Gibt es psychische Krankheiten?

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Lucian Wing
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Mo 31. Okt 2022, 09:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 06:59
Körper hat geschrieben :
So 30. Okt 2022, 22:37
Funktionsweise des Menschen
Könnte mir vorstellen, dass auch das die Ursache vieler seelischer Krankheiten ist, dass wir leider in einer Wirklichkeit leben, in der der Mensch oftmals als etwas aufgefasst wird, was eine Funktionsweise hat. Damit wird das gesamte geistig-seelische Leben, also die Psyche ausgeblendet. Dass die Psyche darunter oft leidet, ist dann kein Wunder.
Für mich wird auch der gesamte soziokulturelle Kontext ausgeblendet. Beispielsweise ausgedrückt in einer Frage wie: Wann ist etwas eine Verhaltensstörung?, wobei Verhaltensstörung dann ja oft genug als psychische Störung bezeichnet wird.

Es sollten demgemäß, dies @Körper, auch ein paar solide Kenntnisse der Funktionsweisen soziokultureller Art vorliegen. Manche Pathologisierung eines Verhaltens hat nichts mit der "Wahrnehmung" seitens der Betroffenen zu tun, sondern mit Werturteilen der Gesellschaft, die vielleicht eine Idiosynkrasie in eine Störung umfunktioniert.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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Lucian Wing hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 09:43
... Manche Pathologisierung eines Verhaltens hat nichts mit der "Wahrnehmung" seitens der Betroffenen zu tun, sondern mit Werturteilen der Gesellschaft, die vielleicht eine Idiosynkrasie in eine Störung umfunktioniert.
Psychisch krank werden kann man zum Beispiel auch durch gezieltes Mobbing der Mitmenschen.




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Stefanie
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Mo 31. Okt 2022, 12:51

Es wurde schon das ICD Schema erwähnt. Es gibt eine weitere Klassifikation, ICF Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit als Ergänzung,. Hier geht es um den funktionalen Gesundheitszustand und der sozialen Beeinträchtigungen und den relevanten Umweltfaktoren.
Es gibt einen eigenen Punkt zu Einstellungen. Einstellungen Familie, Freunde, Kollegen, Gesellschaft etc. Es wird dann gefragt, sind diese Einstellungen eine Barriere, also in wieweit diese die Gesundheit oder Behinderung negativ beeinflussen, oder ob sie positiv den gesundheitlichen Zustand beeinflussen.
Die mobbenden Kollegen wäre eine Barriere und beeinflussen die Gesundheit negativ.

https://www.dimdi.de/static/de/klassifi ... nent-e.htm



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Timberlake
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Mo 31. Okt 2022, 22:54

Körper hat geschrieben :
So 30. Okt 2022, 20:02
AufDerSonne hat geschrieben :
So 30. Okt 2022, 18:51
Und das ist ja die Frage. Inwiefern reagiert ein psychisch Kranker unpassend auf die Realität...
Es geht um Überzeugungen.

Wenn ich sage "Realität formt Reaktion", dann ist der Begriff "Überzeugung" zentral wichtig ("Überzeugungs-Reaktionen").
Das sind natürlich keine "Stammtisch-Überzeugungen", sondern felsenfeste "Vorstellungen" von denen wir nicht abweichen können.
Ich bringe ja immer die "schrägen Linien" als Beispiel für diese Art der Überzeugung.
Das ist eine regelrechte Überzeugungs-Fixierung - für uns nicht abänderbar.

Ein psychisch Kranker übertreibt (natürlich nicht willentlich) bei den Überzeugungen - es geht also um Übertreibung.
Das ist dann eine Übertreibung, die deutlich von der Realität abweicht und die den Betroffenen vielleicht sogar lahmlegt (Zusammenbruch oder Orientierungslosigkeit).

Stell dir mal vor, so wie du von der Schräge der Linien überzeugt bist, gehst du davon aus, Napoleon zu sein.
Hört sich lustig an, aber wir funktionieren im Grunde so, dass das vorkommen kann.
Stell dir mal vor , jemand würde diese "schrägen Linien" parallel sehen, wäre er psychisch gesund ?

Oder, um einmal, im Vergleich dazu , das Problem mit Platons Höhlengleichnis philosophisch an zu gehen ..



