Indigenialität

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
ahasver
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Di 29. Nov 2022, 12:55

Den Titel "INDIGENIALITÄT" hab ich Andreas Weber geklaut, der unter diesem Titel ein sehr lesenswertes Büchlein geschrieben hat. Ich werde ihn im weiteren Verlauf dieses Themas sicher noch oft zitieren. Vielleicht beginn ich jetzt gleich mit 2 Zitaten:
Wir sind alle Wilde.
Indigenialität heißt, sich als aktiven Teil eines sinnvollen Ganzen zu verstehen und so zu handeln, dass die eigene Lebensqualität die des Ganzen steigert.
Es ist noch nicht lange her, da begann im paradiesischen Afrika in der damals völlig unbedeutenden Gattung Homo neuronales Gewebe oberhalb des Stammhirns zu wuchern. Diese Wucherung führte zu einer weltweiten, ungebremsten Verbreitung der Gattung, die sich selbst wenig später "Homo sapiens" nannte und erweist sich derzeit als lebensbedrohlich für die Art selbst, aber auch für die gesamte Biosphäre des Planeten Erde.

Mit dieser Wucherung ist etwas in die Welt geschlüpft, das ich unter den Stichworten "Rationalität" und "Instrumentelle Vernunft" zu untersuchen gedenke. Diese Untersuchung ist mir nur möglich dank dieser neuronalen Wucherung, die ich fortan "Großhirn" nennen werde.
Die Aufklärung (Kant,....) proklamierte die Vernunft als Maß allen Denkens und Handelns. Aber das Unheil nahm schon Jahrtausende vorher seinen Lauf.
„Seit je hat Aufklärung (also die Vernunft; ahasver) im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften Band 3. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 19.

Einer, der 1821 das Unheil anrollen hörte, schrieb:
Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.
Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahre

Was tun im Angesicht globaler Zerstörung des Lebens durch eben diese Vernunft?

Goethe fuhr, meine Frage beantwortend, fort:
Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere: entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu suchen.
Es gibt aber kein "jenseits der Meere" mehr.



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

Groot
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Fr 2. Dez 2022, 19:22

Wieso muss mit dem Neuen das Verderben einhergehen? Sicher, es verwandeln sich Traditionen und vielleicht auch bestimmte und bestimmbare Perspektiven, aber ob dies gleich heißt es verderbe? Da wäre ich mir nicht sicher.

Angenommen die "heile" Welt der Klassik (d.h. für den Moment "vor den Maschinen", "vor der Digitalität") wäre in ihrer Formung so strukturiert, dass sich die neuen Operationen, die mit der Technik einhergehen, innerhalb der Strukturen der Natur und Gesellschaft sich darstellen? Angenommen sie brächten es garnicht so weit, das Gehäuse der Form überhaupt wirklich zu streifen (außer als Tangente).
Was wäre dann verloren? Wäre es nicht ein Zugewinn? Es ließen sich damit womöglich neue Regionen des Seins erfassen, wovon der (Post-)Materialismus der Postmoderne kündet. Man könnte vielleicht der Strukturen habhaft werden, die durch die ursprüngliche Form bestimmt sind; nicht um diese Strukturen zu verdammen, sondern um ihnen neue, der Zeit angepasstere Formen, zur Verfügung zu stellen, in denen nicht Ewigkeit zu walten habe, sondern das Credo die alltägliche Alltäglichkeit der Lebenswelt wäre, sowie die Sprachlichkeit in ihrer historischen Dimension.

Es muss doch nicht verloren gehen, was vielmehr beschreibt als der scheuklappendetragende Gegenwartsmensch. Es braucht nur eine kleine Anpassung an den eingeengten Gesichtskreis.




Nick Nickless
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Fr 2. Dez 2022, 22:59

Man sollte Aufklärung nicht mit Vernunft, und Rationalität nicht mit Zweckrationalität, die freie Vernunft nicht mit der dienenden, banausischen verwechseln. Sonst hält man nur das Sieb unter, während die anderen den Bock melken. Aufklärung ist die populäre Gestalt der Reflexion, letztlich verabsolutierte Reflexion ins Ich, Irrationalismus. Damit einher geht dann die Verabsolutierung der Kategorie des Mechanik, eben das rein Innerliche ins rein Äußerliche gewendet, die Beziehung ist dann das Instrumentelle. Damit ist dann alle Vernunft platt. Irgendwann wird man es wieder verstehen.

Adorno und sein Mentor, Nietzsche, zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie das Problem der verabsolutierten Reflexion, nämlich den Nihilismus, zwar gesehen, aber keine Antwort darauf gefunden haben. Adorno hat sich ins Obskure zurückgezogen, um der auflösenden Reflexion zu entgehen, und dabei kräftig weiter ins Horn der Reflexion geblasen, und Nietzsche, nun ja, der hat mehr Antworten gegeben, als mein Hund Flöhe hat, eine davon hat Adorno nachgebetet ...




