als andere Untersuchungsmethoden ist. Das Verständnis der wissenschaftlichen Objektivität ist daher von zentraler Bedeutung für das Verständnis der Natur der Wissenschaft und ihrer Rolle in der Gesellschaft.

Angesichts der zentralen Bedeutung des Konzepts für die Wissenschaft und das alltägliche Leben ist es nicht überraschend, dass Versuche, eindeutige Charakterisierungen zu finden, zum Scheitern verurteilt sind. Zum einen gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten, den Begriff zu verstehen: Produktobjektivität und Prozessobjektivität. Nach dem ersten Verständnis ist die Wissenschaft insofern objektiv, als ihre Produkte – Theorien, Gesetze, experimentelle Ergebnisse und Beobachtungen – genaue Darstellungen der Außenwelt darstellen. Die Produkte der Wissenschaft sind nicht durch menschliche Wünsche, Ziele, Fähigkeiten oder Erfahrungen verfälscht. Nach dem zweiten Verständnis ist die Wissenschaft objektiv, insofern die Prozesse und Methoden, die sie charakterisieren, weder von kontingenten sozialen und ethischen Werten noch von der individuellen Voreingenommenheit eines Wissenschaftlers abhängen. Insbesondere dieses zweite Verständnis ist selbst vielschichtig; es enthält unter anderem Erklärungen in Bezug auf Messverfahren, individuelle Denkprozesse oder die soziale und institutionelle Dimension der Wissenschaft. Der semantische Reichtum der wissenschaftlichen Objektivität spiegelt sich auch in der Vielzahl der Kategorisierungen und Unterteilungen des Konzepts wider.

Wenn das Großartige an der Wissenschaft ihre Objektivität ist, dann sollte es sich lohnen, diese zu verteidigen. Die genauen Untersuchungen der wissenschaftlichen Praxis, die Wissenschaftsphilosophen in den letzten fünfzig Jahren durchgeführt haben, haben jedoch gezeigt, dass mehrere Vorstellungen des Ideals der Objektivität entweder fragwürdig oder unerreichbar sind. Die Aussichten für eine Wissenschaft, die einen nicht-perspektivischen „Blick von nirgendwo“ bietet oder auf eine Weise vorgeht, die nicht von menschlichen Zielen und Werten geprägt ist, sind beispielsweise ziemlich gering.

In diesem Artikel werden mehrere Vorschläge erörtert, wie die Idee und das Ideal der Objektivität so charakterisiert werden können, dass sie einerseits stark genug sind, um wertvoll zu sein, andererseits aber auch schwach genug, um in der Praxis erreichbar und durchführbar zu sein. Wir beginnen mit einem natürlichen Konzept von Objektivität: der Treue zu Tatsachen, die eng mit der Idee der Produktobjektivität verwandt ist. Wir begründen die intuitive Anziehungskraft dieses Konzepts, erörtern seine Beziehung zur wissenschaftlichen Methode und diskutieren Argumente, die sowohl seine Erreichbarkeit als auch seine Erwünschtheit in Frage stellen. Anschließend gehen wir zu einem zweiten Konzept von Objektivität über, als Abwesenheit normativer Verpflichtungen und Wertfreiheit, und stellen erneut die Argumente für ein solches Konzept den Herausforderungen gegenüber, denen es gegenübersteht. Die dritte Auffassung von Objektivität, die wir ausführlich diskutieren, ist die Idee der Abwesenheit persönlicher Voreingenommenheit."
[Übersetzt von Google Translate]

(Scientific Objectivity: https://plato.stanford.edu/archives/fal ... jectivity/)
"[M]y survey of the literature on objectivity has turned up the following uses of the term:

(1) objectivity as value neutrality;
(2) objectivity as lack of bias, with bias understood as including:
(a) personal attachment;
(b) political aims;
(c) ideological commitments;
(d) preferences;
(e) desires;
(f) interests;
(g) emotion.
(3) objectivity as scientific method;
(4) objectivity as rationality;
(5) objectivity as an attitude of ‘psychological distance’;
(6) objectivity as ‘world-directedness’;
(7) objectivity as impersonality;
(8) objectivity as impartiality;
(9) objectivity as having to do with facts;
(10) objectivity as having to do with things as they are in themselves; objectivity as universality;
(11) objectivity as disinterestedness;
(12) objectivity as commensurability;
(13) objectivity as intersubjective agreement."
——————
"Meine Untersuchung der Literatur zur Objektivität hat die folgenden Verwendungen des Begriffs ergeben:

(1) Objektivität als Wertneutralität;
(2) Objektivität als Fehlen von Voreingenommenheit, wobei Voreingenommenheit verstanden wird als:
(a) persönliche Bindung;
(b) politische Ziele;
(c) ideologische Verpflichtungen;
(d) Vorlieben;
(e) Wünsche;
(f) Interessen;
(g) Emotionen.
(3) Objektivität als wissenschaftliche Methode;
(4) Objektivität als Rationalität;
(5) Objektivität als Haltung der 'psychologischen Distanz';
(6) Objektivität als 'Weltbezogenheit';
(7) Objektivität als Unpersönlichkeit;
(8) Objektivität als Unparteilichkeit;
(9) Objektivität als etwas, das mit Fakten zu tun hat;
(10) Objektivität als etwas, das mit Dingen zu tun hat, wie sie an sich sind; Objektivität als Universalität;
(11) Objektivität als Uneigennützigkeit;
(12) Objektivität als Kommensurabilität;
(13) Objektivität als intersubjektive Übereinstimmung."
[Übersetzt von Google Translate]