.. ist derjenige , der die Welt so wahrnimmt , wie sie wirklich ist, psychisch gesund, wenn doch die "Normalen" nur Schatten an der Höhlenwand sehen ? Würden die Normalen diese Beschreibung der Wirklichkeit nicht mit einer Psychose gleichsetzen , die es zu therapieren gilt?
Zuletzt geändert von Timberlake am Mo 31. Okt 2022, 23:33, insgesamt 7-mal geändert.




Timberlake
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Mo 31. Okt 2022, 23:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 10:01
Lucian Wing hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 09:43
... Manche Pathologisierung eines Verhaltens hat nichts mit der "Wahrnehmung" seitens der Betroffenen zu tun, sondern mit Werturteilen der Gesellschaft, die vielleicht eine Idiosynkrasie in eine Störung umfunktioniert.
Psychisch krank werden kann man zum Beispiel auch durch gezieltes Mobbing der Mitmenschen.
Weil ich seiner Zeit im Hühnergarten dergleichen bei Hühnern bemerkt habe , so sei mir mal diesbezüglich ein "Ausflug" ins Tierreich erlaubt ..
  • Hackordnung oder Mobbing: Was tun, wenn Ihr Huhn gemobbt wird?

    Sie wussten bereits, dass Hühner eine Hackordnung haben. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen der Hackordnung und Mobbing. Wann sollten Sie eingreifen und wie können Sie vorgehen, wenn Ihr Huhn gemobbt wird?
    Die Hauptursachen für Mobbing sind Stress, Langeweile, Krankheit und Überfüllung.

    Die Hackordnung ist eine soziale Struktur innerhalb der Gruppe. Welches Huhn ganz oben steht, hängt von seinem Alter und seiner Persönlichkeit ab. Eine ehrgeizige Henne wird am Ende der Leiter beginnen und ihre schüchternen Mitbewohner nach und nach herausfordern und einschüchtern. Sobald ein schüchternes Huhn beiseite getreten ist, hört ein dominantes Huhn normalerweise auf, es zu belästigen.

    Bleibt das aggressive Verhalten jedoch bestehen, nachdem die Hackordnung festgelegt wurde? Dann könnte es sein, dass ein Huhn gemobbt wird. Manchmal beschränkt sich dies auf das Zupfen von Federn, aber es kann auch zu offenen Kriegen eskalieren, auch mit Opfern. Die Hauptursachen für Mobbing sind Stress (Umzug, neue Henne, Futterwechsel ...), Langeweile (besonders im Winter, wenn draußen nichts zu tun ist), Krankheit (eine kranke Henne wird ausgeschlossen) und Überfüllung.
In "meinem Fall" hatte übrigens das Huhn die Mobbing- Attacken der anderen Hühner nicht überlebt.




Körper
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Di 1. Nov 2022, 09:13

AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 09:33
Eine psychische Störung oder Krankheit ist primär zuerst einmal ein Leiden. Also für den Betroffenen.
Das stimmt, die Einstufung durch den Betroffenen muss man auch betrachten.
Die Auswirkung einer psychischen Störung kann dadurch verstärkt/verändert werden, dass der Betroffene versuchen muss, damit umzugehen.
AufDerSonne hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 09:33
Was bei psychischen Störungen aber interessant ist, im Gegensatz zu körperlichen Krankheiten, ist, dass der Betroffene oft auch noch "spinnt".
Seine Gefühle sind durcheinander, die Gedanken sind oft unlogisch und machen keinen Sinn.
Das hat zur Folge, dass das Verhalten abnormal ist. Einer redet nur noch, einer sagt überhaupt nichts mehr.
Dieses Durcheinander der Gefühle und das "Spinnen" würde ich direkt unter "Übertreibung in den Überzeugungen" oder als Folge davon einordnen.

Es gibt, glaube ich, durchaus auch körperliche Krankheiten, die man als "körperliches Spinnen" ansehen könnte.
D.h. es kommt zu Übertreibungen in den Körperformationen.
So kann es z.B. zu ganz enormen Veränderungen (ich vermute bei der Haut) kommen, die wie eine Baumrinde aussehen.

