Vorstellungskraft

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Alethos
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So 21. Feb 2021, 16:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Feb 2021, 15:21
Nehmen wir mal ein Beispiel: vor mir oder hinter mir gehen Personen. Irgendetwas bekommt man von ihnen ja mit, entweder sieht man den Rücken oder man hört die Stimmen oder ähnliches. Aber dabei bleibt es ja nicht. Irgendwie unterschwellig komplettiert man das "unvollständige Bild". Das merkt man spätestens dann, wenn man überrascht ist, die Person dann wirklich zu sehen, etwa wenn man sich umdreht oder die Person dreht sich um.

Das heißt, auch in solchen Alltagssituationen ist immer sehr viel Fantasie im Spiel.
Daran habe ich auch gedacht oder auch an folgendes:

Wenn mir jemand von seiner Urlaubsreise erzählt, von einem Erlebnis, einem Vorfall etc., möchte er mich in gewisser Weise daran teilhaben lassen, indem er mich partizipieren lässt an der Situation in Gedanken. Es ist möglich, mit ihm dann an diesen Ort zu gehen, der in der Phantasie vermutlich ganz anders ausschaut, als er sich ihm zeigte. Und doch versetzen wir uns dank der phantasierenden Anteilnahme in die Lage annähernd zu verstehen, zu fühlen, was der andere fühlt und fühlte. Die Vorstellungskraft ist so gesehen ein jederzeit verfügbares Medium für das grundlegende Bedürfnis, den anderen verstehen zu wollen und zu können. Sie macht die gemeinsame Erkundung von Sachverhalten unter der Bedingung der Kontingenz möglich, weil es sich ja tatsächlich auch anders als vorgestellt verhalten haben könnte, aber sie schärft sich mit der Präzision der Beschreibung, mit der wir mit Anderen in eine Erzählung einstimmen.

Den Anderen verstehen zu können heisst in diesem Sinn, sich ein möglichst authentisches Bild darüber zu machen, was es hiesse, dort gewesen zu sein, wo der Andere war und das erlebt zu haben, was der Andere erlebte.

Dieses Einfühlungsvermögen in Andere ist ohne Vorstellungskraft kaum denkbar, weshalb wir vermutlich gänzlich andere wären ohne Vorstellungskraft: weniger Verständige und Verständnisvolle. Die Wirklichkeit würde sich uns ganz anders vermitteln. Kein Buch, kein Roman, kein Bericht: Nichts hätte essenziellen Informationswert, wenn die Texte in uns nicht Bilder hervorbrächten, durch die wir eintauchen können in eine um vorgestellte Räume erweiterte Wirklichkeit, die das sinnlich Vorfindbare übersteigt und uns umfassendere Zusammenhänge denkbar werden lässt.



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Jörn Budesheim
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So 21. Feb 2021, 18:03

Wir können das natürlich auch noch größer denken, existentieller, wenn man so will. Es wurde ja in letzter Zeit an verschiedenen Stellen gelegentlich die Formel des Existentialismus aufgerufen: dass die "Existenz der Essenz" vorausgeht. Gerade gestern habe ich in dem Buch über den Freitod (aus dem ich an anderer Stelle einige Zitate gebracht habe) gelesen, dass sich der nämliche Gedanke auch schon bei Schelling findet. Und bei Markus Gabriel findet man regelmäßig dieses Zitat von Hegel dazu: "Der Geist ist nur, wozu er sich macht; er ist Tätigkeit, sich zu produzieren, sich zu erfassen." Ich denke, das geht alles in eine ähnliche Richtung. Wenn wir uns also erst selbst "machen" ("entwerfen") müssen - wie wollen wir das tun ohne Fantasie/ Einbildungskraft?




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infinitum
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Fr 26. Feb 2021, 03:14

Kann geteilte Vorstellung nicht auch im akademischen Bereich sehr von Nutzen sein? Also wenn man beispielsweise einen neuen mathematischen Beweis oder ein physikalisches Experiment "entwirft", dann teilt man unter Umständen erstmal seine Ideen mit anderen. Dann kann gemeinsam über die Idee gesprochen werden und dabei entwickelt sich dann die Idee weiter. Also wäre die Fähigkeit zum Teilen einer Vorstellung essentiell für eine wissenschaftliche Weiterentwicklung.
Oder beziehen wir uns hier auf Vorstellungen im Bereich der Fantasie? Hier würde ich ebenso die Entwicklung von Geschichten sehen, die durch die gemeinsame Vorstellung entsteht-also so ein Rückkopplungseffekt. Denn jeder hat eine andere Vorstellung und einen gewissen Blickwinkel, wenn man den anderen an Vorstellungen teilhaben lässt, dann können verschiedene Perspektiven sich verbinden.
Dann habe ich noch eine Idee: die Fähigkeit zur Fantasie könnte darüber hinaus auch nützlich für das Denken sein (da es entspannt), was aber jetzt wohl nicht ganz in den Thread passt. :)



