Leben als Fragment

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Jörn Budesheim
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So 21. Mär 2021, 20:29

"Das Leben" - das ist allerdings schon ein Ausdruck, der ein Ganzes irgendwie ("grammatikalisch") nahelegt, oder? Aber was ist das - "mein Leben"? Man spricht z.b. vom Lebensweg. Stellt man sich dabei einen Weg vor? Eine Linie? (In Zyklen, eine Spiral-Linie, oder eher wie die eines Flußbettes?) Warum überhaupt eine Linie/ ein Weg? Weil man sich auch die Zeit wie eine Linie/einen Pfeil vorstellt? Was ist mit meinem Körper, was ist mit meinen Beziehungen, was ist mit meinem Grundüberzeugung? Was mit meinem charakterzügen? Muss all das diesen Weg teilen? Was würde es aber heißen, dass (beispielsweise) meine Überzeugung, dass Kunst das Leben lebenswert macht, durch die Zeit geht? Eine Überzeugung ist doch nichts zeitliches?! Auch wenn ich früher in vielen anderen Überzeugungen hatte? ...




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Jovis
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Mo 22. Mär 2021, 20:03

Alethos hat geschrieben :
So 21. Mär 2021, 12:21
Jovis hat geschrieben :
Sa 20. Mär 2021, 16:34
Ich finde jedenfalls die Vorstellung, mein Leben als etwas Fragmentarisches zu sehen, sehr reizvoll.
Dazu hätte viele, aber zunächst folgende zwei Fragen:
  • Was empfindest du als fragmentarisch an deinem Leben resp. in welcher Vorstellung deines Lebens erscheint es als Fragment?
  • Was ist daran reizvoll? Das Nischendasein? Der Gedanke, Teil von etwas Grösserem zu sein? Beides oder nichts von dem?
Zu beiden Fragen fallen mir zwei Antwortvarianten ein, je nachdem, ob ich a) die Vorstellung in den Vordergrund rücke, mein Leben besteht aus lauter Fragmenten oder aber b), es ist als Ganzes ein Fragment (hm - Widerspruch in sich?). Du hast es ja selbst schon so zweigeteilt. (Was meinst du übrigens mit Nischendasein? Damit kann ich grade nichts anfangen.)

a) Ich empfinde mein Leben nicht als besonders fragmentarisch, eher als ungewöhnlich geschlossen im Vergleich zu vielen anderen Lebensläufen. Vielleicht reizt mich deshalb die Vorstellung des Fragmentarischen? Als ein Aufbrechen dieser Geschlossenheit, hin zu mehr Vielfalt, mehr verwirklichten Möglichkeiten, auch wenn nicht alles zu Ende geführt werden kann, sondern manches bruchstückhaft bleibt. Ich finde es reizvoll, dass damit der "Zwang" zum Vollenden entfällt, das Bruchstückhafte nicht als Mangel gesehen wird, sondern als Wert an sich angenommen wird. (Fragmente können kostbar sein - Handschriftenfragmente fallen mir da ein.)

b) Mein Leben als Ganzes als Fragment zu sehen verstehe ich in der zweiten der beiden anfangs zitierten Duden-Bedeutungen, also als Bruchstück eines zu schaffenden Ganzen. Gemessen am Ideal einer gereiften, vollkommenen Persönlichkeit kann jedes tatsächlich gelebte Leben nur Fragment sein. Aber mit der Vorstellung, an etwas zu arbeiten, es wachsen zu lassen, erhält das eine dynamische Bedeutung, keine defizitäre. - Verstehe ich Fragment dagegen in der ersten Duden-Bedeutung, als Bruchstück eines ehemals Ganzen, wird es entweder platonisch oder theologisch, beides nicht so mein Fall. Was könnte dieses vorgängige Ganze sein, von dem mein Leben dann ein Teil wäre? Irgendein Weltenplan? Darin könnte man sich natürlich aufgehoben fühlen. Aber Jörn erwähnte ja schon das Ende der großen Erzählungen.