(Janack, Marianne. "Dilemmas of Objectivity." Social Epistemology 16/3 (2002): 267–281. p. 275)
"The three operationally distinct modes [of objectivity] are as follows: (1) Objectivity1 focuses on processes where humans attempt to interact with the world, such as scientific experimentation or interactions in daily life; in particular, these processes attempt to directly "get at objects" in the world. (2) Objectivity2 focuses on an individual's thought processes or an individual reasoning process, and particularly focuses on the role of values in that process. (3) Objectivity3 focuses on social processes that structure epistemically important procedures, and examines in particular ways to reach agreement through these processes. In each mode, there are multiple senses of "objectivity". None of the senses below are absolute; in no case is there either objectivity or not. Instead, one can be more or less objective in each sense under each mode."
——————
"Die drei operativ unterschiedlichen Modi [der Objektivität] sind wie folgt: (1) Objektivität1 konzentriert sich auf Prozesse, bei denen Menschen versuchen, mit der Welt zu interagieren, wie etwa wissenschaftliche Experimente oder Interaktionen im täglichen Leben; insbesondere versuchen diese Prozesse, direkt „an Objekte“ in der Welt heranzukommen. (2) Objektivität2 konzentriert sich auf die Denkprozesse oder einen individuellen Denkprozess eines Individuums und insbesondere auf die Rolle von Werten in diesem Prozess. (3) Objectivity3 konzentriert sich auf soziale Prozesse, die epistemisch wichtige Verfahren strukturieren, und untersucht insbesondere Möglichkeiten, durch diese Prozesse zu einer Einigung zu gelangen. In jedem Modus gibt es mehrere Bedeutungen von „Objektivität“. Keine der unten aufgeführten Bedeutungen ist absolut; in keinem Fall gibt es Objektivität oder nicht. Stattdessen kann man in jeder Bedeutung unter jedem Modus mehr oder weniger objektiv sein."
[Übersetzt von Google Translate]

(Douglas, Heather. "The Irreducible Complexity of Objectivity." Synthese 138/3 (2004): 453–473. pp. 455-6)
"OBJECTIVITY IS ON THE AGENDA—on various agendas—for rethinking. This collection registers a multidisciplinary discussion that was already going on; it did not call that discussion into being. But what is the "objectivity" that is being rethought? One of the points that the collection most clearly underscores is that there is no such thing as "the" objectivity question. Taken together, the papers suggest that in current discussion the terms "objective" and "objectivity" have four principal senses. I n practice the senses are related, even overlapping; but they can be conceptually distinguished from each other, and it is often indispensable to do so.

There is firstly a philosophical or absolute sense of objectivity. This type of objectivity derives from (although it is not identical with) the ideal of "representing things as they really are" that has played an important role in the modern philosophical tradition. It aspires to a knowledge so faithful to reality as to suffer no distortion, and toward which all inquirers of good will are destined to converge. Secondly, there is a disciplinary sense, which no longer assumes a wholesale convergence and instead takes consensus among the members of particular research communities as its standard of objectivity. Thirdly, there is an interactional or dialectical sense, which holds that objects are constituted as objects in the course of an interplay between subject and object; thus, unlike the absolute and disciplinary senses, the dialectical sense leaves room for the subjectivity of the knower. Finally, there is a procedural sense, which aims at the practice of an impersonal method of investigation or administration. Here, the exclusion of subjectivity prominent in both absolute and disciplinary objectivity is pursued in abstraction from the belief that truth or justice will actually be attained thereby."
——————
"OBJEKTIVITÄT STEHT AUF DER TAGESORDNUNG – auf verschiedenen Tagesordnungen – zum Überdenken. Diese Sammlung registriert eine multidisziplinäre Diskussion, die bereits im Gange war; sie hat diese Diskussion nicht ins Leben gerufen. Aber was ist die „Objektivität“, die überdacht wird? Einer der Punkte, die die Sammlung am deutlichsten unterstreicht, ist, dass es so etwas wie „die“ Objektivitätsfrage nicht gibt. Zusammengenommen legen die Beiträge nahe, dass die Begriffe „objektiv“ und „Objektivität“ in der aktuellen Diskussion vier Hauptbedeutungen haben. In der Praxis sind die Bedeutungen verwandt, überlappen sich sogar; sie können jedoch konzeptionell voneinander unterschieden werden, und dies ist oft unabdingbar.

Erstens gibt es eine philosophische oder absolute Bedeutung von Objektivität. Diese Art von Objektivität leitet sich von dem Ideal ab, „die Dinge so darzustellen, wie sie wirklich sind“, das in der modernen philosophischen Tradition eine wichtige Rolle gespielt hat (obwohl es nicht identisch damit ist). Es strebt nach einem Wissen, das der Realität so treu ist, dass es keine Verzerrung erleidet, und dem alle Forscher guten Willens zustreben müssen. Zweitens gibt es eine disziplinäre Bedeutung, die geht nicht mehr von einer pauschalen Konvergenz aus, sondern nimmt stattdessen den Konsens unter den Mitgliedern bestimmter Forschungsgemeinschaften als Maßstab für Objektivität. Drittens gibt es einen interaktionalen oder dialektischen Sinn, der besagt, dass Objekte im Laufe eines Wechselspiels zwischen Subjekt und Objekt als Objekte konstituiert werden; somit lässt der dialektische Sinn im Gegensatz zum absoluten und disziplinären Sinn Raum für die Subjektivität des Wissenden. Schließlich gibt es einen prozeduralen Sinn, der auf die Ausübung einer unpersönlichen Untersuchungs- oder Verwaltungsmethode abzielt. Hier wird der Ausschluss der Subjektivität, der sowohl in der absoluten als auch in der disziplinären Objektivität im Vordergrund steht, in Abstraktion von dem Glauben verfolgt, dass dadurch tatsächlich Wahrheit oder Gerechtigkeit erreicht werden wird."
[Übersetzt von Google Translate]

(Megill, Allan, ed. Rethinking Objectivity. Durham: Duke University Press, 1994. p. 1)
"There are three strands to our ordinary notion of an objective fact or objective truth. First, an objective fact is accessible from different angles. It can be repeated by the same sense (sight, touch, etc.) at different times, it can be repeated by different senses of one observer, and by different observers. Different laboratories can replicate the phenomenon. What can be experienced only at one instant by one sense modality of one observer is indistinguishable from random noise, and does not (securely) count as an objective fact.

