Indigenialität

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
Timberlake
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Di 13. Dez 2022, 16:00

ahasver hat geschrieben :
So 11. Dez 2022, 09:47
Timberlake hat geschrieben :
Sa 10. Dez 2022, 16:42
... sich als aktiven Teil eines sinnvollen Ganzen zu verstehen und so zu handeln, dass die eigene Lebensqualität die des Ganzen steigert , würde ich gemessen an der Wirklichkeit des Ganzen , bestenfalls als eine Setzung aus ästhetischen Grund verstehen wollen.
Timberlake, was meinst du mit der "Wirklichkeit des Ganzen"?
"Ganz" einfach , wie von dir hier richtigerweise selbst erkannt Das Anthropozähn. ....

ahasver hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 12:55


Es ist noch nicht lange her, da begann im paradiesischen Afrika in der damals völlig unbedeutenden Gattung Homo neuronales Gewebe oberhalb des Stammhirns zu wuchern. Diese Wucherung führte zu einer weltweiten, ungebremsten Verbreitung der Gattung, die sich selbst wenig später "Homo sapiens" nannte und erweist sich derzeit als lebensbedrohlich für die Art selbst, aber auch für die gesamte Biosphäre des Planeten Erde.


Was tun im Angesicht globaler Zerstörung des Lebens durch eben diese Vernunft?

Übrigens passt diese globaler Zerstörung des Lebens durch eben diese Vernunft , wie der Punkt auf dem i zu Nietzsches Konzept der Umwertung aller Werte ..
  • Umwertung aller Werte
    „Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! — Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, — Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. — Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen.“
    Friedrich Nietzsche .. Jenseits von Gut und Böse
.. wäre es doch tatsächlich so , dass was den Wert jener guten und verehrten Dinge .. der Vernunft ! .. ausmacht, mit der globaler Zerstörung des Lebens! ... auf das Schlimmste und Entgegengesetzte verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein - Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe mit dir einen solchen neuen Philosophen , des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande heraufkommen. ;)




Timberlake
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Di 13. Dez 2022, 16:43

Nick Nickless hat geschrieben :
Fr 2. Dez 2022, 22:59
Man sollte Aufklärung nicht mit Vernunft, und Rationalität nicht mit Zweckrationalität, die freie Vernunft nicht mit der dienenden, banausischen verwechseln. Sonst hält man nur das Sieb unter, während die anderen den Bock melken. Aufklärung ist die populäre Gestalt der Reflexion, letztlich verabsolutierte Reflexion ins Ich, Irrationalismus. Damit einher geht dann die Verabsolutierung der Kategorie des Mechanik, eben das rein Innerliche ins rein Äußerliche gewendet, die Beziehung ist dann das Instrumentelle. Damit ist dann alle Vernunft platt. Irgendwann wird man es wieder verstehen.

Adorno und sein Mentor, Nietzsche, zeichnen sich eben dadurch aus, dass sie das Problem der verabsolutierten Reflexion, nämlich den Nihilismus, zwar gesehen, aber keine Antwort darauf gefunden haben. Adorno hat sich ins Obskure zurückgezogen, um der auflösenden Reflexion zu entgehen, und dabei kräftig weiter ins Horn der Reflexion geblasen, und Nietzsche, nun ja, der hat mehr Antworten gegeben, als mein Hund Flöhe hat, eine davon hat Adorno nachgebetet ...
Mit der Umwertung aller Werte und darunter die Vernunft so hat Nietzsche .. wie von mir hier beschrieben .. m.E. sehr wohl eine Antwort auf den Nihilismus, gefunden. Um diese Antwort auch zu finden muss man allerdings .. so Nietzsche . ich zitiere .. "ein neuer Philosoph , des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande" sein. Es reicht also völlig aus , wenn einer dieser Flöhe deines Hundes , dir die Umwertung aller Werte in dein Ohr setzt.




Groot
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Di 13. Dez 2022, 17:03

ahasver hat geschrieben :
Mo 12. Dez 2022, 09:11

Ganz anders siehts aus, wenn wir die ersten Töpfer (homo sapiens, 2 Millionen Jahre später) betrachten. Aus amorphem Lehm (Ton) formen sie Töpfe. Durch Brennen verwandeln sie den Lehm, die amorphe, formbare Materie in feste, geformte Materie.

Bis zu Aristoteles ist es jetzt nur noch ein klitzekleiner Schritt für die Menschheit.
hier schaust du als Beobachter von Außen (min. Beob. 2 Ordnung), statt von innen. Quasi nicht von der Gegenwart in die Vergangenheit: "Aha, wie weit sehe ich?" Sondern "Aha, es gab den Urknall vor der neolithischen Revolution" und dann schaust du quasi vom Urknall oder einer überzeitlichen Perspektive auf den Sprung von Homo Habilis auf Homo Sapiens. Aber m.e. muss man eben schauen von innen bis hin zu der Grenze, an der aus Homo Sapiens der Homo Habilis wird.




Groot
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Di 13. Dez 2022, 17:12

Mich wundert, dass man nicht von >Lehm< ausging.
Ja, 5 Elemente wären sinnvoller, wie in China, wo das Metall noch hinzukommt und damit in den 5 Elementen nicht nur Natur, sondern auch der Mensch in seiner Zivilisiertheit und Technik erscheint.