Aus meiner Sicht geht es einheitlich (egal ob psychisch oder körperlich) um Zellmechanismen, die in ihren Abläufen abweichen oder schlicht überfordert werden können.
Das ist vielleicht sogar für Überlegungen in Richtung "KI" relevant, denn bei all dem, was wir durch die Zellmechanismen können, liegen auch grundsätzliche Problemmöglichkeiten vor.
Durch ein Nachbauen der Prinzipien des Menschen baut man letztlich auch die Problemmöglichkeiten nach.




Körper
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Di 1. Nov 2022, 09:23

Timberlake hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 22:54
Stell dir mal vor , jemand würde diese "schrägen Linien" parallel sehen, wäre er psychisch gesund ?
In Bezug auf die "schrägen Linien" (und mehr gibst du mir ja gerade nicht als Einsicht) kann man diesen Menschen als "psychisch gesund" einstufen.
Hinter dem Wort "Psyche" soll aber schon eher ein Gesamtüberblick stehen.

An einzelnen Fähigkeiten, also noch nicht einmal an Problemen, würde ich auf keinen Fall Krankheiten festmachen wollen.
Es gibt spektakulärere Abweichungen, als in deiner obigen Frage enthalten, die man als "Synästhesie" bezeichnet.
Hier auf irgendeine Weise in Richtung "Krankheit" zu deuten, halte ich für vollständig unangebracht.
Timberlake hat geschrieben :
Mo 31. Okt 2022, 22:54
Oder, um einmal, im Vergleich dazu , das Problem mit Platons Höhlengleichnis philosophisch an zu gehen ..
.. ist derjenige , der die Welt so wahrnimmt , wie sie wirklich ist, psychisch gesund, wenn doch die "Normalen" nur Schatten an der Höhlenwand sehen ? Würden die Normalen diese Beschreibung der Wirklichkeit nicht mit einer Psychose gleichsetzen , die es zu therapieren gilt?
Ich habe oben schon geschrieben, dass ich "normal" und "psychisch gesund" trennen möchte.
"normal" sehe ich als statistische Grösse in Bezug zum lokalen Umfeld.
"psychisch gesund" zielt für mich auf die korrekte Funktionsweise des Menschen, insbesondere auf die harmonische Relation "Realität/Reaktion" ab.

Ohne Verständnis über die Funktionsweise des Menschen steht den "Normalen" quasi nur die statistische Betrachtung zur Verfügung und dann wird es sicherlich zu Tendenzen kommen, ungünstige Abweichungen als "krank" zu bezeichnen. Bei günstigen/brauchbaren Abweichen ist man dann schnell der "dicke Supermutant" :-)




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Eiwa
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Di 1. Nov 2022, 10:40

Was ist eine "korrekte Funktionsweise des Menschens"? Was soll es überhaupt bedeuten, zu funktionieren?
Manche Menschen sagen ja auch: "Ich lebe nicht, ich funktioniere nur noch" oder aus einer bedrohlichen Situation heraus: "Ich habe in dem Moment gar nicht nachgedacht, ich habe nur noch funktioniert"...




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Jörn Budesheim
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Di 1. Nov 2022, 10:52

Eiwa hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 10:40
Was ist eine "korrekte Funktionsweise des Menschens"? Was soll es überhaupt bedeuten, zu funktionieren?
Manche Menschen sagen ja auch: "Ich lebe nicht, ich funktioniere nur noch" oder aus einer bedrohlichen Situation heraus: "Ich habe in dem Moment gar nicht nachgedacht, ich habe nur noch funktioniert"...
Für mich ist das eine extreme Verkürzung und kann selbst - wie ich oben schon angedeutet habe - zu psychische Krankheiten führen. Sicher gibt es auch Aspekte, wo man sagen kann, dass etwas funktioniert, sagen wir Herz- und Lungenfunktionen zum Beispiel.

Psyche ist mehr oder weniger das griechische Wort für Seele. Wenn das geistige und seelische beiseite geschoben wird und man den Menschen als Funktionszusammenhang sieht: "Am Tag arbeiten. In der Nacht schlafen" (wie es im Startbeitrag heißt) dann sind seelische Probleme programmiert, befürchte ich.