The second mark of an objective truth, related to the first, is that there is or can be intersubjective agreement about it. And the third feature concerns independence. If p is an objective truth, then it holds independently of people's beliefs, desires, hopes, and observations or measurements that p.

These three features of objective truths certainly are in need of elaboration and refinement, if only to meet the counterexamples to thinking of them as individually necessary and jointly sufficient. We also may wonder how the notion of independence fares in the light of quantum mechanics. However, it is a fourth and more fundamental characteristic of objective truth that I want to investigate here today. An objective fact is invariant under various transformations. It is this invariance that constitutes something as an objective truth and it underlies and explains the first three features (to the extent that they hold)."
——————
"Unsere gewöhnliche Vorstellung einer objektiven Tatsache oder objektiven Wahrheit hat drei Stränge. Erstens ist eine objektive Tatsache aus verschiedenen Blickwinkeln zugänglich. Es kann von demselben Sinn (Sehen, Tasten usw.) zu verschiedenen Zeiten wiederholt werden, es kann von verschiedenen Sinnen eines Beobachters und von verschiedenen Beobachtern wiederholt werden. Verschiedene Laboratorien können das Phänomen nachbilden. Was nur in einem Augenblick von einer Sinnesmodalität eines Beobachters erfahren werden kann, ist von zufälligem Rauschen nicht zu unterscheiden und gilt nicht (mit Sicherheit) als objektive Tatsache.

Das zweite, mit dem ersten zusammenhängende Merkmal einer objektiven Wahrheit ist, dass es eine intersubjektive Übereinstimmung darüber gibt oder geben kann. Und das dritte Merkmal betrifft die Unabhängigkeit. Wenn p eine objektive Wahrheit ist, dann gilt sie unabhängig von den Überzeugungen, Wünschen, Hoffnungen und Beobachtungen oder Messungen der Menschen, dass p.

Diese drei Merkmale objektiver Wahrheiten müssen sicherlich ausgearbeitet und verfeinert werden, und sei es nur, um den Gegenbeispielen zu entsprechen, die sie als einzeln notwendig und gemeinsam ausreichend betrachten. Wir können uns auch fragen, wie sich der Begriff der Unabhängigkeit im Lichte der Quantenmechanik verhält. Es ist jedoch ein viertes und grundlegenderes Merkmal objektiver Wahrheit, das ich hier heute untersuchen möchte. Eine objektive Tatsache ist unter verschiedenen Transformationen invariant. Es ist diese Invarianz, die etwas als objektive Wahrheit ausmacht und die den ersten drei Merkmalen zugrunde liegt und sie erklärt (sofern sie zutreffen)."
[Übersetzt von Google Translate]

(Nozick, Robert. "Invariance and Objectivity." Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 72/2 (1998): 21–48. p. 21)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Jörn Budesheim
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Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 15:49
biologisches Objekt
Was ist der Leib? In einem allerersten Zugriff, der sicherlich noch sehr weit von der Definition von Schmitz entfernt ist, würde ich sagen, dass der Leib die Art und Weise ist, wie wir uns selbst erleben. Ein "biologisches Objekt" hingegen ist ein Gegenstand, den man gleichsam von der Seite betrachten kann, während der Leib als sich selbst erlebender und spürender in der Perspektive der ersten Person gegeben ist. Schmitz Begriff ist noch deutlich spezieller; wenn ich jetzt z.b von hier aus meine jeansummantelten Beine betrachte, dann bin ich noch nicht bei meinem Leib. Wenn wir unseren Körper mit den Augen betrachten oder den Fingern betasten, dann sind wir in Schmitz' Version des Leibes noch nicht beim Leib, sondern noch beim Körper.
Gernot Böhme Leib: Die Natur, die wir selbst sind

Leiblich ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist.
Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist.
Seelisch ist, was ortlos ist. (Schmitz)


Schmitz’ Leibphilosophie kann man als eine Ausarbeitung der Husserl’schen Entdeckung leiblichen Spürens ansehen, die in seinem Zwei-Hände-Experiment enthalten ist. Das Experiment besteht darin, dass man mit der rechten Hand die linke anfasst. Die rechte hat dann Empfindungen – nämlich von der linken Hand –, die linke jedoch nach Husserls Terminologie »Empfindnisse«,[5] nämlich: sie spürt sich selbst. Man kann auf der Basis dieses Experiments noch eine zweite Husserl’sche Definition des Leibes – neben der eben angegebenen als fungierender Körper – geben, nämlich als Feld der Empfindnisse. Für Schmitz ist der Leib, was im leiblichen Spüren gegeben ist. Und da das Spüren ein Sich-Spüren ist, kann man ebenso sagen, dass der Leib das räumlich ausgedehnte Spüren selbst ist: Meine gespürte Hand ist nichts anderes als das ausgedehnte Spüren in der Gegend der Hand selbst. Schmitz verwendet für diese mehr oder weniger abgegrenzten, mehr oder weniger 28stabilen, mehr oder weniger ineinander übergehenden Felder des Spürens den Ausdruck Leibesinseln. Er zeigt dann, dass das leibliche Spüren zwei Grundtendenzen hat, nämlich Engung und Weitung, dass diese Tendenzen miteinander in einen dynamischen Antagonismus treten als Spannung und Schwellung, dass es dann ferner in diesem leiblichen Spüren auch Richtungen gibt usw. Zusammengenommen werden diese Strukturen leiblichen Spürens als leibliches Alphabet bezeichnet. Es enthält quasi leibliche Elementarphänomene, auf deren Basis Schmitz in Anspruch nimmt, komplexere leibliche Erfahrungen durchbuchstabieren zu können ...