Timberlake
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Di 13. Dez 2022, 17:46

Groot hat geschrieben :
Di 13. Dez 2022, 17:12
Mich wundert, dass man nicht von >Lehm< ausging.
Ja, 5 Elemente wären sinnvoller, wie in China, wo das Metall noch hinzukommt und damit in den 5 Elementen nicht nur Natur, sondern auch der Mensch in seiner Zivilisiertheit und Technik erscheint.
.. würdest du denn sagen , dass du mit diesem Beitrag zu jenen neuen Philosophen gehörst , von denen .. lt Nietzsche! .. in meinen letzten beiden Beiträgen die Rede war? Oder anders gefagt , sollte man nicht auch der Zivilisiertheit einer "Umwertung" unterziehen ?




Groot
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Di 13. Dez 2022, 23:45

Ja, absolut. Man sollte die Zivilisation zum Begriff machen, man sollte die Werte des Subjektiven überdenken. Ebenso wie die 5 Elemente, wäre das ein Anteil daran, diese Umwertung zu einem Erfolg zu bringen.




ahasver
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Mi 14. Dez 2022, 08:54

Timberlake hat geschrieben :
Di 13. Dez 2022, 17:46
Oder anders gefagt , sollte man nicht auch der Zivilisiertheit einer "Umwertung" unterziehen ?
Wer ist "man"?

So wie ich diesen kryptischen Satz verstehe klingt er schrecklich und nicht akzeptabel. Wahrscheinlich habe ich ihn aber einfach nur falsch verstanden. Bitte Timberlake, klär uns mal auf.



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

ahasver
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Mi 14. Dez 2022, 09:13

Groot hat geschrieben :
Di 13. Dez 2022, 23:45
Ja, absolut. Man sollte die Zivilisation zum Begriff machen, man sollte die Werte des Subjektiven überdenken.
Das klingt schon besser. Aber auch hier stellt sich natürlich die Frage nach dem "man". Wer sollte die >Zivilisation< zum Begriff machen? Und was soll das heißen? Etwa dass wir hier im Forum über >Zivilisation< nachdenken wollen? Dieses öffentliche Nachdenken in einem Forum wäre dann ein Element von >Zivilisation<, wäre selbst ein Ausdruck von >Zivilisation, die Realisierung einer ihrer Möglichkeiten. Ist das gut so?
Das führt dann sogleich zu einer kleinen Nebenfrage: Macht das Internet und ganz speziell dieses Forum uns zu "besseren" Philosophen? gar zu besseren Menschen?

Und das führt uns dann zu einem der Schwerpunkte dieses Threads: Haben Philosophen der Menschheit gut getan?

Dieses Thema aufgreifend könnten wir beim aktuellen Thema des Threads, der Materie, anknüpfen. Beginnen wir mit den Vorsokratikern. Wo kommen die her? Wie kamen sie auf die verrückte Idee zu philosophieren? Und was ist das "Philosophieren" überhaupt? Hat vor den Vorsokratikern noch keiner philosophiert? Hat >philosophieren< nicht eine Geschichte, in der das, was die Vorsokratiker taten, kaum noch Gemeinsamkeiten aufweist mit dem, was man in der Postmoderne Philosophie nennt?



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Groot
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Do 15. Dez 2022, 14:48

Nun, wir. Statt von biologisch unterfütterter Menschheit, wäre es sinnvoll auch die soziokulturell unterfütterte Zivilisation zu einem Begriff zu machen. (u.a. als Substitut für den Wegfall des Begriffes der Ekklesia)

Das soll heißen, dass die Zivilisation irgendwie in das philosophische System integriert werden muss. Und anders: Ich gehe immer davon aus, dass es wir als Zivilisation sind, die Physik erkennen. Der Einzelne löst sich auf in der Genetik - dabei entsteht anthropologisch-biologische Menschheit und soziokulturell-theologische Zivilisation.

Wie folgt die Nebenfrage hieraus?

Ich denke, Philosophen bringen neue Wege, ohne die der Mensch sein geistiges Potential nicht gänzlich entfalten könnte.




Timberlake
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Fr 16. Dez 2022, 23:16

ahasver hat geschrieben :
Mi 14. Dez 2022, 08:54
Timberlake hat geschrieben :
Di 13. Dez 2022, 17:46
Oder anders gefagt , sollte man nicht auch der Zivilisiertheit einer "Umwertung" unterziehen ?
Wer ist "man"?

So wie ich diesen kryptischen Satz verstehe klingt er schrecklich und nicht akzeptabel. Wahrscheinlich habe ich ihn aber einfach nur falsch verstanden. Bitte Timberlake, klär uns mal auf.
Wenn "man" denn Nietzsche glauben schenken darf , ist "man" eine neuen Gattung von Philosophen,die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben , als die bisherigen. Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande ...
  • Umwertung aller Werte
    „Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! — Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, — Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. — Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen.“
    Friedrich Nietzsche .. Jenseits von Gut und Böse
Wohin hat uns denn die Zivilisierheit geführt ? Wäre es nicht tatsächglich möglich , dass was den Werth dieses guten und verehrten Dinges ausmacht, gerade darin besteht , mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein?