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Jörn Budesheim
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Sa 3. Dez 2022, 11:34

www.deutschlandfunkkultur.de hat geschrieben : Philosoph Andreas Weber über „Indigenialität“

Hin zum Einklang mit der Natur

Klimawandel und Artensterben seien fatale Folgen einer falschen Weltsicht, sagt der Philosoph Andreas Weber. Von indigenen Völkern könnten wir lernen, unsere Lebensgrundlagen besser zu schützen und im Einklang mit der Natur zu leben.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ph ... m-100.html
In diesen Artikel des Deutschlandfunks gibt es eine kurze Zusammenfassung der Hauptthesen des Buchs von Weber.




Burkart
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Sa 3. Dez 2022, 12:01

Eine Frage für mich ist, warum wir unsere modernen Probleme nicht besser bekämpfen können; es ist sicher nicht alles schlecht, wie von Groot ja schon meinte.

Für mich ist das zentrale Problem die Macht in zu wenigen und auch falschen Händen, die durch unsere äußerst vernetzte Gesellschaft sehr verstärkt wird. Da sind indigene Völker anders strukturiert.
Es ist ja schön und sinnvoll, wenn wir z.B. für das 1,5-Grad-Ziel sind, aber z.B. China direkt da kaum etwas macht und Putin-Russland (mit Macht in zu wenigen und auch noch falschen autoritären Händen statt Demokratie) durch seinen Krieg uns vor große Probleme stellt (hierzu z.B. die hohen Energiepreise, Inflation...), auch z.B. Ölkonzerne (und entsprechende Nationen wie Katar) vor allem auf ihren Reichtum achten.
Der Einzelne kann gegen diese Macht kaum etwas bewirken, wie man an der verzweifelten Entstehung der "letzten Generation" sieht.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

ahasver
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Sa 3. Dez 2022, 12:24

Burkart hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 12:01
Eine Frage für mich ist, warum wir unsere modernen Probleme nicht besser bekämpfen können; es ist sicher nicht alles schlecht, wie von Groot ja schon meinte.

Für mich ist das zentrale Problem die Macht in zu wenigen und auch falschen Händen, die durch unsere äußerst vernetzte Gesellschaft sehr verstärkt wird. Da sind indigene Völker anders strukturiert.
Es ist ja schön und sinnvoll, wenn wir z.B. für das 1,5-Grad-Ziel sind, aber z.B. China direkt da kaum etwas macht und Putin-Russland (mit Macht in zu wenigen und auch noch falschen autoritären Händen statt Demokratie) durch seinen Krieg uns vor große Probleme stellt (hierzu z.B. die hohen Energiepreise, Inflation...), auch z.B. Ölkonzerne (und entsprechende Nationen wie Katar) vor allem auf ihren Reichtum achten.
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Hallo Burkart
Unser zentrales Problem lässt sich nicht bekämpfen. >Kämpfen< ist zentraler Wesensteil unseres Problems.



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Burkart
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Sa 3. Dez 2022, 12:44

ahasver hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 12:24
Burkart hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 12:01
Eine Frage für mich ist, warum wir unsere modernen Probleme nicht besser bekämpfen können; es ist sicher nicht alles schlecht, wie von Groot ja schon meinte.

Für mich ist das zentrale Problem die Macht in zu wenigen und auch falschen Händen, die durch unsere äußerst vernetzte Gesellschaft sehr verstärkt wird. Da sind indigene Völker anders strukturiert.
Es ist ja schön und sinnvoll, wenn wir z.B. für das 1,5-Grad-Ziel sind, aber z.B. China direkt da kaum etwas macht und Putin-Russland (mit Macht in zu wenigen und auch noch falschen autoritären Händen statt Demokratie) durch seinen Krieg uns vor große Probleme stellt (hierzu z.B. die hohen Energiepreise, Inflation...), auch z.B. Ölkonzerne (und entsprechende Nationen wie Katar) vor allem auf ihren Reichtum achten.
Der Einzelne kann gegen diese Macht kaum etwas bewirken, wie man an der verzweifelten Entstehung der "letzten Generation" sieht.
Hallo Burkart
Unser zentrales Problem lässt sich nicht bekämpfen. >Kämpfen< ist zentraler Wesensteil unseres Problems.
Wie meinst du das? Willst du jegliches Kämpfen verhindern? Kampf (im weitesten Sinne) entsteht doch einfach durch unsere sich aneinander reibenden Bedürfnisse. Letztlich ist doch das ganze Leben irgendwie ein Kampf ;)



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ahasver
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Sa 3. Dez 2022, 13:05

Burkart hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 12:44
Letztlich ist doch das ganze Leben irgendwie ein Kampf ;)
Burkart ist es hiermit gelungen das große, komplexe Problem der Menschheit in einem Satz zu formulieren. Solange wir noch diesem Glauben anhängen, wird das Unheil weiter wachsen. Exponentiell.
Wir Anhänger dieses Glaubens sind verwilderte, verrohte Indigene.