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Jovis
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Mo 22. Mär 2021, 20:07

TsukiHana hat geschrieben :
So 21. Mär 2021, 13:48
Will man beim Versuch diese Frage zu beantworten nicht ins theologische Fahrwasser geraten, bleibt wohl nur das hic et nunc.
Zwischen gescheiterten Plänen in der Vergangenheit und (vielleicht) überaus ambitionierten Plänen in der Zukunft, ist das hic et nunc der einzig verlässliche Augenblick, über den ich (für mich) eine Aussage treffen kann.
So ich nicht gerade beabsichtige meinem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen, kann ich mich an diesem "Fragment" sogar erfreuen, ihm mit Faust`s Worten einen würdigen Ausdruck verleihen:

Verweile doch, du bist so schön".
Wieso sprichst du von gescheiterten Plänen? Ist für dich das Fragmentarische eher darauf zurückzuführen, dass es halt nichts geworden ist?

Die schönen Augenblicke lässt du in deinen wundervollen Segelfotos verweilen!




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Jovis
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Mo 22. Mär 2021, 20:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Mär 2021, 14:26
Man könnte sich hier auch eine postmoderne Denkfigur vorstellen. ("Das fragmentierte Subjekt") Für alle möglichen Bereiche sind einheitsstiftende Erzählungen flöten gegangen - das Ende der großen Erzählungen, wie es so schön heißt; das Ende der kleinen Erzählungen gehört vielleicht dazu. Wenn die Erzählungen von einem selbst, die das eigene Leben zu einem Sinnganzen fügen sollen, sich als fingiert erweisen, und die Gesellschaft, bzw die Religion verbindliche Antwort mehr geben können, dann bleiben, da das Ganze "verwehrt" bzw illusionär ist, nurmehr Fragmente übrig. Das kann man mit einem Lächeln quittieren, ich bin nicht einer, ich bin viele. Das kann aber ebenso natürlich in Sinnkrisen führen: wer von den Vielen ist denn wirklich Ich.
Das Konzept der Selbstnarration stünde dem aber entgegen, und mir will scheinen, dass das ein explizit modernes (postmodernes?) ist. Als es die großen Erzählungen noch gab, brauchte man keine eígene Erzählung, man war selbstverständlich Teil, ein Kapitel, ein Satz der großen. Sich seine eigene Lebensgeschichte zu entwerfen und weiterzuerzählen ist erst mit deren Ende notwendig geworden. Ich glaube, es ist auch Teil dieses Konzepts, dass die meisten Menschen sich gar nicht bewusst sind, dass sie eine Fiktion schaffen. Ich glaube wirklich daran, dass ich ein durchgängig schlüssiges Leben von der Wiege bis zur Bahre lebe. Daraus konstituiert sich meine Identität. Das Fingierte führt also nicht notwendig zum Fragmentarischen?

"Das fragmentierte Subjekt" - hört sich als Titel gut an, in der Sache kommt es mir aber eher negativ vor. Das klingt für mich so nach Auseinandernehmen. Diesen Aspekt hatten wir bisher noch gar nicht.




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Stefanie
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Mo 22. Mär 2021, 20:50

Hmm, bei mir ist folgendes Bild entstanden.
Z.b. das eines Glas, welches so zerspringt, dass die einzelnen Bruchstücke nicht mehr so zusammengefügt werden können, dass das Ergebnis dem Original entspricht, oder nicht mehr genutzt werden kann.
Bruchstückhafte Erinnerungen sind unvollständige, lückenhafte Erinnerungen, die auch nicht mehr vollständig werden können.
Das Leben als ein Fragment anzusehen, ist wie wenn ein Glas zerspringt, und die einzelnen Fragmente wie beim Glas nicht mehr zusammengesetzt werden können.
Ein Glas geht in der Regel dann kaputt, wenn irgendeine Kraft aufgewendet wird, sei vorsätzlich oder fahrlässig. Übertragen auf das Lebens des Menschen bedeutet es Gewalt.
Den Ausdruck bruchstückhafte Erinnerungen wird doch meistens verwendet, wenn jemand aufgrund eines Traumas sich an bestimmte Ereignisse nicht erinnern kann.