Dazu nur mal zur Erinnerung ..
ahasver hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 12:55
Es ist noch nicht lange her, da begann im paradiesischen Afrika in der damals völlig unbedeutenden Gattung Homo neuronales Gewebe oberhalb des Stammhirns zu wuchern. Diese Wucherung führte zu einer weltweiten, ungebremsten Verbreitung der Gattung, die sich selbst wenig später "Homo sapiens" nannte und erweist sich derzeit als lebensbedrohlich für die Art selbst, aber auch für die gesamte Biosphäre des Planeten Erde.




Groot
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Sa 17. Dez 2022, 16:01

Wohin hat uns denn die Zivilisierheit geführt ? Wäre es nicht tatsächglich möglich , dass was den Werth dieses guten und verehrten Dinges ausmacht, gerade darin besteht , mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein?
Sind nicht die Philosophen mit dem neuen Geschmack die Franzosen und ihr Postmodernismus? Die, die wie die Heroen sich dem Bösen entgegenstellen - und nicht Flüchten ins Reich des Äthers, ins Jenseits des Guten und des Bösen.

Zu deiner Frage. Ich denke nicht, dass dem so ist; zumindest nicht in der ideell fundierten Faktizität. Sicher mögen die Prinzipien der Moral die Kraft sein, die stets das Gute will und böses tut. Damit wirkt sie natürlich ähnlich wie das Gelde; aus dem heraus sich die Moralität überhaupt erst so empören und aufgebaren muss. Aber sowohl Geld, als auch Moral sind nicht an die Sittlichkeit und den Zustandes der Rechtmäßigkeit gebunden.
Darum ist die Sitte etwas genuin anderes, das mindestens die erfragte Wesensgleichheit negieren müsste.




ahasver
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Sa 17. Dez 2022, 19:01

Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.
Ohne Nietzsche gelesen zu haben, hätten Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung gar nicht oder doch ganz anders geschrieben.



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Timberlake
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Sa 17. Dez 2022, 23:29

ahasver hat geschrieben :
Sa 17. Dez 2022, 19:01
Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.
Ohne Nietzsche gelesen zu haben, hätten Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung gar nicht oder doch ganz anders geschrieben.
Weil es durchaus auch von Nietzsche stammen könnte, ist mir daraus übrigens folgendes Zitat besonders in Erinnerung geblieben ..

"Der Widersinn der Herrschaft ist heute fürs gesunde Bewußtsein so einfach zu durchschauen, daß sie des kranken Bewußtseins bedarf, um sich am Leben
zu erhalten" .




Nick Nickless
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So 18. Dez 2022, 11:43

Groot, Burkhart, ja, soll natürlich Altes / Neues Testament heißen. Auf der einen Seite der orientalische, mehr (Fernost) oder weniger (Nahost) subjektlose Gott, die Substanz, die alles in sich zieht, die alle Reflexion ganz unmittelbar wegreflektiert, im Nirwana versenkt, sie nicht freilässt, im Namen der Autorität von Tradition, Ahnen, Gemeinschaft, Familienpietät, Sitte, im Sein - so ist es eben und wird immer so sein, Statik. Und auf der anderen Seite die Öffnung zur menschlichen Subjektivität, zur Negation des Göttlichen hin, die aber doch wieder zur Substanz zurückkehrt; als dynamische Einheit von Freiheit und Sittlichkeit, Gott und Mensch, die dann freilich zu Zeiten oder phasenweise sich ganz in der Reflexion einhaust, im Menschlich-Allzumenschlichen, in der abstrakten Einzelheit, die alle Universalität (außer der bloß formellen, globalen) als orientalische Despotie von sich weist, sich völlig querstellt, eben sich im Wesenlosen verliert. Was dann in der Tiefe einen Gegensatz zwischen Orient und Okzident begründet, der bis auf den heutigen Tag für kriegerische Auseinandersetzungen gut ist, - oder vielleicht gerade heute, weil man früher viel mehr durch den Raum getrennt war und auch nicht derart zugespitzt gedacht hat. (Das kann man übrigens auch als die Gigantomachie der beiden Aspekte des Freiheitsbegriffs betrachten: einmal als Leben in Übereinstimmung mit dem eigenen substanziellen Wesen/Natur, der Abwesenheit von aller Fremdbestimmung, und zum zweiten dann als Leben losgelöst von allem substanziellen Wesen/Natur); denn das Wesen beharrt eben nicht an und für sich, als sich durchhaltende Substanz, deren Gestaltungsweise ihr äußerlich sind (Orient), sondern es reflektiert sich in sich nur indem es im Durchgang durch seine sich davon loslösenden Gestaltungen (Okzident), als deren Zusammenhang, mithin durch die Entzweiung von Wesen und Erscheinung hindurch, zu sich zurückfindet und auf diese Weise konkret frei, im Fremden bei sich ist.)