Jörn Budesheim
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@thomas du hast weiter oben sinngemäß gesagt, das Wahrnehmung immer subjektiv ist. Ich kann mir darauf keinen Reim machen. Bist du der Ansicht, dass wir in einem Traum leben? Oder denkst du, dass wir uns immer irren? Sind wir von der Wirklichkeit abgeschnitten? Aber wenn wir von der Wirklichkeit abgeschnitten sein sollten, woher weißt du das dann?




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Thomas
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Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 15:49
Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 12:22

Ist das eher Subjektivität in Deinem Sinne, Wolfgang?
Du hast meine Position exakt wiedergegeben. Da die meisten diese Position verstehen, sogar die, die sie ablehnen (wie zB die Positivisten), wäre es im Kontrast schon interessant, in einem eigenen Strang die von Dir angesprochene und geteilte Schmitzsche ein wenig zu explizieren, denn sie ist eben überhaupt nicht geläufig. scheint zur gängigen quer zu liegen. Aber vielleicht gibt es ja eine Kurzfassung des Wesentlichen von Schmitz selbst. Du hast ja schon seine Hegelinterpretation und sein Verständnis von Mathematik dokumentiert. Gibt es einen Zugang, der keinen 1000-seitigen Lesestoff erfordert?

Einen Moment möchte ich noch bei meinem Versuch bleiben, Schmitz mit meinen Worten zu erfassen. Wenn ich von innerer Leiblichkeit rede, ist doch ganz klar nicht die äußere Leiblichkeit gemeint, die von anderen angeschaut, angefaßt usw werden kann, sondern nur die, die allein ich wahrnehme/wahrnehmen kann, meine Bauchschmerzen, meine Aufgedrehtheit usw, mein Michwahrnehmen als biologisches Objekt, was widerspricht der Subjektivität in Deinem Sinn, was mißfällt Dir an dem Begriff "biologisches Objekt"? Was also ist falsch an dem Ausdruck "innere Leiblichkeit", was bedeutet stattdessen Leiblichkeit bei Schmitz?
Wenn Du etwas Kurzes von Schmitz lesen willst, dann wäre die "Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie" (Alber Verlag 2009) empfehlen. Ich finde es toll, dass Du danach fragst; aber ich möchte Dich schon auch warnen: Schmitz zu lesen ist wie das Lernen einer Fremdsprache, weil er sehr systematisch denkt, aber eine ganz eigene Systematik hat. Wenn man nicht am Anfang dranbleibt, legt man ihn schnell beiseite.

Das mit dem "biologischen Objekt" haut mit Schmitz schon deshalb nicht hin, weil der Leib, so wie er ihn versteht, nicht viel mit dem physischen Körper zu tun hat. (Der gespürte Leib hat zum Beispiel keine Flächen, der sicht- und tastbare Körper durchaus - Du merkst, schon wie äußerst seltsam bereits das klingt!) Die beste und relativ kurze Schrift von Schmitz zur Leib-Thematik heißt einfach "Der Leib" (De Gruyter 2011). Ich habe die Schrift als PDF-Dokument und könnte sie Dir gern zusenden, wenn Du willst (melde Dich bei Interesse einfach über Private Nachrichten).

(Die Ideen von Schmitz in einem eigenen Strang darzustellen, traue ich mir kaum zu. Das ginge nämlich im Grunde nur in streng systematischer Form, und ließe dann erst mal über weite Strecken kaum Dialog zu. Und das passt hier nicht so gut, denn dies ist ja keine Lehr- oder Lerrnplattform.)




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Thomas
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 17:30
@thomas du hast weiter oben sinngemäß gesagt, das Wahrnehmung immer subjektiv ist. Ich kann mir darauf keinen Reim machen. Bist du der Ansicht, dass wir in einem Traum leben? Oder denkst du, dass wir uns immer irren? Sind wir von der Wirklichkeit abgeschnitten? Aber wenn wir von der Wirklichkeit abgeschnitten sein sollten, woher weißt du das dann?
Nein, nein, Jörn, überhaupt nicht. Subjektivität spricht doch in keiner Weise gegen Realität bzw. Realsein. Dass die Wahrnehmung wie überhaupt jegliche Erfahrung subjektiv ist, heißt nur, dass sie in mir (oder förmlicher gesagt: im Ich oder Subjekt) ihren Ankerpunkt hat; und natürlich ist das Ich oder Subjekt weltoffen und überhaupt nicht gegenüber der Wirklichkeit verschlossen. Die These von der Abkapselung der Subjektivität (Stichwort: Innenwelt) würde ich überhaupt nicht mitmachen; und auch nicht die These, dass 'das Bewusstsein das Sein bestimmt' oder das 'die Welt meine Vorstellung ist' (wie Schopenhauer sagt). Merleau-Ponty drückt es sehr schön aus, wenn er sagt: 'Ich bin zur-Welt'. Subjektivität ist für mich ein solches zur-Welt-sein. Das Problem des Vorstellungsidealismus, wie ich aus meinem Bewusstseinsgefängnis zur Welt komme, gibt es für mich gar nicht. Und es gibt für mich andererseits auch kein Ansichsein der Wirklichkeit, zu dem ich dann irgendwie - z.B. in Erkenntnis und Handlung - hinzutrete. Verstehst Du ungefähr, was ich meine?




Jörn Budesheim
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Sa 21. Dez 2024, 18:14

Wahrnehmung ist für mich ein Erfolgsbegriff. Zu sagen, dass ich Hans gesehen habe, bedeutet einfach, dass ich tatsächlich Hans gesehen habe. Zu sagen, dass meine Wahrnehmung von Hans subjektiv war, ist für mich unverständlich. Für mich klingt es wie eine Einschränkung, dass ich Hans nämlich nicht wirklich wahrgenommen habe, ohne dass erläutert wird, worin diese Einschränkung besteht.