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Lucian Wing
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Di 1. Nov 2022, 11:35

Körper hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 09:23

"psychisch gesund" zielt für mich auf die korrekte Funktionsweise des Menschen, insbesondere auf die harmonische Relation "Realität/Reaktion" ab.
Da frag ich mich, ob die Verwendung solchen Vokabulars, das völlig an der sozialen Dimension des Themas des Psychischen vorbeigeht, jetzt eine "harmonische Relation" zum Thema darstellt.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

Körper
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Di 1. Nov 2022, 12:05

Eiwa hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 10:40
Was ist eine "korrekte Funktionsweise des Menschens"? Was soll es überhaupt bedeuten, zu funktionieren?
Wie ich oben geschrieben habe, sehe ich es zweigeteilt:
1.
Die Nervenzellen haben ein gewisses Spektrum, in dem sie arbeiten sollten, so dass es nicht auf Basis dieser Abweichungen zu psychischen Problemen kommt.
Der einfachste Fall, um dies zu verdeutlichen, ist der Schlafentzug. Durch die Belastung und fehlende Regeneration geht es hier irgendwann bei den Zellen "abweichend" zu und man hat dann wohl Effekte von psychischer Störung.
2.
Das Zusammenspiel von gesunden Nervenzellen wird durch das Einwirken der Realität (sprich: Körper und Umwelt) geformt. Das Nervensystem versucht Disharmonien in Harmonien überzuführen, was wir "Lernen" nennen.
Kommt es hier zu einer Überforderung (extreme Stresssituation), dann können sich stark ungünstige Ausgleichsanpassungen im Zusammenspiel ergeben.
D.h. in den gesunden Zellen kommt es zu Abläufen, die nicht mehr zur Realität passen ("Übertreibung von Überzeugungen")
Eiwa hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 10:40
Manche Menschen sagen ja auch: "Ich lebe nicht, ich funktioniere nur noch" oder aus einer bedrohlichen Situation heraus: "Ich habe in dem Moment gar nicht nachgedacht, ich habe nur noch funktioniert"...
Dieses spezielle "nur noch Funktionieren" würde ich als "Pflichten aber keine Freiheiten mehr haben" und "sich nicht mehr entfallen können" übersetzen.
Mir geht es hier nicht um so eine "sklavenhafte Funktionsweise", sondern ich ziele auf die Umstände in den (Nerven-)Zellen ab.




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Jörn Budesheim
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Di 1. Nov 2022, 12:10

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 11:35
Körper hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 09:23

"psychisch gesund" zielt für mich auf die korrekte Funktionsweise des Menschen, insbesondere auf die harmonische Relation "Realität/Reaktion" ab.
Da frag ich mich, ob die Verwendung solchen Vokabulars, das völlig an der sozialen Dimension des Themas des Psychischen vorbeigeht, jetzt eine "harmonische Relation" zum Thema darstellt.
Nein, sicher nicht. Man kann nicht wesentliche Dimensionen der menschlichen Realität ausblenden, um die seelische Gesundheit/Krankheit des Menschen in den Blick zu bekommen.




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Lucian Wing
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Di 1. Nov 2022, 12:17

Da fällt mir spontan ein: Wenn die Nervenzellen einer Person A sich in etwa dem Bereich wie diejenigen einer Person B bewegen, die beiden Personen jedoch in völlig unterschiedlichen soziokulturellen Umfeldern leben, in denen das aus dem Funktionieren der Nervenzellen hervorgehende Verhalten unter psychischen Gesichtspunkten vollkommen konträr beurteilt wird, wie erklärt man dann den Begriff der Störung aus den Nervenzellen und deren Funktionsweisen heraus?

Man kann es auf eine Person beschränken. Was hier als harmonisches Funktionieren gilt, gilt anderswo als unharmonisch.

Schlussfolgerung: Es würde Sinn machen, psychische Krankheiten, also den Begriff einer psychischen Krankheit, nicht reduktionistisch auf irgendwelche biochemischen Harmonien zu beschränken. Das führt begrifflich in die Sackgasse.