Groot, ich denke, man sollte sich von der Vorstellung lösen, dass die Frankfurter irgendetwas mit Kant oder Hegel am Hut gehabt hätten. Hab lange danach gesucht, in der Dial. der Aufkl., Neg. Dial., Kritik d. Instr. Vernunft, usw. - aber da ist nichts. Oder bei Marx, Marcuse, Lukacs und wie sie alle heißen, oder bei Horkheimer, der immer so standhaft nach der Vernunft gesucht hat. Nach dem Tod von Goethe und Hegel verschwindet das alles sehr, sehr schnell; Nietzsche findet noch zu ein paar genialen, wenn auch isoliert und rätselhaft bleibenden Formulierungen, Dichter, Musiker, Maler fliehen in die Romantik, Heidegger gleich in die Antike, aber danach bleibt irgendwie breitenwirksam nur noch die Fassade übrig; es triumphiert das Denken der ersten Reflexion, dann auch schnell mit der zweiten amalgamiert. Husserl kann man dafür als Paradebeispiel hernehmen: Er extrahiert ganz konsequent von Kant alles, worauf es ankommt, als mythologisches Krebsgeschwür, (eben diese wechselseitige innerliche Bestimmung von Denken und Anschauung, von Ich, Kausalität, Zeit, was bei Hegel zur Selbstbestimmung und -entfaltung des Begriffs wird) und lässt allein genau das übrig, worunter Kant diese Geheimlehre versteckt hat: die Psychologie, das Inventar, das man im »Gemüt« eben so findet, also den reinen Subjektivismus/(De-) Konstruktivismus/Tiefenpsychologie (verborgene Synthesen/Handgriffe/Motive/Interessen/Defekte/Triebe/Mächte/Neurosen), was dann als das Heil der endlich zu sich gekommenen Philosophie, als das, was Descartes, Kant und Hegel eigentlich gewollt haben, gefeiert wird, - wobei die Neuerungen dann ob ihrer Leere immer irgendeinen Dogmatismus mit sich führen, der vom nächsten natürlich gleich wieder dekonstruiert wird und niemanden von seinem ganz eigenen Dogma mehr abhält. Das argumentum ad hominem und das Geschichtenerzählen tritt wieder an die Stelle des philosophischen Begriffs, aber unter dem alten Namen. - Die christliche Religion fordert übrigens nicht die Individualität, sondern sie sagt, dass das Allgemeine an ihm selbst die Einzelheit hat, und umgekehrt, als eine dynamische Bewegung, eine konkrete, in sich differenzierte Einheit, die das Wesen aller Dinge ist. In dieser Einheit fordern dann Allgemeinheit und Einzelheit einander gegenseitig, was eben aufgegeben ist, wenn man das einzelne Atom, als für sich allein denkbar, zur Substanz erklärt, als Gegenprinzip zur allgemeinen Substanz des Orients usw. Und dann wird auch alle Forderung rätselhaft und zur fremden Anmaßung, Heteronomie. Die Religion verdeckt das zwar auch durch ihre äußerliche Form, aber sie sagt letztlich nur, dass der Mensch erst dann wirklicher Mensch, seinem Wesen entsprechend und damit selig, des Unendlichen teilhaftig, ist, wenn er diese Bewegung (vorgestellt als Leben Christi) an sich selbst zum Ausdruck bringt, sich in sie vertieft, sie nachvollzieht, Christus in sich verwirklicht, nicht in der Abstraktion der Individualität (der Pseudo-Konkretheit) - oder auch der bloß negativen Allgemeinheit (als Askese, Orient, Moralität) - stehen bleibt. Werde der, der du bist, aber eben auf die Weise, dass du dich erkennst, nicht in der kindischen Unmittelbarkeit oder ganz im zufällig-partikularen So-Sein (und dessen selbststeigernder Verwirklichung, worauf es Nietzsche reduziert) verbleibst und in deinem Trotz das Allgemeine in dir, das Kind Gottes, nicht erkennst.




ahasver
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Mo 19. Dez 2022, 14:16

Ich bin bei der Genese des Begriffs >Materie< und noch vor der Besprechung der Vorsokratiker stehen geblieben, von wo aus ich jetzt wieder Fahrt aufnehmen will. Die große Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach der Entstehung der Philosophie überhaupt. Wann, wie und warum ist die Philosophie in die Welt geschlüpft, soll untersucht werden. Ich kann euch leider keine fertigen Antworten anbieten, hoffe aber im Laufe dieses Threads Anregungen zu solchen zu bekommen. Auf die Frage nach dem Materiebegriff der Vorsokratiker sollte es allerdings möglich sein gemeinsam Antworten zu finden.

Zuvor ein Vorspiel: Ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll. Soll ich sagen der moderne Mensch hat ein ICH oder der moderne Mensch ist ein ICH oder der moderne Mensch spricht von sich selbst als ICH. Vielleicht: Der moderne Mensch empfindet sich als ein ICH. ICH und >instrumentelle Vernunft< sind miteinander verbunden. Mir drängt sich der Verdacht auf, beide sind zeitgleich miteinander entstanden. Das eine hätte ohne das andere nicht entstehen können. Drei Autoren drängen sich mir auf:
Adorno/Horkheimer und Julian Janes. Alle verweisen sie auf die Illias und Odyssee als Belegmaterial ihrer Theorien.
Die Bücher: Julian Janes; Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche
Horkheimer/Adorno; Dialektik der Aufklärung
Janes behauptet (1976) das moderne ICH sei erst vor kurzem, noch in historischen Zeiten und literarisch wohl belegt, nämlich kurz vor den Vorsokratikern entstanden. In der Illias sei von einem ICH noch nichts zu lesen, die Odyssee hingegen sei beredtes Zeugnis dessen Entstehens.
Horkheimer/Adorno meinen aus der Odyssee die Entstehung der Instrumentellen Vernunft oder des Instrumentellen Geistes herauslesen zu können.
Diese beiden Thesen will ich untersuchen.
Folgende These scheint mir vertretbar und gut zu rechtfertigen: Allerspätestens zu Zeiten der Vorsokratiker hat sich der ganzheitliche Kosmos der Indigenialität aufgespalten in ICH und Welt, in Subjekt – Objekt, in lebendige Psyche und tote Materie.