Jörn Budesheim
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Sa 21. Dez 2024, 18:44

Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 18:00
Und es gibt für mich andererseits auch kein Ansichsein der Wirklichkeit, zu dem ich dann irgendwie - z.B. in Erkenntnis und Handlung - hinzutrete.
Meinst du damit, dass du selbst, deine Erkenntnis und deine Handlung zum "Ansichsein" der Wirklichkeit gehören?




Wolfgang Endemann
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Sa 21. Dez 2024, 19:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 16:56
dass der Leib die Art und Weise ist, wie wir uns selbst erleben. Ein "biologisches Objekt" hingegen ist ein Gegenstand, den man gleichsam von der Seite betrachten kann, während der Leib als sich selbst erlebender und spürender in der Perspektive der ersten Person gegeben ist.
Damit drückst Du eine Paradoxie aus. Um uns zu erleben, müssen wir uns als "ich" wissen, sonst erleben wir nicht "uns", sondern wir erleben, ohne "uns". Darin können wir gar nicht unterscheiden, was "Ich" und was "Nichtich", Innen- und Außenwelt ist. Zum Erleben von uns ist es notwendig, eine Innen-Außen-Unterscheidung zu treffen/besitzen, eben Ich und Nichtich, und wenn es ein reines Erleben sein soll, dann bin ich noch nicht "Ich", denn das setzt diese Reflexion voraus. Daher sagte ich, es ist das Erleben des biologischen Organismus, das weiß ich aber noch nicht. Insofern habe ich undeutlich formuliert, es ist das Erleben des biologischen Objekts, aber es ist nur Erleben, kein Wissen, erst aus der Perspektive des Reflektierenden wird es zum Erleben eines biologischen Objekts.

Das Beispiel mit rechter und linker Hand übrigens ist ein Beispiel für die Integriertheit der Erfahrung, in diesem Fall der Erfahrung von der Ganzheit des biologischen Körpers, Schmitz würde vielleicht sagen, der Leiblichkeit. Die wird sehr früh erworben und kann gestört werden, siehe Phantomschmerzen, da wird falsch lokalisiert.




Jörn Budesheim
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Sa 21. Dez 2024, 19:33

Wofür möchtest du denn argumentieren? Dass es keinen Leib gibt?




Wolfgang Endemann
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Sa 21. Dez 2024, 19:36

@ Thomas

Danke, ich werde mir, sobald ich dazu Zeit finde, Deine Empfehlung vorknöpfen. Angst vor kryptischen Texten habe ich nicht, ich habe mir schließlich in jungen Jahren Hegel und Adorno vorgenommen, und fand es gar nicht so unverständlich. Man muß nur von eingefahrenen impliziten Mechanismen absehen können. Meiner mathematischen Seite liegt die Axiomatik nahe, da bin ich gewohnt, nur dem explizit gesagten zu folgen.

Zu Deiner Aussage "... der Leib, so wie er ihn versteht, nicht viel mit dem physischen Körper zu tun hat. (Der gespürte Leib hat zum Beispiel keine Flächen, der sicht- und tastbare Körper durchaus - Du merkst, schon wie äußerst seltsam bereits das klingt!)" habe ich doch noch eine kleine Verständnisfrage. Ich finde das nicht seltsam, denn viele Innenwahrnehmungen sind nicht lokalisiert, warum sollten sie das, wenn sie nur die Anzeigenfunktion für eine allgemeine Handlungssteuerung zur Problembearbeitung haben, die keinen lokalen Eingriff erfordert. Wenn wir keine so extremen Augentiere wären, hätten wir auch kaum ein geometrisches Verständnis der Umwelt/Welt. Aber ein Flächenbewußtsein haben wir mE durchaus, nämlich über unsere Haut als Außengrenze.




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Thomas
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Sa 21. Dez 2024, 20:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 18:14
Wahrnehmung ist für mich ein Erfolgsbegriff. Zu sagen, dass ich Hans gesehen habe, bedeutet einfach, dass ich tatsächlich Hans gesehen habe. Zu sagen, dass meine Wahrnehmung von Hans subjektiv war, ist für mich unverständlich. Für mich klingt es wie eine Einschränkung, dass ich Hans nämlich nicht wirklich wahrgenommen habe, ohne dass erläutert wird, worin diese Einschränkung besteht.
Also diese Einschränkung (dass ich Hans vielleicht nicht wirklich wahrgenommen habe) höre ich bei Subjektivität nicht mit. Das Subjektive an diesem Beispiel liegt für mich einfach darin, dass es ein Sehen von Hans ohne mich nicht gibt. Aber Du hast natürlich Recht, es ist im gegebenen Fall Hans, den ich sehe.

Zu Deiner anderen Frage: "Meinst du damit, dass du selbst, deine Erkenntnis und deine Handlung zum "Ansichsein" der Wirklichkeit gehören?"
Den Begriff des Ansichseins würde ich lieber ganz rauslassen, weil der es ist, der (seit Kant) einen Gegensatz gegen das 'bloße' Erscheinen aufbaut. Eine ansichseiende Wirklichkeit, zu der etwas gehört, würde ich nicht annehmen. Für mich ist Erfahrung der Grundbegriff, und da ist wieder das Subjekt der Anker aller möglichen Erlebnisse, Widerfahrnisse usw. Hans zu sehen z.B. ist eine Erfahrung. Es gibt aus meiner Sicht keine ansichseiende Realität neben oder hinter solchen Erfahrungen. Und ich komme auch nicht zur Erfahrung hinzu oder 'gehöre' zur Erfahrung. Denn Erfahrung ist ja meine. Aber natürlich kommen Menschen und vieles andere in dieser Erfahrung vor - mal wahrgenommen, mal vorgestellt, mal in Erinnerung, mal in Erwartung, mal geliebt, mal gehasst...naja, halt so die ganze Palette, von der ich denke, dass jeder sie auf seine Weise kennt.