Das Leben ist kein Kampf. Leben heißt nicht kämpfen.

Stattdessen:

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

von Eichendorff



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Burkart
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Sa 3. Dez 2022, 13:24

ahasver hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 13:05
Burkart hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 12:44
Letztlich ist doch das ganze Leben irgendwie ein Kampf ;)
Burkart ist es hiermit gelungen das große, komplexe Problem der Menschheit in einem Satz zu formulieren. Solange wir noch diesem Glauben anhängen, wird das Unheil weiter wachsen. Exponentiell.
Wir Anhänger dieses Glaubens sind verwilderte, verrohte Indigene.

Das Leben ist kein Kampf. Leben heißt nicht kämpfen.

Stattdessen:

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

von Eichendorff
Schön wäre es ja, aber das ist leider nur ein Traum.
Was sagst du denn dazu, dass Konflikte doch durch unsere sich aneinander reibenden Bedürfnisse entstehen?



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Jörn Budesheim
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Sa 3. Dez 2022, 14:04

Das es Konflikte gibt, bedeutet doch nicht, dass das Leben Kampf ist.




ahasver
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Sa 3. Dez 2022, 14:49

Mit der Sesshaftwerdung der Jäger und Sammler begann eine Bewegung, die ich Gegenindigenialität nennen werde. Die Bibel berichtet davon als Vertreibung aus dem Paradies.
Homo hatte die Arbeit erfunden. Im Schweiße seines Angesichts muss er seither sein Brot verdienen. Kurz darauf erfand er die Religion.
Es dauerte noch ein paar Jahrtausende, und er erfand auch noch das Denken und nannte es Philosophie. Der unheilvolle Cocktail war gemixt. Das Verhängniss nahm seinen Lauf. Aus dem ersten Rinnsal wurde ein reißender Strom, der auf seinem Weg ins Meer immer reißender wurde. Heute hat er das Meer fast erreicht und nichts wird ihn mehr aufhalten.



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Jörn Budesheim
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Sa 3. Dez 2022, 16:02

Mir ist bei diesen Texten unklar, ob du gerade zitierst oder selbst schreibst.




Burkart
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Sa 3. Dez 2022, 16:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 14:04
Das es Konflikte gibt, bedeutet doch nicht, dass das Leben Kampf ist.
Nicht unbedingt... hm, aber es gibt ja genug Machtkämpfe, z.B. zwischen Parteien (ob politische oder gewerkschaftliche (gegen Arbeitgeber) oder gar einfach Nachbarn)... und dann sogar noch die ganz fiesen Schachmannschaftskämpfe :mrgreen:



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Sa 3. Dez 2022, 16:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 16:02
Mir ist bei diesen Texten unklar, ob du gerade zitierst oder selbst schreibst.
By the way, und mir ist nicht klar, ob ahasver nur von den guten alten Zeiten träumt und vielleicht beneidet - oder ob er irgendwas ändern will.



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Sa 3. Dez 2022, 16:56

Burkart hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 16:06
By the way, und mir ist nicht klar, ob ahasver nur von den guten alten Zeiten träumt und vielleicht beneidet - oder ob er irgendwas ändern will.
Er will verstehen.
Er muss sein Leben ändern. Und nicht mal das hat er in der Hand.
Nur noch ein Gott kann uns retten. :mrgreen: Darüber wird noch zu reden sein. Fürchte ich.



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Nick Nickless
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Di 6. Dez 2022, 15:53