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Timberlake
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Mo 19. Dez 2022, 22:49

Nick Nickless hat geschrieben :
So 18. Dez 2022, 11:43
Werde der, der du bist, aber eben auf die Weise, dass du dich erkennst, nicht in der kindischen Unmittelbarkeit oder ganz im zufällig-partikularen So-Sein (und dessen selbststeigernder Verwirklichung, worauf es Nietzsche reduziert) verbleibst und in deinem Trotz das Allgemeine in dir, das Kind Gottes, nicht erkennst.
Nietzsche reduziert diese "So-Sein" wenn schon denn schon auf das Gewissen.
Ein Gewissen hin - und her gerissen zwischen dem , was zum Einem das Gedächtnis und zum Anderem der Stolz sagt. In dem Schlußendlich das Gedächnis nach gibt , weil der Stolz unerbittlich bleibt , so wird man der, wer man ist. Das sagt einem das Gewissen bzw. das sollte einem das Gewissen sagen.

ahasver hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 12:55


Was tun im Angesicht globaler Zerstörung des Lebens durch eben diese Vernunft?

Das diesbezüglich das Gedächtnis nachgibt , das sollte man übrigens ganz sich nicht tun .
Zuletzt geändert von Timberlake am Mo 19. Dez 2022, 23:48, insgesamt 1-mal geändert.




Timberlake
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Mo 19. Dez 2022, 23:42

ahasver hat geschrieben :
Mo 19. Dez 2022, 14:16


Zuvor ein Vorspiel: Ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll. Soll ich sagen der moderne Mensch hat ein ICH oder der moderne Mensch ist ein ICH oder der moderne Mensch spricht von sich selbst als ICH. Vielleicht: Der moderne Mensch empfindet sich als ein ICH. ICH und >instrumentelle Vernunft< sind miteinander verbunden.
Apropos "der moderne Mensch" ..
  • "Sehen wir uns ins Gesicht. Wir sind Hyperboreer – wir wissen gut genug, wie abseits wir leben. »Weder zu Lande noch zu Wasser wirst du den Weg zu den Hyperboreern finden«: das hat schon Pindar von uns gewußt. Jenseits des Nordens, des Eises, des Todes – unser Leben, unser Glück... Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? – »Ich weiß nicht aus noch ein; ich bin alles, was nicht aus noch ein weiß« – seufzt der moderne Mensch... An dieser Modernität waren wir krank – am faulen Frieden, am feigen Kompromiß, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die alles »verzeiht«, weil sie alles »begreift«, ist Schirokko für uns. Lieber im Eise leben, als unter modernen Tugenden und andern Südwinden!"
    Friedrich Nietzsche .. Der Antichrist
.. das ist , zumindest nach meinem Dafürhalten , einer der besten Beschreibungen zum modernen Menschen und vorallem eine Beschreibung , wie man sich von ihm abgrenzt.




ahasver
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Fr 23. Dez 2022, 19:39

Die Jäger und Sammler lebten in Stämmen von vielleicht 30-40 Mitgliedern. Jeder kannte jeden und war wahrscheinlich irgendwie auch mit allen verwandt. Als aber vor ungefähr 8 000 bis 10 000 Jahren die ersten Städte entstanden, entstand mit ihnen eine ganz neue Situation für die jetzt zu Stadtbewohnern gewordenen Menschen. Wenn heutzutage ein New Yorker durch Manhattan eilt, muß er hunderten andern hektisch herum rennenden New Yorkern ausweichen, die er alle nicht kennt, die er zuvor nie gesehen hat, die er nie wieder sehen wird. Ganz so krass wars vor 10 000 Jahren sicher noch nicht, aber für die hunderttausende Jahre alte Jäger- und Sammlerkultur hatte etwas Neues, etwas ganz andere Anforderungen Stellendes begonnen. Stress!
Laut Jaynes war eine Folge dieser schwierigen neuen Verhältnisse, dass die Menschen, vor ganz neue Probleme gestellt für die sie keine Lösungen kannten, jetzt Stimmen hörten, die sie für die Stimmen von Göttern hielten und die ihnen sagten was zu tun sei. Das Menschenhirn, so Jaynes, besaß zwei Sprachzentren. Das linkshemisphärische war, wie heute noch, zuständig für die Alltagssprache. Die rechte Gehirnhälfte war zuständig für die Mitteilungen der Götter. Heute hören wir nur noch in (pathologischen?) Ausnahmefällen Stimmen. Die rechte Gehirnhälfte ist jetzt zuständig für Kreativität, Musizieren, Singen…..neuartige Problemlösungen.
Dieses bikamerale Entwicklungsstadium dauerte bis etwa 1800 v. Chr. Dann verlangten neue Probleme neue Lösungen. Das Selbstbewußtsein formte sich, die Götter verstummten. Eine Zeitenwende vollzog sich. In dem damals neu entstandenen Zeitalter leben wir heute noch. Wir nennen es seit Neuestem >Anthropozän<.