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Sa 21. Dez 2024, 20:18

So richtig werde ich nicht daraus klug: Es gibt für dich ein Subjekt, also dich, deine Erlebnisse, aber keine Wirklichkeit unabhängig von diesen Erlebnissen?




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Thomas
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Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 19:36
@ Thomas

Danke, ich werde mir, sobald ich dazu Zeit finde, Deine Empfehlung vorknöpfen. Angst vor kryptischen Texten habe ich nicht, ich habe mir schließlich in jungen Jahren Hegel und Adorno vorgenommen, und fand es gar nicht so unverständlich. Man muß nur von eingefahrenen impliziten Mechanismen absehen können. Meiner mathematischen Seite liegt die Axiomatik nahe, da bin ich gewohnt, nur dem explizit gesagten zu folgen.

Zu Deiner Aussage "... der Leib, so wie er ihn versteht, nicht viel mit dem physischen Körper zu tun hat. (Der gespürte Leib hat zum Beispiel keine Flächen, der sicht- und tastbare Körper durchaus - Du merkst, schon wie äußerst seltsam bereits das klingt!)" habe ich doch noch eine kleine Verständnisfrage. Ich finde das nicht seltsam, denn viele Innenwahrnehmungen sind nicht lokalisiert, warum sollten sie das, wenn sie nur die Anzeigenfunktion für eine allgemeine Handlungssteuerung zur Problembearbeitung haben, die keinen lokalen Eingriff erfordert. Wenn wir keine so extremen Augentiere wären, hätten wir auch kaum ein geometrisches Verständnis der Umwelt/Welt. Aber ein Flächenbewußtsein haben wir mE durchaus, nämlich über unsere Haut als Außengrenze.
Also, Wolfgang, mit dieser offenen Einstellung bringst Du wirklich optimale Voraussetzung mit für die Lektüre von Schmitz. Zu Deiner Frage: Schmitz schreibt: "Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib" - will sagen, die Haut gehört schon zum sicht- und tastbaren Körper, nicht mehr zum Leib. Das "Flächenbewusstsein", wie Du es sehr treffend nennst, gehört in eine andere Dimension der Räumlichkeit als die des Leibes. Die spannende Frage ist u.a. die: Was heißt eigentlich "Innenwahrnehmung", wenn man in leiblicher Erfahrung weder mit Orten, Punkten, Strecken oder Flächen zu tun hat? Wer nimmt da eigentlich wahr (offensichtlich nicht Ich mittels der Sinne)? Was nimmt man da eigentlich wahr? Und ist es überhaupt 'wahrnehmen' in dem üblichen Sinne des Wortes? Fragen wie diesen und vielen anderen widmet sich Schmitz. Das ist phänomenologisch so überreich an Erkenntnissen, dass man sehr viel davon hat, wenn man Lust hat, sich darauf einzulassen. Nochmal der Tipp: Wenn Du es machst, lass Dir Zeit...ich selbst bin auch immer noch dran, schon seit ein paar Jahren.




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Thomas
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 20:18
So richtig werde ich nicht daraus klug: Es gibt für dich ein Subjekt, also dich, deine Erlebnisse, aber keine Wirklichkeit unabhängig von diesen Erlebnissen?
Die Wirklichkeit und ich sind gemeinsam da; das eine ist nicht vom anderen 'unabhängig'. Technische gesagt ist das eine Korrelation, die aber in mir ihren Anker hat. Aber Dich gibt es natürlich auch, Jörn, als meinen Gesprächspartner; und mich gibt es für Dich. Da kommt es ja immer auf die konkrete Subjektivität in ihren jeweiligen Beziehungen an.

Es gibt in dem ganzen Gewebe eben nur nichts Absolutes, also wörtlich nicht 'abgelöst Seiendes' und insofern Unabhängiges. Man könnte auch (etwas metaphorisch) sagen: Für mich ist die Welt eine durch und durch von Menschen und ihrer Subjektivität belebte Welt.

(Mein Standpunkt schließt übrigens in etwa an das Buch von R. Dreyfus/Ch. Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus, an. Vielleicht kennst Du es ja? Es lässt sich super lesen, und es verbindet analytische Perspektiven mit hermeneutisch-phänomenologischen.)




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Sa 21. Dez 2024, 20:42

Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 20:35
Für mich ist die Welt eine durch und durch von Menschen und ihrer Subjektivität belebte Welt.
Warum reicht es nicht, folgendes zu sagen? "Für mich ist die Welt eine durch und durch von Menschen belebte Welt."




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Sa 21. Dez 2024, 20:44

Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 20:35
(Mein Standpunkt schließt übrigens in etwa an das Buch von R. Dreyfus/Ch. Taylor: Die Wiedergewinnung des Realismus, an. Vielleicht kennst Du es ja? Es lässt sich super lesen, und es verbindet analytische Perspektiven mit hermeneutisch-phänomenologischen.)
Das Buch habe ich und ich habe es auch einen großen Teilen gelesen, für mich sind das, wie der Titel schon sagt: Realisten. Es sind sogar direkte Realisten, wir sind in direktem, unvermittelten Kontakt mit der Wirklichkeit, das Paradigma dafür ist die Berührung. Eine schöne Metapher aus diesem Buch, wenn ich mich nicht täusche, ist von Heidegger: wir brauchen keine Brücke zwischen Strand und Meer.