Das Leben ist ein Fragment ist für mich daher negativ besetzt, denn damit ein Fragment entsteht, ist eine Kraft notwendig, und beim Menschen ist es eine zerstörerische und gewalttätige Kraft.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie
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Mo 22. Mär 2021, 21:04

Zum Hinweis zu Bonhoeffer:
http://www.werner-thiessen.de/das-fragment-des-lebens/

"Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, dass unser Leben … fragmentarischen Charakter hat. … Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment des Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die … bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke zum Beispiel an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragments ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so dass schließlich nach dem Abbrechen höchstens noch der Choral ‚Vor Deinen Thron tret‘ ich allhier‘ intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“

Er soll dies vor seiner Hinrichtung geschrieben haben.

Wenn man eine massive Porzellan Schale, oder etwas aus Keramik nimmt, welche zerspringt, kann man diese oft noch zusammensetzen, ist auch nicht mehr das Original, die Klebestellen sind wie die gemeinten Fugen, die Schale "lebt" weiter. Vielleicht in einer anderen Verwendung, und der Mensch lebt dann vielleicht anders. Wenn aber die Zerstörung zu groß war, Oder es Vorverletzungen gab, ist ein anderes Leben nicht mehr möglich.



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TsukiHana
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Mo 22. Mär 2021, 22:56

Jovis hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:07
TsukiHana hat geschrieben :
So 21. Mär 2021, 13:48
Will man beim Versuch diese Frage zu beantworten nicht ins theologische Fahrwasser geraten, bleibt wohl nur das hic et nunc.
Zwischen gescheiterten Plänen in der Vergangenheit und (vielleicht) überaus ambitionierten Plänen in der Zukunft, ist das hic et nunc der einzig verlässliche Augenblick, über den ich (für mich) eine Aussage treffen kann.
So ich nicht gerade beabsichtige meinem Leben ein vorzeitiges Ende zu setzen, kann ich mich an diesem "Fragment" sogar erfreuen, ihm mit Faust`s Worten einen würdigen Ausdruck verleihen:

Verweile doch, du bist so schön".
Wieso sprichst du von gescheiterten Plänen? Ist für dich das Fragmentarische eher darauf zurückzuführen, dass es halt nichts geworden ist?

Die schönen Augenblicke lässt du in deinen wundervollen Segelfotos verweilen!
Ich hätte an der Stelle auch von gelungenen Plänen sprechen können, die nur noch nicht vollbracht wurden.
Im hic et nunc spielt es eigentlich keine so große Rolle, es sei denn, man richtet sein ganzes Leben ausschließlich nach dem gesellschaftlichen Erfolgsdruck aus. Gerade die gegenwärtige Situation zwingt uns doch alle dazu, unsere alten Denkweisen zu überprüfen.
Dass es halt nichts geworden ist, stört mich persönlich oft nicht so sehr, da ich mir immer auch gestatte zu scheitern... ;)
Das hic et nunc ist ein Fragment, wie ich es verstehe. Nicht das Davor, oder das Danach. Reines Gewahrsein im Augenblick.

Segeln ich eine Leidenschaft, die oft selbst aus schlimmen Momenten (später an Land! :mrgreen: ) schöne Erinnerungen hervorbringt, auch wenn diese meistens kaum in Fotos dokumentiert werden können, da Sicherheit an Bord immer vor "Kunst" steht. Meine Kameraausrüstung durch Salzwasser zu ruinieren kann ich mir auch schlicht nicht leisten.
Es freut mich, dass Dir meine Fotos gefallen.



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Jörn Budesheim
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Jovis hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:28
Konzept der Selbstnarration stünde dem aber entgegen ...
Ich glaube das "Konzept der Selbstnarration" ist nicht modern oder postmodern, sondern universell. Für mich ist das synonym mit dem Ausdruck "Geist". Hegel: "Der Geist ist nur, wozu er sich macht; er ist Tätigkeit, sich zu produzieren, sich zu erfassen." Auch sich gemäß der großen Erzählung zu verstehen ist eine Form der Selbstnarration, würde ich sagen.