ahasver hat geschrieben :
Sa 3. Dez 2022, 16:56
Er will verstehen.
Er muss sein Leben ändern. Und nicht mal das hat er in der Hand.
Nur noch ein Gott kann uns retten. :mrgreen: Darüber wird noch zu reden sein. Fürchte ich.
Ist doch nicht so schwer zu verstehen, wenn man einmal zum Zweifel an beiden Seiten gekommen ist, das ist doch schon die halbe Miete; muss man nur noch zusammenbringen. - Die Indigenität selbst weiß nichts von einem Gegensatz von Indigenität und Gegenindigenität; er ist ihr völlig fremd, sie kennt und versteht ihn erst, wenn sie keine mehr ist, wenn sie die Unschuld, wie es notwendig ist, verlassen und vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, also der Entzweiung und Entfremdung der Reflexion, gegessen hat. Denn dieser Gegensatz Ind./Gegenind. ist nichts als eine Ausgeburt der Gegenindigenität selbst, die ihrer Natur nach immer in zwei sich gegenseitig hassenden Gestalten auftritt: Aufklärung und Gegenaufklärung, Sündenfall und Zurück zur Natur!, erste und zweite Reflexion, Refl. in sich und Refl. in anderes, oder auch Faust und Mephisto, wenn wir gerade bei Goethe sind. Überhaupt ist die Reflexion nur die Kreisbewegung vom einen durch das andere zu sich zurück; sich wechselseitig voraussetzend, affirmierend UND abstoßend, auflösend, vernichtend. Die Reflexion kehrt in sich zurück, indem sie sich von sich abstößt; oder sie ist die Bewegung von Nichts (das negierte Sein, erste Refl.) zu Nichts (die negierte Reflexion) und dadurch zu sich zurück.

Weil dies aber eben die DNA der Gegenwart ist, weil diese Bewegung gewissermaßen auf der Straße tanzt und mit Händen zu greifen ist, deshalb will das alles niemand hören, und daher auch nichts von dem Lied, der Idee oder dem Gott, der in den Dingen schläft, denn zu dem kommt man nur, indem man diese Bewegung aufmerksam und geduldig zu Ende denkt, den Austausch der Bestimmungen von Positiv und Negativ, usw.; anstatt sie ratzfatz durch abstrakte Negation, durch die bloße Umkehr der Bestimmungen, nur einfach zu vollziehen. Man will dann nur in Ruhe seinen Kampf führen, einen Kampf, der sich als der der Indigenität gegen die Gegenindigenität oder der Vernunft gegen die Widervernunft oder des Vorwärts gegen das Zurück (und umgekehrt) drapiert - die Worte wechseln ja fast täglich -, der sich aber immer nur mit sich selbst herumtreibt, mit sich als der absoluten, sich nur auf sich selbst beziehenden Negativität. So wie Nietzsche diesen Kampf in sich selbst ausgetragen hat, mit höchstem Bewusstsein sogar, ohne ihn doch verstehen zu können, weil er es immer ein wenig zu eilig hatte mit der Pointe. Und solange in diesem Selbst alle Dinge so fest schlafen, wie sie nur können, bis sie dereinst einmal durch ihren Widerspruch zugrunde, also in ihren Grund und Abgrund (eben jenes Lied, das alles begründet) gehen, - solange bleibt unsereinem halt nur, angenehme Träume zu wünschen - vom indigenen Sein, das kein Schein ist (Romantiker nennen es ja konkreter und heimeliger Lebenswelt, Paradies, Naivität etc.), und von der alleszermalmenden Reflexion, der negativ-freien leistungsstarken Subjektivität, als dem neuen fundamentum inconcussum, so sonnenklar und fest wie einstmals nur das Sein.




ahasver
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Mi 7. Dez 2022, 10:09

Andreas Weber schreibt auf S. 8 seines Büchleins INDIGENIALITÄT:
Heute stehen die Axiome der abendländischen Kultur zur Verhandlung.
Nichts Geringeres habe ich hier vor, wohl wissend, dass ich der Größe des Themas nicht gewachsen bin.

Der Einfachheit halber könnten wir ganz banal mit dem nicht vorhandenen, bundesdeutschen Tempolimit anfangen. Freie Fahrt für freie Bürger. Warum meinen wir durch die Welt rasen zu müssen? Warum gilt ein Auto (und sogar ein Motorrad!!) mit weniger als 100 PS als untermotorisiert?

Unser Lebensmotto: Durch die Welt rasen.

Faust zu Mephisto:
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!



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ahasver
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Do 8. Dez 2022, 17:50

Heute stehen die Axiome der abendländischen Kultur zur Verhandlung.
1. Axiom

Die Welt ist Rohstoff. Die Welt ist so gut wie tot. Materie an sich ist tot. Und selbst die allermeisten Lebensformen sind sich ihrer selbst unbewußt oder -zB nach Descartes- rein mechanistische gefühllose Gebilde.

Mensch und "Umwelt" stehen sich feindlich gegenüber. Die Natur muss benutzt, ausgebeutet werden, damit Kultur entstehen kann. Nackte Natur bedeutet nichts, hat uns nichts zu sagen. Wir stehen einer fremden, gefährlichen in weiten Teilen unverstandenen toten Welt gegenüber.
Umweltschutz ist Menschenschutz. Umweltschutz ist aus Nützlichkeitserwägungen erforderlich.

Physik ist die Wissenschaft von den toten Dingen.