Deine Position hingegen verstehe ich nicht wirklich.
Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 20:35
Es gibt in dem ganzen Gewebe eben nur nichts Absolutes, also wörtlich nicht 'abgelöst Seiendes' und insofern Unabhängiges. Man könnte auch (etwas metaphorisch) sagen: Für mich ist die Welt eine durch und durch von Menschen und ihrer Subjektivität belebte Welt.
Das Universum ist ca. 13,8 Milliarden Jahre alt. Menschen existieren erst seit etwa 300.000 Jahren. 99,998% der kosmischen Geschichte verlief ohne menschliche Präsenz. Der größte Teil des Universums besteht aus leerem Raum, Sternen, Galaxien und dunkler Materie/Energie. Wir leben verwoben mit unendlich vielen anderen Lebewesen auf der dünnen Kruste eines kleinen Planeten, dessen Atmosphäre wir gerade in Gefahr bringen. Aber natürlich ist für uns dieser Lebensraum von besonderer Bedeutung.

Aber wenn ich dich frage, ob es gibt für dich keine Wirklichkeit unabhängig von deinen Erlebnissen gibt, dann frage ich nach einer epistemischen Unabhängigkeit. Deswegen hilft mir deine Antwort bei meinem Verständnis deiner Position nicht wirklich weiter.




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Consul
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Sa 21. Dez 2024, 21:20

Thomas hat geschrieben :
Sa 21. Dez 2024, 17:39
Wenn Du etwas Kurzes von Schmitz lesen willst, dann wäre die "Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie" (Alber Verlag 2009) empfehlen. Ich finde es toll, dass Du danach fragst; aber ich möchte Dich schon auch warnen: Schmitz zu lesen ist wie das Lernen einer Fremdsprache, weil er sehr systematisch denkt, aber eine ganz eigene Systematik hat. Wenn man nicht am Anfang dranbleibt, legt man ihn schnell beiseite.
(Ich muss gestehen, dass ich den Philosophen Schmitz bis heute nicht kannte.)
Ein Ausschnitt aus dem oben erwähnten Buch:
"Selbstzuschreibung ist also nur möglich, wenn ihr ein identifizierungsfreies Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung zu Grunde liegt. Und das gibt es wirklich, nämlich in Gestalt des affektiven Betroffenseins. Wenn ich z.B. Schmerzen habe, weiß ich sofort, dass ich leide, ohne einen Gequälten finden zu müssen, dem ich Identität mit mir zuschreibe. Ferner gibt es fassungslose Zustände mit gesteigerter oder im Gegenteil gelähmter Beweglichkeit – z.B. rasenden Zorn, panische Angst, Massenekstasen bei Festen oder Wutausbrüchen, hingegebenen Kampf im Eifer des Gefechts, Versunkenheit in Schwermut –, Zustände, in denen der Bewussthaber sich gar nicht mehr als Relat einer Identifizierung zur Verfügung steht und sich dennoch in der Intensität der Erregung oder Umnachtung deutlich spürt, viel stärker als bei gleichgültigen Verrichtungen im Alltag. Die Möglichkeit eines solchen von Identifizierung unabhängigen Selbstbewusstseins beruht darauf, dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins subjektive Tatsachen sind, die schon in ihrer bloßen Tatsächlichkeit, abgesehen von ihrem Inhalt, den Stempel der »Meinhaftigkeit« tragen, um eine glückliche Wortprägung des Psychiaters Kurt Schneider zu übernehmen. Das zeigt sich daran, dass höchstens einer, nämlich der Betroffene, solche subjektive Tatsachen aussagen kann, während bei objektiven oder (synonym) neutralen Tatsachen jeder dazu in der Lage ist, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann. (Das Entsprechende gilt allgemein für Sachverhalte, auch untatsächliche.) Dieses Kriterium ist nur um der Begriffsschärfe willen am sprachlichen Ausdruck abgelesen, betrifft aber keine sprachliche Besonderheit, weil das Sprechvermögen beliebig groß sein kann und doch nicht dafür ausreicht, dass jemand einem Anderen eine für diesen subjektive Tatsache seines affektiven Betroffenseins nachspricht. Ich zeige das gern am Beispiel eines wahren Ausspruches des Satzes: »Ich bin traurig.« Wenn ein Anderer dieselbe Tatsache aussagen will, darf er nicht in der ersten Person des Singulars sprechen, sondern muss so etwas wie »Hermann Schmitz ist traurig« sagen. Das kann ich ihm nachsprechen, etwa im Rückblick, wenn ich nicht mehr traurig bin, mit Ersatz von »ist« durch »war«; wenn ich aber dieselbe Tatsache wie er beschreiben will, muss ich davon absehen, dass ich Hermann Schmitz bin, denn das konnte er nicht sagen, weil er nicht Hermann Schmitz ist. Nun habe ich also mit der Tatsache zu tun, dass Hermann Schmitz traurig ist (oder war) ohne Rücksicht darauf, dass ich Hermann Schmitz bin. Dieser Tatsache fehlt aber etwas, das in der Tatsache, die mein ursprünglicher Ausspruch »Ich bin traurig« aussagte, mitbeschrieben war, nämlich die Intensität der Ergriffenheit, mit der die Trauer mich angeht, mir nahe geht oder gegangen ist. Um diese Nuance ist die objektive Tatsache, die der Andere sagen konnte, ärmer als die subjektive, die nur ich im eigenen Namen aussagen kann. Dabei ist der Inhalt beider Tatsachen derselbe; sogar die Ergriffenheit fehlt nicht in der objektiven Tatsache, denn, wenn Hermann Schmitz traurig ist, ist er selbstverständlich mit Ergriffenheit traurig. Der Unterschied liegt also nicht am Inhalt, sondern an der Tatsächlichkeit. Man muss sich von der Illusion verabschieden, alle Tatsachen seien neutral oder objektiv. Vielmehr gibt es nicht nur viele Tatsachen, sondern auch viele Tatsächlichkeiten, nämlich je eine subjektive pro Bewussthaber und eine objektive, die allen gemeinsam ist und durch Abfallen der Subjektivität für jemand entsteht.