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AufDerSonne
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Di 1. Nov 2022, 15:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Nov 2022, 12:10
Nein, sicher nicht. Man kann nicht wesentliche Dimensionen der menschlichen Realität ausblenden, um die seelische Gesundheit/Krankheit des Menschen in den Blick zu bekommen.
Könnte man sagen, ein psychisch Kranker hat immer auf irgendeine Weise einen gestörten Bezug zur Realität?
Im Extremfall nimmt er Sachen wahr, die es gar nicht gibt, also hat Halluzinationen?
Aber zwischen Halluzinationen (extrem) und schwachen Wahrnehmungsstörungen gibt es sicher alles.

Bei mir war es oft so, dass die Wahrnehmung ganz ok war, aber ich habe das Wahrgenommene völlig falsch interpretiert.
Vor allem beim Kontakt, also in der Regel reden, mit anderen Menschen.
Auch hier ein extremes Beispiel. Jemand lächelt und man interpretiert es als ein Weinen. Usw.



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Lucian Wing
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Mi 2. Nov 2022, 20:31

Ich möchte noch einmal auf die Begrifflichkeiten zurückkommen, auf "psychische Störungen/Krankheiten", "mental disorders/diseases":

Es gibt m.E., wenn man Begriflichkeiten richtig anwendet, keine psychischen Störungen/Krankheiten auf der Ebene von Nervenzellen. Die haben auch kein Spektrum, in dem sie arbeiten SOLLEN, sondern nur ein Spektrum, nämlich ein breites, in dem sie arbeiten. Ihnen ein Sollensspektrum zuzuweisen, wäre auf ihrer Ebene verfehlt. Das Sollen resultiert daraus, dass wir vielleicht wissen, was es für das Verhalten des Einzelnen bedeutet, wenn sie so oder wenn sie so arbeiten, und wir die Ergebnisse auf der Verhaltensebene für sozial erwünscht oder unerwünscht halten. Ein Eingriff durch Psychopharmaka SOLL das Ergebnis haben, einen vollkommen natürlichen Vorgang zu manipulieren, um ein auf der Ebene der Gesellschaft erwünschtes Ergebnis zu erzielen. Wir messen die Arbeit der Nervenzellen, des chemischen Cocktails im Gehirn in seiner Funktionalität am Verhalten des Einzelnen, nicht an der Arbeit der Nervenzellen. Dort ist alles ganz harmonisch, die Nervenzellen wissen nichts von einem Sollen, die funktionieren einfach so oder so. Nur der Mensch wird dann irgendwann sozial gesehen disfunktional.

Kurzum: pschologisches und normatives Vokabular gehört nicht auf die Ebene biochemischer Phänomene.

Wenn der Fluss über das Ufer tritt und die Landschaft überschwemmt, ist das Wasser nicht krank.



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Mi 2. Nov 2022, 22:20

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Es gibt m.E., wenn man Begriflichkeiten richtig anwendet, keine psychischen Störungen/Krankheiten auf der Ebene von Nervenzellen.
Das habe ich so auch nicht dargestellt.
Meine Aussage: "Die Nervenzellen haben ein gewisses Spektrum, in dem sie arbeiten sollten, so dass es nicht auf Basis dieser Abweichungen zu psychischen Problemen kommt."
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Die haben auch kein Spektrum, in dem sie arbeiten SOLLEN, sondern nur ein Spektrum, nämlich ein breites, in dem sie arbeiten.
Die Nervenzellen "Neuronen", "Astrozyten", "Oligodendrozyten", "Mikrogliazellen" verfügen über komplizierte Zellmechanismen.
Gerade für die "Astrozyten" ist mir bekannt, dass es ein ganzes Arsenal unterschiedlichster Mechanismen ist.
Eine Abweichung kann alleine schon dadurch vorliegen, dass einer dieser Mechanismen nicht mehr abläuft.
Abweichungen können aber auch in den einzelnen ineinander greifenden Ablaufschritten vorkommen.

Es geht sogar um eine ausreichende Geschwindigkeit der Abläufe. Zellen sind keine mathematische Grösse, die idealisiert immer und überall bereit ist, sondern sie unterliegen Regenerations- und Ausgleichsmechanismen.
Sind sie schlicht nicht schnell genug, hat das Auswirkungen.