Jaynes Theorie ist eine Außenseitertheorie gewesen und geblieben. Nichtsdestotrotz können wir, auch wenn sie falsch sein sollte, einiges aus ihr lernen. Dazu später mehr.



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Nick Nickless
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Mo 26. Dez 2022, 12:36

Timberlake hat geschrieben :
Mo 19. Dez 2022, 22:49
  • Was sagt dein Gewissen? – »Du sollst der werden, der du bist.«
Nietzsche reduziert diese "So-Sein" wenn schon denn schon auf das Gewissen.
Ein Gewissen hin - und her gerissen zwischen dem , was zum Einem das Gedächtnis und zum Anderem der Stolz sagt. In dem Schlußendlich das Gedächnis nach gibt , weil der Stolz unerbittlich bleibt , so wird man der, wer man ist. Das sagt einem das Gewissen bzw. das sollte einem das Gewissen sagen.
Was sagt denn der Umstand, dass das Gewissen dies sagt, darüber aus, was dies »der du bist« bedeutet? Gar nichts. Oder das nachträgliche Spielchen von Schuld und Stolz? Noch viel weniger. Nichts als ein triviales Spiel mit der Personifikation der Konkurrenz von Motiven, die jeder kennt. Das kritische Denken sagt: Es ist dürftig; die Eitelkeit des psychologischen Durchblickers sagt: Es ist groß; und schließlich gibt, wie bei allen bloß kritischen Geistern, die Kritik nach ... Man sollte gerade bei N. immer vor der glänzenden Rhetorik auf der Hut sein und nach jedem Satz fragen: Ist das denn auch wirklich so? - Man kann ja viel über Nietzsche hin und her reden, aber er war nun eben mal Nominalist und Universalienfeind von Anfang bis Ende; und das Leben existiert halt eben nur als des Lebens goldner Baum, als dieses bestimmte Lebendige, das sich vom anderen unterscheidet, das seinen eigenen Willen zur Macht hat, diesen steigern will, gegen den des anderen, im Sinne dieses bestimmten Lebendigen seine Werte setzt, dieses steigert, stolz ist usw. Anders hätte der Kampf gegen den Universalismus der Metaphysik und der Moral ja gar keinen Sinn.
Timberlake hat geschrieben :
Di 13. Dez 2022, 16:43
Mit der Umwertung aller Werte und darunter die Vernunft so hat Nietzsche .. wie von mir hier beschrieben .. m.E. sehr wohl eine Antwort auf den Nihilismus, gefunden. Um diese Antwort auch zu finden muss man allerdings .. so Nietzsche . ich zitiere .. "ein neuer Philosoph , des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande" sein. Es reicht also völlig aus , wenn einer dieser Flöhe deines Hundes , dir die Umwertung aller Werte in dein Ohr setzt.
Na, dann will ich - nur für dich - doch mal ausführlich erzählen, was dieser Floh mir nächtens ins Ohr geflüstert hat.

Der große Nietzsche ist der hier:
Wahrheit als Circe. - Der Irrtum hat aus Tieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Tier zu machen? (Oder gleich darauf: Gefahr unserer Kultur. - Wir gehören einer Zeit an, deren Kultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Kultur zugrunde zu gehen. MA II 519f., ausführlicher FW 344)

Denn da spielt N. die erste Reflexion, der Weg vom bloßen Sein/Leben zur Geistigkeit, Metaphysik, Humanität mit der zweiten, von da aus zum bloßen Leben/Sein zurück, ineinander, als ein wechselseitiges Setzen und Voraussetzen, Affirmieren und Negieren, Wahrheit und Irrtum, in ein und derselben Hinsicht. Er bezieht den Schein auf den Schein des Scheins, beides zusammen als das wahrhaft Wirkliche, und zwar ohne eine Priorität zu setzen, ohne etwas in Anführungszeichen zu setzen, weder Irrtum noch Wahrheit, ohne von Pseudokultur, Pseudohumanität zu reden, ohne gegen die Fabel die Wahrheit, also die zweite Reflexion, zu verklären. Das ist der Anfang einer wirklichen Dialektik der Aufklärung, die man bei Adorno und Horkheimer vergebens sucht, wo alles immer nur Pseudo bleibt, nur gelegentlich durch etwas Kultur und Aufklärung übertüncht, aber im Kern doch dasselbe.