Ein Kritiker hat dieses Ergebnis mit der Behauptung wegzureden versucht, in beiden Fällen handle es sich um dieselbe Tatsache, nur einmal in der Eigenperspektive und das andere Mal in der Fremdperspektive anvisiert. Dieser Vorschlag scheitert daran, dass eine für jemand subjektive Tatsache auch in der Perspektive eines Anderen eine solche ist und ein entsprechender Ausdruck dafür von diesem erwartet wird. Das lässt sich an der Verwendung desWortes »ich« ablesen. Bei der Darstellung objektiver, nicht mit affektivem Betroffensein des Sprechers beladener Tatsachen fungiert es als bloßes Pronomen, das überflüssig ist, weil man es durch einen von ihm vertretenen Namen ersetzen kann. Wenn ich z.B. meinen Bekannten eine objektive Tatsache mit den Worten »Morgen kommt Hermann Schmitz, überflüssig, hinzuzufügen, dass ich es bin« ankündige, wird man sich vielleicht über die Umständlichkeit der Formulierung wundern, weil man erwartet, dass jeder Erwachsene von sich in Selbstzuschreibung spricht, aber man wird mir recht geben und meine Mitteilung als vollständige Darstellung des Gemeinten akzeptieren. Wenn jemand die Objektivität (Neutralität) von Tatsachen, die er aus seinem Leben berichtet, in der Einstellung des Historikers in eigener Sache hervorheben will, wird er das dann überflüssige Pronomen der ersten Person des Singulars sogar vermeiden, wie Caesar und Xenophon in den Berichten aus ihren Feldzügen. Anders verhält es sich, wenn eine subjektive Tatsache des eigenen affektiven Betroffenseins in unversehrter Fülle einem Anderen übermittelt werden soll. Dann fungiert das Wort »ich« nicht mehr als Pronomen, sondern als Anzeige der Subjektivität des Mitgeteilten (gleich ob Tatsache,Wunsch oder Sorge) für den Sprecher. Ich zeige das an einigen Beispielen, für die ich der Anschaulichkeit halber eine Person namens »Peter Schulze« fingiere. Zuerst an der Liebeserklärung: »Peter Schulze liebt dich, überflüssig, hinzuzufügen, dass ich er bin.« Das angesprochene Mädchen ist verstimmt; es möchte sagen und sagt vielleicht: »Das ist doch gar nicht überflüssig, gerade darauf kommt es mir an.« Nun eine Szene im Beichtstuhl: Sünder: »Peter Schulze hat gesündigt.« Beichtvater: »Sprich: Ich habe gesündigt.« Sünder: »Das ist doch ganz überflüssig.« Beichtvater verweigert die Absolution. Schließlich ein Schrei aus dem Wasser: »Hilfe, Peter Schulze ertrinkt, überflüssig, hinzuzufügen, dass ich das bin.« Das ist kein echter Hilferuf; der hilfsbereite Mitmensch, der auf den Ruf »Hilfe, ich ertrinke« sofort reagiert hätte, wird erst einmal neugierig nachsehen, was eigentlich los ist.

Die Möglichkeit, ohne Identifizierung von etwas mit sich seiner selbst sich bewusst zu sein, beruht also darauf, dass die Tatsachen des affektiven Betroffenseins für den Bewussthaber schon in ihrer bloßen Tatsächlichkeit, ohne Rücksicht auf ihren zuschreibbaren Inhalt, den Stempel des Fürihnseins tragen, als für ihn subjektive Tatsachen. Das ist nur möglich, wenn in ihnen der, für den sie sind, mitgefunden wird. Er muss in ihnen selbst, als identisch dieser, ohne Identifizierung mitgegeben sein. Die Identität, um die es sich dabei handelt, ist die absolute Identität, das Gegenteil der Verschiedenheit, noch nicht die relative Identität von etwas mit etwas, mit dem es identifiziert wird. Die absolute Identität, dieses (und nicht jenes) zu sein, ist nicht selbstverständlich; in einer durchdösten Frist gehen viele Phasen in einander über, aber keine ist sie selbst und verschieden von anderen, sondern sie verschwimmen in einander. In absoluter Identität, keiner Identifizierung bedürftig, kann jemand sich selbst finden, wenn das, was ihm begegnet, mit ihm, dem es begegnet, ohne Spielraum, ohne Vergleichbarkeit, merklich zusammenfällt. Das geschieht im Zusammenfahren, in heftiger leiblicher Engung, beim plötzlichen Einbruch des Neuen, z.B. im Schreck, überwältigend aufzuckendem Schmerz, bei heftigem Ruck oder Windstoß, wenn man einen Schlag vor den Kopf erhält oder den Boden unter den Füßen verliert. Dann fallen die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses selbst, ich unausweichlich ohne Spielraum zusammen, während die Orientierung zusammengebrochen ist, so dass keine Merkmale für Identifizierung von etwas mit etwas unter dieser oder jener Hinsicht zur Verfügung stehen. Ich bezeichne dieses Ereignis als primitive Gegenwart. An sie knüpft die Subjektivität der subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins an, da in ihr ohne Identifizierung der gefunden wird, für den diese Tatsachen subjektiv sind. Auf ihnen aber beruht, wie gezeigt wurde, die Möglichkeit der Selbstzuschreibung, die sonst kein Relat hätte. Die Person als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung ist also nur durch primitive Gegenwart möglich."

(Schmitz, Hermann. Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 4. Aufl. Freiburg: Alber, 2014. S. 30-4)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Jörn Budesheim
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Sa 21. Dez 2024, 21:25

Ich kenne Schmitz seit dem Studium. Ich weiß gar nicht mehr, wer mir Texte von ihm gegeben hat, aber ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich mit einem Bündel Fotokopien im Museum saß und fasziniert gelesen habe. Ich finde ihn durchaus beeindruckend, auch wenn seine Sprache natürlich nicht unbedingt leichte Kost ist.  Für einen Materialisten muss er eine Art Horrorgestalt sein. 




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