Aus dem "zur Verfügung stehen" und dem "Ablaufen" der Mechanismen ergibt sich somit ein Spektrum, zu dem die Zelle "bereit" sein muss, damit es zu adäquaten Reaktionen und zu adäquaten Reaktionsanpassungen kommen kann.
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Das Sollen resultiert daraus, dass wir vielleicht wissen, was es für das Verhalten des Einzelnen bedeutet, wenn sie so oder wenn sie so arbeiten, und wir die Ergebnisse auf der Verhaltensebene für sozial erwünscht oder unerwünscht halten.
Mit "so oder so arbeiten" triffst du nicht den Punkt, dass es bei der Zellspezialisierung schon um zelluläre Fähigkeiten geht, die nicht ausfallen oder falsch ablaufen sollten.
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Ein Eingriff durch Psychopharmaka SOLL das Ergebnis haben, einen vollkommen natürlichen Vorgang zu manipulieren, um ein auf der Ebene der Gesellschaft erwünschtes Ergebnis zu erzielen. Wir messen die Arbeit der Nervenzellen, des chemischen Cocktails im Gehirn in seiner Funktionalität am Verhalten des Einzelnen, nicht an der Arbeit der Nervenzellen.
Das ist viel zu einfach gedacht.
Sicherlich sucht man ausgehend von einem Krankheitsfall nach den Abweichungen, also nach der Ursache, aber es geht um Funktional-Abweichungen.
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Dort ist alles ganz harmonisch, die Nervenzellen wissen nichts von einem Sollen, die funktionieren einfach so oder so.
Das ist nicht ganz richtig (das Wort "wissen" ist nicht angebracht). Die Zellmechanismen, insbesondere die der Gliazellen ("Astrozyten", "Oligodendrozyten", "Mikrogliazellen") sind schon darauf ausgelegt, auf die Harmonie/Disharmonie-Situationen, die sich durch Neuronenaktivität und das biochemische Umfeld ergeben, mit Abläufen zu reagieren.
Da ist viel Funktion vorhanden. Anders käme es nicht zu einem Lernen, also einem Umbauen der Zellstruktur.
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Nur der Mensch wird dann irgendwann sozial gesehen disfunktional.
Der Betroffene stellt oftmals selbst ein Problem an sich fest.
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 20:31
Kurzum: pschologisches und normatives Vokabular gehört nicht auf die Ebene biochemischer Phänomene.
Das ist keine grosse Weisheit, aber "Psychologisches" ist letztlich Reaktion und das ist das Hoheitsgebiet der zellulären Mechanismen.

Irgendwie scheinst du dich an dem, worauf ich abziele, zu stören - wieso, weshalb, warum, kann ich nicht sagen.
Du hast dich bisher noch nicht aus der Deckung gewagt und dargelegt, wie du Nervensystem und "Psychologisches" in einem Konzept unterbringen möchtest.




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Lucian Wing
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Mi 2. Nov 2022, 23:05

Körper hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 22:20

Irgendwie scheinst du dich an dem, worauf ich abziele, zu stören - wieso, weshalb, warum, kann ich nicht sagen.
Weil du überall, egal, ob es um Physik, Biologie, Psychologie oder Philosophie geht, mit ein und demselben Vokabular "arbeitest". Das finde ich im Rahmen von Physik oder Biologie nun durchaus nachvollziehbar, aber nicht mehr in der Dimension oder Kategorie des Psychischen (oder der Philosophie, die mal außen vor bleiben kann hier).
Körper hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 22:20
Du hast dich bisher noch nicht aus der Deckung gewagt und dargelegt, wie du Nervensystem und "Psychologisches" in einem Konzept unterbringen möchtest.
Will ich nicht. Würde ich das Nervensystem in seiner Arbeit betrachten, würde ich dort Prozesse entdecken, Abläufe, Vorgänge usw. Aber um die als "krank" zu bezeichnen, brauche ich einen anderen Bereich. Deshalb hatte ich oben mal geschrieben, dass ein und derselbe Vorgang, Prozess, Ablauf in den Nervenzellen und das daraus resultierende Verhalten einmal als krank und einmal als gesund GILT. Geltung ist etwas anderes als SEIN, wir bewegen uns da in völlig unterschiedlichen Kategorien. Deshalb:
Körper hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 22:20
Das ist viel zu einfach gedacht.
Sicherlich sucht man ausgehend von einem Krankheitsfall nach den Abweichungen, also nach der Ursache, aber es geht um Funktional-Abweichungen.
Die Funktionalabweichung braucht eine Kategorie, innerhalb deren sie Sinn bekommt. Der Vorgang als SOLCHER in sich innerhalb der Nervenzellen kennt keine Abweichung, sondern nur Variationen. Und erst auf der Ebene des Sozialen - und Verhalten ist nur im Sozialen als Begriff verständlich - macht es Sinn, bestimmte Variationen als Abweichungen zu verstehen und eine psychische Störung/Krankheit zu diagnostizieren. Schau dir mal die Posse um den Burnout an, den wir zum Beispiel im DSM-5 gar nicht kennen, im ICD-10 so ungefähr, aber in Deutschland haben wir das permanent als Diagnose. Du ahnst schon, aber das ist jetzt nur ein später Scherz: Haben die Deutschen andere Nervenzellen als andere? ;)