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:50
Das Leben ist ein Fragment ist für mich daher negativ besetzt, denn damit ein Fragment entsteht, ist eine Kraft notwendig, und beim Menschen ist es eine zerstörerische und gewalttätige Kraft.
Nehmen wir die Kunst. Vielleicht - wir können offen lassen, ob das stimmt - sind die ersten Fragmente tatsächlich durch Formen der Zerstörung oder Unterbrechungen in die Kunst gekommen. Aber nachdem sie erst einmal da waren, würde ihr Reiz und ihre Kraft erkannt und die Kunst wurde großenteils in sich fragmentarisch. Man könnte fast sagen, zu einem vollendeten Kunstwerk gehören die Leerstellen, die offenen Räume, das Fragmentarische hinzu.

Wenn ich in einem Museum z.b. eine bemalte Scherbe sehe, dann sehe ich nicht zuerst das Ergebnis einer Zerstörung, sondern zuerst ein Angebot, das Dargebotene nach meinen Vorstellungen weiter zu imaginieren. Das ist für mich zuerst ein Angebot an meine Freiheit.




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Zum Weiterdenken: Vieles im Verständnis des Begriffes Fragment hängt auch mit der Mereologie an, die jeweils angemessen ist. Bei Manchem ist das Ganze bekanntlich mehr als die Summe der Teile. In einigen solcher Fälle, können die Teile gewissermaßen das Ganze in sich tragen ... so dass das Ganze in den Teilen aufgehoben ist.




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:50
Glas
Das Problem bei einem solchen Beispiel ist nach meinem Dafürhalten folgendes: das Glas betrachten wir von außen. Es kann als zerbrochenes seine Funktion nicht mehr erfüllen. Wenn wir jedoch vom Leben sprechen, dann betrachten wir die Dinge von "Innen". Wir haben unser Leben niemals als Ganzes, weil wir z.b. die Vergangenheit nicht als Ganzes haben können und die Zukunft ebenso. Wir befinden uns immer in einer ganz konkreten Szene. Diese Szne deuten wir zwar vor dem Hintergrund diverser "Selbstnarrationen" aus, das heißt, wir übersteigen diese Szene grundsätzlich, weil wir Geistwesen sind, nichtsdestotrotz ist das der Ort, wo wir notwendig sind. Das heißt aber auch, wir können immer anders weitermachen...




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TsukiHana
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Di 23. Mär 2021, 08:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 23. Mär 2021, 07:15
Wenn ich in einem Museum z.b. eine bemalte Scherbe sehe, dann sehe ich nicht zuerst das Ergebnis einer Zerstörung, sondern zuerst ein Angebot, das Dargebotene nach meinen Vorstellungen weiter zu imaginieren. Das ist für mich zuerst ein Angebot an meine Freiheit.
Dieses Beispiel kommt meiner Vorstellung von "Fragment" sehr nahe.

Übrigens existiert in Japan eine traditionelle Form der Reparatur von zerbrochenem Porzellan, die sich Kintsugi (jap. 金継ぎ, dt. „Goldverbindung, -flicken“) nennt. Keramik- oder Porzellanbruchstücke werden mit Urushi-Lack geklebt, fehlende Scherben werden mit einer in mehreren Schichten aufgetragenen Urushi-Kittmasse ergänzt, in die feinstes Pulvergold oder andere Metalle wie Silber und Platin eingestreut werden.
Besonders zerbrochene, wertvolle Teetassen werden so behandelt, ganz im Sinne der japanische Wabi-Sabi-Ästhetik.



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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 23. Mär 2021, 07:05
Jovis hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:28
Konzept der Selbstnarration stünde dem aber entgegen ...
Ich glaube das "Konzept der Selbstnarration" ist nicht modern oder postmodern, sondern universell.
Das Konzept, dass jeder diese Narration für sich selbst besorgen muss, ist aber eher nicht universell, das stimmt schon. Vielleicht entwickelt sich das in unseren Breitengraden mit der Aufklärung? I dont know.




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Alethos
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Di 23. Mär 2021, 15:00

Jovis hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:03
Was meinst du übrigens mit Nischendasein? Damit kann ich grade nichts anfangen.
Der Ausdruck "Nischendasein" ist wahrscheinlich nicht glücklich gewählt.