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Jörn Budesheim
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Fr 26. Feb 2021, 06:29

transfinitum hat geschrieben :
Fr 26. Feb 2021, 03:14
Oder beziehen wir uns hier auf Vorstellungen im Bereich der Fantasie?
Man könnte die Begriffe vielleicht unterscheiden, vielleicht sollte man auch, aber bisher nutze ich sie mehr oder weniger synonym. Die Vorstellungskraft oder die Phantasie sind die Fähigkeit, sich etwas präsent zu machen. Das kann etwas zu sein, was es gibt oder etwas was in der Art noch nicht gibt. Wenn es um etwas Visuelles geht, könnte man vielleicht von der Fähigkeit sprechen sich von etwas ein Bild zu machen. Einstein soll einmal gesagt haben, dass Phantasie wichtiger ist als Wissen. Ich denke dabei an die vielen Bilder, die er nutzte, um sich komplizierte Phänomene zu vergegenwärtigen, z.b. Menschen im Fahrstuhl in der Schwerelosigkeit.
deutschlandfunk hat geschrieben : Albert Einstein stellte sich einen Menschen in einem fensterlosen Fahrstuhl vor. Steht der Fahrstuhl auf der Erde, dann fühlt der Mensch, wie ihn die Schwerkraft mit seinem Körpergewicht nach unten drückt. Er steht auf dem Boden des Lifts, statt darin umherzutreiben.

Was aber, wenn der Aufzug sich nun in der Schwerelosigkeit des Weltalls befindet und ein Raketenantrieb ihn genau mit der Kraft beschleunigt, die dem Körpergewicht seines Fahrgastes entspricht? Dann – so folgert Einstein – würde es den Mann im Lift ganz genauso auf den Boden des Fahrstuhls drücken und er könnte dann nicht mehr unterscheiden, ob er sich auf der Erde oder im All befindet.

Aus diesen Überlegungen formulierte Einstein, dass schwere und träge Masse gleich groß sind: das Äquivalenzprinzip, der Grundpfeiler der allgemeinen Relativitätstheorie.

Im Folgenden kam Einstein dann zu der verblüffenden Erkenntnis, dass Gravitation entsteht, indem Raum und Zeit durch die Anwesenheit von Masse gekrümmt werden: Eine völlig neue Weltsicht ist geboren – und das durch pures Nachdenken.

Das soll jetzt keine Definitionen sein, sondern nur vage erläutern, was ich mir vorstelle :)

Es muss sich bei den Vorstellungen oder Fantasien allerdings nicht grundsätzlich um so große Dinge wie oben bei Einstein handeln. Ich glaube, dass wir unser ganzes Leben im Lichte von diversen Vorstellungen führen (im Kleinen wie im Großen), das Phänomen ist also immer präsent, denke ich.




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Jörn Budesheim
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Di 2. Mär 2021, 18:30

Gabriel hat geschrieben : Man bildet den Begriff des Löwen nicht, wenn dieser nah genug ist, um gefährlich zu sein, sondern unter den existentiell abgesicherten Bedingungen einer Besprechung in der Höhle. Der gemalte Löwe ist also eine paradigmatische Begriffsprägung, sodass wir unsere begrifflichen Fähigkeiten mit unserer Transzendenz über das sinnlich Unmittelbare in Verbindung bringen müssen, was offenlässt, ob dies – wie Hegel meint – unsere Animalität überschreitet oder – wie Blumenberg dagegenhält – ein Nachhall einer evolutionär bedingten, anthropologischen Urerfahrung ist. Mit Blumenberg ist jedenfalls festzuhalten, dass der Begriff es erlaubt,
Blumenberg hat geschrieben : Lücken im Erfahrungskontext festzustellen, wie er auf das Abwesende bezogen ist – aber nicht nur, um es anwesend zu machen, sondern auch, um es abwesend sein zu lassen. Immer wieder muß gesagt werden, daß über etwas zu sprechen, was nicht wahrgenommen wird und gegeben ist, die eigentliche geistige Leistung ausmacht.
Das folgende mag vielleicht keine perfekte Blumenberg Paraphrase sein, aber im Großen und Ganzen lese ich das Zitat so, dass die geteilte Fantasie die eigentlichen geistiger Leistung des Menschen ausmacht. Ziel dieses Fadens soll eigentlich sein, die ungeheure Bedeutung der Fantasie für unser Leben - und zwar im Grunde in jedem Moment - herauszuarbeiten.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 18:30
Das folgende mag vielleicht keine perfekte Blumenberg Paraphrase sein, aber im Großen und Ganzen lese ich das Zitat so, dass die geteilte Fantasie die eigentlichen geistiger Leistung des Menschen ausmacht. Ziel dieses Fadens soll eigentlich sein, die ungeheure Bedeutung der Fantasie für unser Leben - und zwar im Grunde in jedem Moment - herauszuarbeiten.
zweifelsohne ist geteilte Fantasie eine enorme geistige Leistung, aber ich würde nicht sagen, dass sie die "eigentliche" geistige Leistung des Menschen ist. Denkende Prozesse, oder auch das Formulieren von Gedanken oder Theorien, die nicht nur der Fantasie entspringen, die aber ein verknüpfendes/assoziierendes Denken auf Basis bereits vorhandenem Wissen benötigen, sehe ich ebenfalls als enorme geistige Leistung.