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Jörn Budesheim
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Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 23:05
Die Funktionalabweichung braucht eine Kategorie, innerhalb deren sie Sinn bekommt. Der Vorgang als SOLCHER in sich innerhalb der Nervenzellen kennt keine Abweichung, sondern nur Variationen. Und erst auf der Ebene des Sozialen - und Verhalten ist nur im Sozialen als Begriff verständlich - macht es Sinn, bestimmte Variationen als Abweichungen zu verstehen und eine psychische Störung/Krankheit zu diagnostizieren ...
Das ist so sicherlich richtig. Wichtig ist meines Erachtens darüber hinaus, dass die Kausalität in der Regel ganz anders läuft. Wenn Peter von der Abteilung gemobbt wird, dann ist das Mobbing die Ursache für die psychischen Probleme - die Kausalität läuft also in diesem Fall top down und nicht bottom up. Ähnlich ist es womöglich beim Burnout Syndrom, da sind Überforderung und Stress im Büro die möglichen Ursachen.

Ein ähnliches Problem kann die Theorie von Körper selbst darstellen. Sie entwirft schließlich ein bestimmtes Bild des Menschen, in dem der Mensch im Grunde gar nicht mehr vorkommt als Wesen, das der Achtung, der Liebe, kreativer Aufgaben, der Zuwendung und vielem anderen bedarf um ein gesundes und erfülltes seelisch/geistiges Leben zu führen.




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AufDerSonne
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Körper hat geschrieben :
Mi 2. Nov 2022, 22:20
Der Betroffene stellt oftmals selbst ein Problem an sich fest.
Ich finde auch, es gibt beide Seiten. Der Betroffene (Kranke) und sein soziales Umfeld.
Jörn und Lucian Wing stellen das soziale Umfeld zu stark in der Vordergrund.
Ob ein Mensch psychisch krank ist, hängt nicht nur von der Beurteilung seines sozialen Umfelds ab.

Zum Vergleich. Wenn wir körperlich krank sind, sagen wir eine Grippe haben, dann spielt ja das Umfeld auch keine Rolle.
Dann ist der Betroffene einfach krank und muss hoffen, dass er wieder gesund wird. Ein Arzt kann vielleicht helfen, wie bei psychischen Krankheiten auch.

Aber ich streite nicht ab, dass psychisch Kranke oft auch ein gestörtes Verhalten an den Tag legen, das dem sozialen Umfeld dann auffällt.



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Jörn Budesheim
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AufDerSonne hat geschrieben :
Do 3. Nov 2022, 07:11
Ob ein Mensch psychisch krank ist, hängt nicht nur von der Beurteilung seines sozialen Umfelds ab.
Das ist sicherlich richtig. Deswegen habe ich weiter oben aucg ein entsprechendes Beispiel gegeben.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 30. Okt 2022, 13:41
Beispiel: In einer Gruppe von extremen Neurotikern, wäre der psychisch Gesunde (Normale) demnach nicht normal, nur weil er anders ist als es üblich ist?
Ich glaube nicht, dass ich an einer Stelle behauptet habe, dass die psychische Krankheit von der Beurteilung des sozialen Umfelds abhängt.




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