Es gibt Naturgesetze. Die toten Dinge -und alles besteht aus toten Dingen, letzten Endes sogar der Mensch selbst- gehorchen blind diesen diktatorischen, absoluten Gesetzen.

Im Prinzip gibt es keine Freiheit. Nicht einmal die Gedanken sind frei, wollen uns die Herren Neurologen weismachen.

Wir sind in diese Welt geworfen. Eben erst geboren sind wir schon so gut wie tot. Dem blinden Schicksal zum Fraß vorgeworfen. Wir müssen um unser bißchen Überleben kämpfen, den Kampf ums Dasein.

Letzteres führt schon zum


2. Axiom

Homo homini lupus



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Nick Nickless
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Sa 10. Dez 2022, 11:25

Nein, der Einfachheit halber können wir nicht mit dem Tempolimit, also dem Pseudo-Konkreten, anfangen, auch nicht mit der Psychologie, der Natur als Organismus oder dem pragmatischen Handeln usw., sondern nur mit dem einfachen Gedanken. Das Konkrete ist »zusammengewachsen« aus tausend Einzelbestimmungen, die man jede in tausend Richtungen verfolgen kann, mit Tausenden von Implikationen, das Notwendige vermengt mit Zufälligem, Zeitlichem, Lokalem, Belanglosem. Man braucht nur in jedes x-beliebige Forum in der Weite des Internets zu blicken, dann sieht man, was bei solcher Einfachheit herauskommt; und selbst wenn am Ende der einfache Gedanke sich dann doch durchsetzt, in Gestalt des Hasses nämlich, dann eben nur als ganz unverstandenes Gefühl, als in sich verschlossenes Inneres. So wird man die »Axiome« garantiert nicht zu sehen bekommen, sondern den Wald vor lauter Bäumen nicht. Wenn es anders wäre, bräuchte es keine Dichter und Denker, - was aber bleibet, stiften die Dichter. Deswegen fängt auch kein Goethe und kein Eichendorff mit solcherart Konkretem an. Es ist zwar gewisses Problem, vom Pseudo-Konkreten, das nicht durch das Lied zum einheitlichen Ganzen geeint ist, zum Gedanken oder zur Kunst zu kommen, weil der Weg zum Gedanken, zur Philosophie nicht selbst wirklich Philosophie sein kann, und man die klaren Gedanken nicht versteht, wenn man selbst keine hat; der junge Hegel hat sich da wohl ein wenig in die Tasche gelogen mit seiner Leiter, seinem Königsweg, steiniger als alles andere. Aber man fängt ja nicht auf der grünen Wiese an.

Axiome sind übrigens Setzungen, aus pragmatischen, ästhetischen oder welchen Gründen auch immer, vielleicht auch bloße Willkür, so wie die Werte, Regeln und dergleichen; man hat die abendländische Kultur damit bereits in Reflexionsdenken übersetzt. Der Herr Weber scheint ja ein Spezialist für diese Aufgabe zu sein, als ob man diese nicht getrost Netflix & Co. überlassen könnte. Weiter oben hat er dasselbe ja mit dem kategorischen Imperativ gemacht, auf dass ihn ja auch jeder verstehen möge. Bei Kant gibt es bereits drei Formulierungen, die stärkste ist wohl die mit dem Selbstzweck und der Menschheit in der eigenen Person, dem existierenden Allgemeinen. A. Weber freilich entsorgt die eigentliche abendländische Tiefe, die Entelechie, das Allgemeine, das im Einzelnen gegenwärtig ist, im Individuum, das »unteilbar«, eben wahrhaft konkret nur durch das Allgemeine, das Lied, das es zum Ausdruck bringt, - das alles wird entsorgt, denn man muss die Leute ja schließlich da abholen, wo sie stehen. Deshalb unterschiebt er dafür ohne Federlesens die Kategorien der Reflexion, aktiv-passiv, Teil-Ganzes, der Teil dann noch als Lebensqualität vorgestellt, als Pseudo-Unmittelbares, Handfestes, was dann ja immer nur auf das Konsumdenken, eben das Geistlose, hinausläuft. Das Ganze ist natürlich nicht im Teil, nicht so wie das Lied in den Dingen schläft, wenn auch der Teil nur Teil ist als Teil des Ganzen, im wesentlichen Verhältnis. Warum aber nun dieser aktive, qualitativ seiend vorgestellte Teil sich um das Ganze, das nicht in ihm wohnt, scheren, sich von ihm gar passiv bestimmen, Grenzen setzen lassen soll, bleibt dann das Geheimnis des Übersetzers; er hat die geistige Totalität eben nur auseinanderreflektiert. Er endet im abstrakten Moralismus, der irgendwo jenseits der Logik der Dinge und allen Inhalts haust, nämlich in der Selbstgewissheit des Teils, der Reflexion in sich selbst, der kryptogesicherten Innerlichkeit des Privaten, etc. in der man sich dann mit allen einig weiß; was aber eben nur eine leere Abstraktion ist, die alles der Willkür und der jeweiligen Durchsetzungsfähigkeit anheimstellt, - eben dem homo homini lupus, der nur noch durch den Leviathan (bitte als Axiom aufnehmen, das Rudel hat immer ein Alphatier!) zu bändigen ist.