Freilich weicht auch N. der Entfaltung dieser absoluten, sich auf sich beziehenden Negativität letztlich aus, wie das Fragezeichen oben schon andeutet. Er umschleicht sie nur unermüdlich, aber mit unzureichenden Mitteln. Damit fallen die beiden Halbsätze schließlich beziehungslos auseinander. Dann aber steht auf der einen Seite der schenkelklatschend dekonstruierte Irrtum, die bloße Hypostase, woran der »letzte Mensch« sich hochzieht; und auf der andern Seite die nackte Wahrheit, was dann aber hier genauer heißt: der Nihilismus, nämlich die Tödlichkeit (oder Bestialität) der Wahrheit. Dieser bzw. dem Zerfall der beiden Seiten sucht N. auszuweichen, indem er eine Vermittlung von Reflexion und Gegenreflexion in den verschiedensten Sphären versucht. In den frühen Schriften geschieht dies überwiegend dadurch, dass er ein maßvolles Gleichgewicht zwischen beiden Seiten sucht (die Wendung in die stoisch-skeptische Ataraxie; dann gut reformerisch einen kleinen Schritt zurück, vor dem nächsten vorwärts; das Verhindern der nihilistischen Konsequenz durch Einsicht; Dualismus von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, oder von Frei-Arbeit und Zwangs-Arbeit; zeitweilige, kontrollierte Rückfälle in die Barbarei, Krieg zur Abkühlung der Reflexion; die Beschränkung der historischen Reflexion). Später sind es dann eher synthetische Prinzipien, die den Knoten mehr verstecken als auflösen (der Übermensch, der wohl irgendwie eine Einheit von Romantik und Reflexion poetisch vorstellen soll; die Kunst, die sich (gar als bewusste Illusion) reflektiert ihrer Reflexion entzieht (l’art pour l’art); die Ewige Wiederkehr; Amor fati etc. pp.). Da aber eben die Reflexion sich eben doch nicht reflektiert-kontrolliert unterdrücken oder zum Werkzeug machen lässt, der Irrtum sich nicht auf irrtümliche Weise beseitigen lässt, da N. selbst spürt (Ecce Homo), dass dies alles noch haltloser Romantizismus gewesen ist, bleibt ihm am Ende nur das Durchhauen des Knotens, der Versuch einer entschlossenen Positionierung jenseits aller Reflexion, jenseits von Gut und Böse, was dann auf deren Versenkung im »Tier Mensch«, im animal irrationale, im reflexionslosen (und reflexionsfeindlichen), auf die unbefangenen Instinkte zurückgeführten Leben hinausläuft. Hegelisch ist es der Versuch, aus der gegensätzlichen Logik des Wesens oder der Reflexion in die des Seins, der Unschuld des Werdens, zu gelangen, - durch einen Ukas der Reflexion. Das ist dann der Weg, auf dem ihm so viele gefolgt sind; auch Husserl (gewissermaßen als der N. für Akademiker, die es bleiben wollen) flieht ja vor der Konsequenz seines Subjektivismus immer wieder die unbedingte Selbstverständlichkeit der von aller Reflexion unankränkelbaren Lebenswelt zurück, während der kultivierte Adorno sich an die esoterische Kunst, die Neue Musik, gehalten hat (was man immerhin noch als Platzhalter.der philosophischen Idee verstehen kann).

Das ist dann der schlechte, der späte Nietzsche, der zwar der Form nach das Ressentiment der Schlechtweggekommenen und Aufgeklärten gegen die Oberen, Siegreichen, Etablierten und den hohlen Egalitarismus der Unteren immer noch bedient, aber dem Inhalt nach dann genau das Gegenteil lehrt: das unbeschränkte Recht des Vornehmen, Starken, des Willens zur Macht und dessen Maß- und Grenzenlosigkeit, das dann, befreit von aller Tschandala-Moral, allenfalls zu einem feudalen Großmut der Freien und Mächten unter sich, ohne jedes allgemeine Gesetz, findet. Weshalb die Indigenialischen ausgerechnet in dieser Weisheit, die heute wieder im SUV durch die Straßen paradiert, das Heil der Welt suchen, mag verstehen, wer will.

Das Späte hört sich dann allerdings teilweise immer noch wie der große N. an; nur ist eben jetzt alles ganz auf das Leben bzw. den Willen hin relativiert und damit vergiftet. Z. B.: »Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen ›Selbstüberwindung‹ im Wesen des Lebens – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: ›patere legem, quam ipse tulisti.‹« (GdM III 27) Alles geht durch seine Selbstanwendung zugrunde, Christentum, Moral, Wahrheit, Gesetze, - nur eben DAS Wesen, DAS Gesetz des Lebens, DER Wille zur Macht, das neue fundamentum absolutum inconcussum, ganz ausdrücklich NICHT: »Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen.« Denn wollte N. hier mit der Selbstüberwindung ernst machen, müsste er ja damit rechnen, dass das Verabschiedete auch wieder in irgendeiner Weise auferstehen könnte. Der schlechte N. ist mithin schlechte Metaphysik, Essenzialismus, Dogmatismus, übelste Hinterweltlerei, denn die »notwendige Selbstüberwindung« wird zum bloßen Oberflächenphänomen, Vorder- und Hintergrund sind einander völlig gleichgültig. Das Wesen des Lebens, der neue summum ens Nietzsches, überwindet sich nicht, wird nicht Mensch, stirbt auch nicht und zeigt sich nur in wesenlosen, bloß verschwindenden Nichtigkeiten. Auch rein stilistisch kann man dies erkennen, indem nämlich der späte N. den Aphorismus verlässt und nunmehr dogmatische Abhandlungen wider die obigen »Irrtümer« ohne alle Pointe, also ohne alle Selbstüberwindung, schreibt. N. scheitert letztlich deshalb, weil er die logische Begrifflichkeit von Wesen, Notwendigkeit, Gesetz, Grund, Zugrundegehen, Aufhebung, in einem ganz unreflektiert-traditionellen Sinne gebraucht und sich damit seine großen Intuitionen verdirbt. Er sieht nicht, dass ein Grund immer nur begründet, indem er zugrunde geht, dass ein anderer Begriff des Grundes (der des Fundamentes), streng betrachtet, gar keinen Sinn hat, sondern eben dies die Weise ist, wie das Wesen in Erscheinung tritt, sich zeigt und existiert, und nur so nicht die tote Hinterwelt ist. Auf diese tiefste, die logisch-metaphysische Dimension der Philosophie, jenseits von Historie, Naturwiss., Psychologie und Ästhetik hat N. sich nie wirklich eingelassen, sondern sie einfach nach Gutsherrenart gehandhabt.