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Jörn Budesheim
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Di 2. Mär 2021, 20:08

Einstein soll gesagt haben, Phantasie ist wichtiger als Wissen. Aber ich will gar nicht auf eine Entgegensetzung von Denken und Fantasie aus, ich will eine Vorstellungen bekommen, wie sie zusammenarbeiten.




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Jörn Budesheim
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Di 2. Mär 2021, 20:14

Gabriel schreibt ja mit Bezug zu Blumenberg, dass der gemalte Löwe eine paradigmatische Begriffsprägung ist. Der Punkt ist hier, dass wir dementsprechend unsere begrifflichen Fähigkeiten mit unserer Transzendenz über das sinnlich Unmittelbare in Verbindung bringen müssen. Das heißt, in jedem Moment sind wir über das bloß sinnlich gegebene hinaus und malen uns die Situation aus. Wir müssen das, um uns einen Reim darauf machen zu können.




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iselilja
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Di 2. Mär 2021, 21:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 20:14
Gabriel schreibt ja mit Bezug zu Blumenberg, dass der gemalte Löwe eine paradigmatische Begriffsprägung ist. Der Punkt ist hier, dass wir dementsprechend unsere begrifflichen Fähigkeiten mit unserer Transzendenz über das sinnlich Unmittelbare in Verbindung bringen müssen. Das heißt, in jedem Moment sind wir über das bloß sinnlich gegebene hinaus und malen und die Situation aus. Wir müssen das, um uns einen Reim darauf machen zu können.
Ja. Wir stehen als Mensch gewissermaßen immer an der Grenze die zwischen den körperlich limitierten Möglichkeiten und den geistig offenen Möglichkeiten liegt. DIe Aktualität "unseres Hier und Jetzt" ist zugleich in alle Richtungen offen und auch in alle Richtungen begrenzt. Hätten wir also die Vorstellungskraft nicht, kämen wir aus dieser Aktualität nie heraus. Man kann sich lustiger Weise nicht vorstellen, wie ein Leben ohne Vorstellungskraft auf Dauer wäre. Ich weiß nichtmal, ob wir überhaupt handlungsfähig wären.




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iselilja
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Di 2. Mär 2021, 21:57

In Fortsetzung dieses Gedanken fällt auch noch ein Vergleich mit der Tierwelt ein, der oftmals nicht so wirklich gesehen wird. Als Mensch haben wir einen Luxus - nämlich Zeit - unsere Gedanken schweifen zu lassen, den sich Tiere fast nie leisten können, es sei denn sie stehen stabil am "oberen Ende der Nahrungskette" oder besetzen auf andere Art eine Nische, die ihnen diese Zeit verschafft.

Und selbst wenn man in dieser kulturell-menschlichen Sicherheit/Gelassenheit sich wähnt, es gibt Zeiten, da frisst die Angst die Vorstellungskraft auf. Sie engt uns ein, wir werden vorsichtiger - so wie Tiere, die permanent ihre Umwelt beobachten müssen. Träumen, Phantasie und solche DInge werden dann zum puren Luxus, den man sich kaum noch leisten kann.




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iselilja
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Sa 13. Mär 2021, 11:16



Ich stelle mir manchmal vor, wie die Welt wohl wäre, wenn die Sängerin noch leben würde und "ihr Werk" fortsetzen könnte.




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