Wenden wir uns also von den Irrlichtern weg der Welt Goethes zu, wo man gerne etwas länger verweilt. Auch Faust hat sich mit dem Konkreten, dem handfesten Sein ja lange genug abgemüht, hat den Erdgeist bemüht, um doch immer nur Spinnweben, toten Moder und Pseudo-Konkretion, also Schein, zu ernten. Er hat sich aus dem Sein herausreflektiert und ist doch klüger als alle die Laffen, Doktoren und Pfaffen, die es sich in der Reflexion und ihren eitlen Spielchen bequem gemacht haben, und die sein Anliegen durchaus nicht verstehen. Er hat nämlich verstanden, dass man sich nur aufhängen kann, wenn es bei diesem leeren Kreisen in sich selbst sein Bewenden haben sollte, worin sein naiver Famulus es sich so wohl ergehen lässt: Es möchte kein Hund mehr so länger leben. Deswegen geht er den Pakt mit Mephisto ein, dem Geist, der stets verneint, der sich auf sich beziehenden, sich selbst verneinenden Reflexion; auf der Suche nach dem Sein, dem Verweile-doch, das bereits als das geistige, das schöne Sein angedeutet ist. Er will den Weg der Reflexion zu Ende gehen, bis dahin, wo sie sich selbst aufhebt, zugrunde geht, zur geistigen Versöhnung und Konkretion wird, weil ihr Gegensatz sich ausgeglichen hat, weil sie sich wechselseitig gesetzt und aufgehoben, gefesselt haben, so wie es der Pakt ja vorsieht. Aber eben nicht, weil die erste Reflexion abstrakt negiert worden ist, überwunden durch die zweite, so wie Mephisto ihm das immer nahezubringen sucht, z. B. Grau Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum, - das Mantra aller Pseudo-Konkreten, deren Konkretes doch immer nur ein der Reflexion entsprungenes Gesetztsein ist. Faust lässt sich durchaus darauf ein, er hat ja keine Wahl, das ist der Pakt, und er hat keine höhere Weisheit im Hinterhalt, im Gegensatz zu seinen schulmeisterlichen Charakteranalytikern. Er folgt also Mephisto in Auerbachs Keller, der ersten Station. Freilich ist Faust von dieser gedankenlos-naturbelassenen grünen Lebenswelt in all ihrer indigenen Selbstverständlichkeit bloß genervt und teilnahmslos; und gerade als Mephisto so richtig auf Touren kommt (Das Volk ist frei, seht an, wie wohl’s ihm geht!), da seufzt er nur: Ich hätte Lust, jetzt abzufahren. Und auch Mephistos Antwort (Gib nur erst Acht, die Bestialität [das geistlose, bloß aus der Reflexion, der Technokratie geborene Leben] wird sich gar herrlich offenbaren) kann ihn nicht halten; denn er ist eben zu kritisch, um nicht eine taube Nuss (z. B. jenen Freiheitsbegriff, Wohlstand etc.) an seinen Früchten zu erkennen. Er wiederholt denn auch nicht einfach, wie gewöhnlich, den Kreislauf in neuer Verkleidung, indem er das Mantra von der Leere der Reflexion in sich aufs Neue sich aufsagen lässt, um sich zum Pseudo-Vitalen abzustoßen, um dann diese pure Wiederholung gar noch achselzuckend als das Leben selbst auszugeben, sondern hebt sich dieses grob-sinnliche Sein oder Leben, das bloß Begierde und Verzehren ist, mitsamt seiner Reflexion auf eine höhere, konkretere Stufe, wo die erste Stufe ja durchaus untergeordnet erhalten ist, nämlich auf die Stufe der geschlechtlichen Liebe; die freilich so, wie Faust sie im Verein mit Mephisto versteht, eine durchaus ungeistige ist, nicht das unendliche Sich-Finden-in-seinem-Anderen, und so wird er denn auch in dieser Sphäre mit mehr Teilnahme die Erfahrung des Scheiterns machen, wie auch später dann, mehr romantisch getönt, mit Helena.