Wenn wir Fragmente einmal nicht vor dem Hintergrund einer Ganzheitsidee als Teile eines Ganzen denken (entweder als Teile, die noch zu einem Ganzen zusammengefügt werden können oder als Teile, die einst in einem Ganzen verbunden waren), sondern sie denken vor dem Aspekt ihrer Eigenständigkeit als Individuelles, dann erkennen wir in ihnen vielleicht auch so etwas wie eine gewisse Gelöstheit und Freiheit. Ein Fragment (in diesem Sinne) muss demjenigen nicht mehr nachtrauern, zu dem es eins gehörte. Es ist einfach und erfüllend Fragment und dadurch für sich selbst genommen unvollendet, aber in dieser Unvollendetheit ganz. Es ist Fragment unter Fragmenten - die allesamt gleichwertig unfertig sind, weil sie (als Fragmente) gar nicht in ein Fertiges hineingehören können. Das meine ich mit Nischendasein: Dass ein Fragment nur die Nische für sich beansprucht, die es als Fragment für sich in seiner Individualität einfordert. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.



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Jovis
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Di 23. Mär 2021, 19:11

Stefanie hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 20:50
Das Leben ist ein Fragment ist für mich daher negativ besetzt, denn damit ein Fragment entsteht, ist eine Kraft notwendig, und beim Menschen ist es eine zerstörerische und gewalttätige Kraft.
Nicht unbedingt. Wenn es vorher ein Ganzes war und dann kaputt geht, dann ja. Aber wenn die Fragmente entstehen, weil etwas begonnen, aber nicht zu Ende geführt wurde, dann hat da nicht unbedingt eine gewalttätige Kraft gewirkt, sondern die Kraft (die eigene) ist vielleicht eher erlahmt, die Begeisterung ging verloren, anderes wurde wichtiger o.ä. Fragmentarisch könnte dann bedeuten: Ich probiere Sachen aus, ohne mich zu etwas zu verpflichten. Ich erlaube mir, Dinge abzubrechen. Ich verweigere mich einem Nützlichkeitsdenken.




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Jovis
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Di 23. Mär 2021, 19:30

Stefanie hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 21:04
Zum Hinweis zu Bonhoeffer:
http://www.werner-thiessen.de/das-fragment-des-lebens/

"Je länger wir aus unserem eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind, desto mehr empfinden wir, dass unser Leben … fragmentarischen Charakter hat. … Es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment des Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht. Es gibt schließlich Fragmente, die … bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke zum Beispiel an die Kunst der Fuge. Wenn unser Leben auch nur ein entferntester Abglanz eines solchen Fragments ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so dass schließlich nach dem Abbrechen höchstens noch der Choral ‚Vor Deinen Thron tret‘ ich allhier‘ intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden.“

Er soll dies vor seiner Hinrichtung geschrieben haben.
In diesem Zusammenhang bekommt der Satz natürlich etwas besonders Tragisches, auch wenn Bonhoeffer versucht, aus dem Fragmentgedanken noch Trost zu gewinnen. Ich musste aber auch an Obdachlose denken, die ja ebenfalls oft schon seit langem aus ihrem "eigentlichen beruflichen und persönlichen Lebensbereich herausgerissen sind". Oder Flüchtlinge. Hier hat meist tatsächlich eine zerstörerische Kraft gewirkt. Aber unter welchem Gesichtspunkt können sie ihr Leben vielleicht trotzdem im Rahmen der Selbstnarration noch schätzen: Unter dem Gesichtspunkt einer verfehlten oder verwehrten Ganzheit oder unter dem Gesichtspunkt, dass alle Menschenleben (in unterschiedlichen Abstufungen) notwendig Fragment bleiben müssen?