Dieser schlechte, scheiternde N. ist es dann auch, der sich von Heidegger zurecht sagen lassen muss, dass seine Umwertung aller Werte nicht die Überwindung, sondern bloß Vollendung und Höhepunkt des Nihilismus ist, eben weil man sich mit dem Wertdenken schon als solchem im Reich der Reflexion einschließt, sich mit bloßen Setzungen, Subjektivitäten, Überbauten, selbstgemachten Hirngespinsten, Techniken der Selbstoptimierung (die es heute im Dutzend billiger gibt), grauer Theorie eben, herumtreibt; so wie eben jene Wertungen des maßlosen Willens zur Macht gar nichts anderes sind als jene sogenannte Vernunft, die tierischer ist als jedes Tier (weil dieses sehr wohl ein Maß hat), eben nur das pragmatisch-selbstgefällige Ich in die Instinkte und DNA des Lebens projiziert, weshalb dann ja auch das Leben noch im Willen aufgeht. Heidegger hat völlig recht damit, dass eben dies Seinsvergessenheit ist, dass man in der Konsequenz der zweiten Reflexion eben auch solches Seiendes wie das Lebendige, selbst noch die Macht i. S. des mechanischen Kraftbegriffes (was bei N. anklingt), noch im Sein versenken muss. Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht ist denn so gesehen in der Tat nichts anderes als die Endstation dieses uralten Seinsgeschicks, das den abendländischen Menschen in die Subjektität (die Subjektivität als Substanz, Hypokeimenon gedacht), in die Selbstauslegung als Willen, in das Fest-Stellen der Welt, letztlich in die Technik, geschickt hat; welchen »Irrtum« man ja im heideggerschen Grunde durchaus positiv sehen muss, weil es ja das andenkende Fragen nach dem Hervortreten des Seins in die Unverborgenheit, also die Wahrheit, vorbereitet. Auf diese Weise ist dann eben wirklich jeder Anklang an Reflexion (oder Kritik) vermieden, selbst der noch im Lebendigen, ja im Seienden als solchen liegende Anklang. Damit ist auch der Nihilismus mitsamt aller Kritik und Distanzierung im Ursprünglichen, allein Echten und Gründenden, im Sein versenkt, oder die Irrfahrt der Subjektität, der Reflexion, kann so zurückkehren in ihr ursprüngliches Fragen. Der Jargon der Eigentlichkeit verbunden mit einem Overkill an vorsintflutlicher Etymologie unterdrückt so alle Entzweiung, alle Reflexion dieses Seins, jeden Anklang des Seinsgeschicks an ein zu sich Kommen des Geistes, beschränkt sich dabei auf immer nur ein und dieselbe Leier vom unvordenklichen Geschick - abgesehen von den umso ausführlicher gelichteten Holzwege der Willens-Subjektität. Und dieses »unerträglich weise Larifari« (N.) unterbietet dann auch den großen Nietzsche wieder um Längen ...




ahasver
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Mo 26. Dez 2022, 12:58

Nick Nickless hat geschrieben :
Mo 26. Dez 2022, 12:36
Das ist dann der schlechte, der späte Nietzsche, der zwar der Form nach das Ressentiment der Schlechtweggekommenen und Aufgeklärten gegen die Oberen, Siegreichen, Etablierten und den hohlen Egalitarismus der Unteren immer noch bedient, aber dem Inhalt nach dann genau das Gegenteil lehrt: das unbeschränkte Recht des Vornehmen, Starken, des Willens zur Macht und dessen Maß- und Grenzenlosigkeit, das dann, befreit von aller Tschandala-Moral, allenfalls zu einem feudalen Großmut der Freien und Mächten unter sich, ohne jedes allgemeine Gesetz, findet. Weshalb die Indigenialischen ausgerechnet in dieser Weisheit, die heute wieder im SUV durch die Straßen paradiert, das Heil der Welt suchen, mag verstehen, wer will.
Wer sollen diese "Indigenialischen" sein?



"Ich kann mich auch irren und nichts ist so sicher, als dass alles auch ganz anders ist."

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