(Die bloße Wiederholung ist das Problem des Verstockens in der Reflexion, in der Unmittelbarkeit der Subjektivität, des Einzelnen, Innerlichen, Privaten. Was im reinen Gedanken aber eine einfache Wiederholung ist, das wird in Raum und Zeit zur Expansion und zum Fortschritt. Es gibt nichts Langweiligeres als eine Beförderungsfeier unter Erfolgsmenschen, weil die Reflexion, das sich von sich Abstoßen, zum Sein stillgestellt ist, man ist angekommen, alle Dynamik ist erstorben. Dieses Sein dementiert sich dadurch aber gleich, stößt sich wieder von sich ab, es muss dieselbe Bewegung wiederholt werden; nun aber zur nächsthöhren Stufe, denn das Ergebnis des ersten Laufs ist ja noch vorhanden, kann also nur Expansion bedeuten, sonst wäre es eben nicht das Gleiche, nicht die gleiche Anspannung, keine wirkliche Aktivität. So wie Apple als Multi-Mega-Unternehmen heute genau dieselbe Bewegung vollziehen muss, wie damals als kleine Klitsche, nur in größerem Maßstab. Denn die Reflexion ist das aufgehobene Maß, sie ist maßlos, durch kein Seiendes, keine Qualität oder Quantität, zu begrenzen. Der Gegensatz von Sein und Reflexion ist nicht aufgelöst, sondern entfaltet sich in die schlechte Unendlichkeit, das Immer-Weiter, hinaus. Das liegt aber so tief, dass keine Politik da jemals drankommt.)

Weil das Ziel nicht erreicht ist, hat Goethe ja den zweiten Teil des Faust geschrieben, den man sich für gewöhnlich schenkt, weil ja doch immer nur die gleiche unersättliche Gier durchgehechelt wird, zumal der Dichter sich auch in seltsame Welten begibt. Die Auflösung ist dann natürlich erst recht schwer zu verstehen, zumal Goethe wohl auch etwas die Puste ausgeht am Schluss; er muss zu den Formen der überlieferten Religion greifen, die er ja ansonsten nicht so sehr geschätzt hat, vielleicht hätte aber alles andere die Form der Tragödie überfordert. Man kann es deswegen natürlich alles auch anders interpretieren, in dem Sinne nämlich, dass Faust letztlich innerhalb der Reflexion stehen bleibt, eben nur von seiner Negation, der zweiten Reflexion, also Mephisto endlicherweise überwunden wird, was aber den Kreislauf der Reflexion nicht beendet, sondern das Streben, in der schlechten Unendlichkeit, die nur immer die Bestimmungen der Reflexion abwechselt, Sein, Reflexion also Darüberhinausgehen, Aufheben derselben, Sein, das doch bloß Gesetztsein ist, also Reflexion usw. Das ist dann Faust in die Reflexion übersetzt, sein Tod nur etwas Äußerliches, die Erlösungsszene wird zum sentimentalen Schmarn oder zum Hohn auf das Frauenrecht.

Aber für eine solche Übersetzung ins Reflektiert-Faustische braucht es die Indigenialität eines Spinnewebers nun allerdings in keiner Weise, um es gleich zu sagen. Das hat nämlich Oswald Spengler mit seiner Lehre von dem Aktiv-Faustisch-Unendlichen als dem Axiom der abendländischen Welt, das er dann auch im gotischen Dom erkannt hat, bereits vor hundert Jahren in unüberbietbarer Weise geleistet; und Heerscharen von Regisseuren, Germanisten und Feuilletonisten haben es ihm seitdem nachgebetet. Die haben natürlich kritischerweise alle rein gar nichts mit dem Untergang des Abendlands im Sinn gehabt, sondern flechten vielmehr dem Olympier bis auf den heutigen Tag nur Kränze, ob seiner weihevollen Enthüllung abendländisch-faustischen Wesens, also des Willens zur Macht, alles aber ganz in der Nachfolge Spenglers; und natürlich Nietzsches. Wobei dieser Miterbe des Großen Einzelgängers dann jedoch die Größe besaß, es einfach dabei zu belassen, nicht noch einen seichten Moralismus hinterherzusetzen, auch aus seinem Vitalismus/Irrationalismus und der dazugehörigen Geistfeindlichkeit keinen Hehl zu machen, was ihm aber wohl auch erlaubt hat, mit einem etwas freieren und unbefangeneren Blick auf die Unterschiede der Geschichte zu blicken; verglichen mit Adorno, der irgendwie immer in die gleiche Kerbe haut, von Odysseus bis zu Heidegger und dem Faschismus; alles nur, um - statt in logischer Konsequenz den Cäsarismus als letztes Stadium der abendländischen Welt (im 21./22. Jhdt.) zu prophezeien - lieber vom »geheimen Sinn im kantischen Vernunftbegriff« zu raunen, den der tief blickende Vordenker der Aufklärung natürlich seinem Dunkel nicht entreißen mochte, wofür ihn seine Studenten dann aber geliebt haben. Habermas hat es ihm dann gedankt, indem er den kritischen Stachel endgültig entmannt, die Fassade wissenschaftlich grundsaniert und von allen Geheimnissen fachmännisch entkernt hat. Spengler hat man natürlich verdammt; mitsamt der philosophisch-religiös-künstlerischen Offenbarung des Geheimnisses, soweit man sie nicht auf ein museales Podest gestellt hat, - um auf diese Weise die Blindheit und Barbarei als Resultat der Aufklärung, die der Meister selbst verkündet hatte, denn auch wirklich zu vollziehen.