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Jovis
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Di 23. Mär 2021, 19:39

TsukiHana hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 22:56
Das hic et nunc ist ein Fragment, wie ich es verstehe. Nicht das Davor, oder das Danach. Reines Gewahrsein im Augenblick.
Ich weiß jetzt nicht, ob uns das weiterbringt, aber weil es mir eingefallen ist: Soweit ich das aus der Literatur über den Buddhismus kenne, ist das "reine Gewahrsein im Augenblick" aber gerade kein Fragment, sondern die komplette Fülle, die Ganzheit. Es gibt nichts anderes als diesen jeweiligen Moment. (???)




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Jovis
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Di 23. Mär 2021, 19:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 23. Mär 2021, 07:15
Nehmen wir die Kunst. Vielleicht - wir können offen lassen, ob das stimmt - sind die ersten Fragmente tatsächlich durch Formen der Zerstörung oder Unterbrechungen in die Kunst gekommen. Aber nachdem sie erst einmal da waren, würde ihr Reiz und ihre Kraft erkannt und die Kunst wurde großenteils in sich fragmentarisch. Man könnte fast sagen, zu einem vollendeten Kunstwerk gehören die Leerstellen, die offenen Räume, das Fragmentarische hinzu.

Wenn ich in einem Museum z.b. eine bemalte Scherbe sehe, dann sehe ich nicht zuerst das Ergebnis einer Zerstörung, sondern zuerst ein Angebot, das Dargebotene nach meinen Vorstellungen weiter zu imaginieren. Das ist für mich zuerst ein Angebot an meine Freiheit.
Mir fallen hierzu Skizzen ein. Es gibt ja von vielen Malern vorbereitende Skizzen für ihre Gemälde, und die haben oftmals gerade durch das Unfertige, das Vorläufige, das Suchende eine viel größere Kraft, sind lebendiger als das fertige Bild. Das hat man auch erst später bemerkt. Das heißt, es muss einer Sache keineswegs zum Nachteil gereichen, wenn sie nicht fertig ist, wenn sie fragmentarisch bleibt.




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Jovis
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Di 23. Mär 2021, 19:54

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 23. Mär 2021, 07:23
Zum Weiterdenken: Vieles im Verständnis des Begriffes Fragment hängt auch mit der Mereologie an, die jeweils angemessen ist. Bei Manchem ist das Ganze bekanntlich mehr als die Summe der Teile. In einigen solcher Fälle, können die Teile gewissermaßen das Ganze in sich tragen ... so dass das Ganze in den Teilen aufgehoben ist.
Mereologie musste ich erst einmal nachschlagen, das Wort hatte ich noch nie gehört. Soweit ich das verstanden habe, könnte ich hier aber eine Erklärung dafür finden, warum mir das Fragmentarische dauernd entgleitet. Immer wieder wechselt es wie bei einem Vexierbild zwischen Fragment und Fragmenten, Teil und Ganzem.




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iselilja
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Di 23. Mär 2021, 19:58

Jovis hat geschrieben :
Di 23. Mär 2021, 19:39
TsukiHana hat geschrieben :
Mo 22. Mär 2021, 22:56
Das hic et nunc ist ein Fragment, wie ich es verstehe. Nicht das Davor, oder das Danach. Reines Gewahrsein im Augenblick.
Ich weiß jetzt nicht, ob uns das weiterbringt, aber weil es mir eingefallen ist: Soweit ich das aus der Literatur über den Buddhismus kenne, ist das "reine Gewahrsein im Augenblick" aber gerade kein Fragment, sondern die komplette Fülle, die Ganzheit. Es gibt nichts anderes als diesen jeweiligen Moment. (???)
Und doch ist jeder Moment irgendwie ein anderer. Sonst hätten wir vermutlich auch keinerlei Vorstellung von Zeit. Und weil wir diese Vorstellung nunmal haben, erscheint manchem der Moment als etwas besonderes. Je weiter man zurück blickt in die Vergangeheit oder je weiter man versucht die Zukunft zu planen, desto fragmentarischer werden diese Explorationen. Hier und Jetzt ist authentisch, weil es eben nicht fragmentiert ist. So sehe ich das jedenfalls. Was aber nicht daran hindert, es zugleich auch als Fragment des Ganzen zu verstehen.
Zuletzt geändert von iselilja am Di 23. Mär 2021, 20:01, insgesamt 1-mal geändert.




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