Man muss verstehen, dass das faustisch-moderne »Lebensmotto« eine Verkürzung des eigentlichen Textes der abendländischen Kultur ist, eine Verkürzung, die sich dieser (als einer bloß passiven, hingebungsvollen Weltfremdheit oder Lüge) selbst aktiv-faustisch-unendlich entgegensetzt, gegen sie - als Einheit von Ost und West (west-östlicher Diwan), AT/NT, Substanz und Subjekt buchstabiert - sogar in gewisser Weise Krieg führt. Aber all dies ist dann eben doch im Urtext selbst angelegt, es ist im Grunde dieser selbst, wie dies ja auch die nicht ohne Grund so martialisch angelegte Gretchengeschichte zeigt. Denn die Wahrheit des Abendlandes ist der lebendige, seiner selbst bewusste Geist, die Einheit von Gott und Mensch, von Sein und Reflexion, und dies eben NUR und ausschließlich im Durchgang durch die Reflexion, also durch die Entzweiung in Lupus und Leviathan, durch die Kreuzigung aller Wahrheit zwischen den Polen einer heuchlerischen Indigenität (Pharisäismus) und einer nihilistisch-zivilisierten Gegenindigenität (die Pole, die heute in der kath. Kirche miteinander kämpfen, natürlich alle unter dem faustisch-adventlichen Panier: Fürchte dich nicht!), durch alle Blindheit hindurch, sei die des Ödipus (der das Rätsel des Orients gelöst, sich davon zu sich selbst abgestoßen hatte: Es ist der seiner selbst bewusste Mensch) oder die Fausts (als er sich am Ende zur absoluten Praxis wendet), eben die Tragödie des Gnṓthi seautón. Dies ist das Lied, das in allen Dingen schläft, natürlich beliebig zu konkretisieren, heute nicht anders denn gestern oder morgen, im Geistigen nicht mehr oder weniger als in der Natur; sofern man sie nur eben mit den Augen des Geistes betrachtet, nicht mit dem banausischen Tunnelblick des Praktikers, den a priori nur Werkzeuge, also Mechanismen, streng reproduzierbare Effekte interessieren, und diese auch nur ganz begrifflos, weil sonst die Rechenmaschinen (eben die künstlich darauf bornierte Intelligenz) überfordert wären. Zu Zeiten war das Lied ja durchaus allen bekannt, gerade auch den Armen im Geiste, zur Orientierung im Alltag, bei allen Dingen, heute ist es eben eine esoterische Geheimlehre und das Gespött der Landsknechte und thrakischen Mägde dieser Welt; wovon das Lied ja eben handelt. Es wird von daher auch gar nicht die abendländische Kultur selbst verhandelt, die kaum mehr einer auf dem Schirm hat, außer ein paar Spenglern, Wagnern und Webern, die so gerne etwas ganz Modernes daraus klöppeln wollen. Sondern es geht um die Selbstgewissheit der Moderne selbst, um ihr »Einstmals war alle Welt irre, spricht der letzte Mensch und blinzelt« (Nietzsche), das In-sich-Verstocktsein in der Reflexion, das sich als Wokeness, Wiedererweckung, Great-again, Power-Kraft-Drüberhinaussein in allen Spielarten feiert, also um das, was dem heutigen Menschen richtig wehtut, wenn er es denn aufgeben oder auch nur zum Moment des Geistes relativieren (»in Fesseln schlagen«) lassen müsste; und deshalb schlägt dann doch lieber den Sack als den Esel ....




Groot
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Sa 10. Dez 2022, 12:48

Meine Hochachtung für diese komprimierte Geballtheit kritischen Denkens und sozialontologischen Scharfsinns! Unglaublich schön geschrieben und im Scharfsinn die Ästhetik wiedergefunden, nachdem sie einst scheinbar verloren ward @Nick

Was meint AT/NT?
Zuletzt geändert von Groot am Sa 10. Dez 2022, 13:39, insgesamt 1-mal geändert.




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