Die Biochemie der Liebe

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Jörn P Budesheim
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Do 11. Sep 2025, 10:06

Jemand behauptet: "Liebe ist Biochemie", "Oxytocin"

Ich halte das für falsch. Dazu überblicksartig ein paar Argumente in Bezug auf Verliebtsein und Liebe – die natürlich verschieden sind, aber die Argumente gelten mutatis mutandis für beides.

Ein erster einfacher Grund: Die Struktur der Liebe bzw. des Verliebtseins ist eine andere. Liebe hat (technisch gesprochen) immer einen intentionalen "Gegenstand": Hans liebt Erika. Doch Erika ist kein Oxytocin. Also kann Liebe oder Verliebtsein nicht identisch mit Oxytocin sein.

Ein weiteres Argument: Biochemische Prozesse – laut Forschung übrigens nicht bloß Oxytocin – korrelieren zwar mit dem Verliebtsein, aber sie sind nicht das Verlieben selbst. Denn diese spezifischen biochemischen Prozesse sind nicht notwendig. Begründung: Bei anderen Spezies könnte die gleiche Struktur (Liebe oder Verliebtsein) völlig anders realisiert sein. Vielleicht ist sogar bei Menschen das Verliebtsein individuell mit unterschiedlichen biochemischen Prozessen verknüpft. Also kann Liebe oder Verliebtsein nicht identisch mit Oxytocin sein.

Phänomenologie: Verliebtsein fühlt sich in bestimmter Weise an: Herzklopfen, Hochgefühl, man denkt nur an den anderen, Begierde u.v.m. Das alles sind qualitative, bewusste Zustände. Aber diese Phänomenologie ist kein Oxytocin. Das erlebt man allein aus der Perspektive der ersten Person und das ist kategorial etwas völlig anderes als ein chemisches Etwas. Also kann Liebe oder Verliebtsein nicht identisch mit Oxytocin sein.

Man kann sich auch folgendes Szenario vorstellen: Angenommen, man hätte die Biochemie der Liebe bei Menschen vollständig entschlüsselt und würde einen Probanden entsprechend „präparieren“, wie mit einem Zaubertrank. Dann könnte er zwar ein Gefühl verspüren, aber ohne zu wissen, in wen er verliebt ist. Doch ohne intentionalen Gegenstand wäre das keine echte Liebe, sondern allenfalls eine Illusion.

Und selbst wenn man es so einrichten würde – wie im Märchen –, dass sich die Person in den Nächstbesten „verliebt“, könnte man nicht wirklich von Verliebtsein sprechen. Denn die Erscheinung des Nächstbesten wäre dabei irrelevant. Keine seiner Eigenschaften könnte das individuelle Verliebtsein begründen. Ja, die Person würde sich mit dem „Zaubertrank“ sogar in jemanden verlieben, den sie ansonsten unausstehlich fände. Das wäre also keineswegs ihr Verliebtsein, sondern bloß eine perfide Täuschung. Also kann Liebe oder Verliebtsein nicht identisch mit Oxytocin sein.

Kulturell-historischer Aspekt: Eine weitere wichtige Frage ist, ob Verliebtsein und Liebe nicht stets auch historisch und kulturell „geformt“ sind und unterschiedlich „ausgelebt“ werden, selbst wenn sie im Kern universell sein mögen. So ein Aspekt lässt sich nicht biochemisch festhalten.




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Jörn P Budesheim
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Di 16. Sep 2025, 11:33

Vielleicht hier noch eine allgemeine Bemerkung: Meines Erachtens analysiert die Philosophie bei solchen Fragen im Kern die logische Struktur des Gegenstands - hier die Liebe und das Verliebtsein, während die Biologie nur den "physischen Mechanismus" bei Lebewesen wie uns untersucht und beschreibt. Die Biologie fragt, wie ist es realisiert, die Philosophie fragt, was ist es.

Dazu ein Gedankenexperiment, ähnlich wie oben. Stellen wir uns vor, unsere Biologie hätte den "physischen Mechanismus" bei uns vollständig entschlüsselt. Nun treffen wir auf Außerirdische, von denen wir nicht wissen, ob sie mit dem Konzept der Liebe und des Verliebtsein vertraut sind und bei denen keineswegs ausgemacht ist, dass es genau so realisiert wäre wie bei uns. Welche Beschreibung hätte für die Aliens wohl den höheren Informationswert? In anderen Worten: wie könnten wir ihnen am ehesten erklären, worauf sich der Begriff Liebe bezieht?




Timberlake
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Sa 20. Sep 2025, 14:23

Zur Biochemie der Liebe nur mal zu Info ...
welt.de hat geschrieben :
Liebe allein genügt nicht – der Duft entscheidet

Vergessen Sie Rosen und Kerzenlicht. Wenn wir uns verlieben, übernehmen animalische Schnüffelinstinkte die Kontrolle.

Liebe allein genügt aber nicht, Gefühle sind nicht zuverlässig genug, sagt Joelle Apter, 33, eine Schweizer Biologin. Was in einem nüchternen Raum der Firma GenePartner in Aldiswil, einem öden Vorort von Zürich, zur Sprache kommt, treibt wie mit Peitschenschlägen die Romantik aus. „Der Richtige und die Richtige ist es nur, wenn beide biologisch zusammengehören“, sagt die Mitbegründerin des Gentest-Unternehmens. Joelle Apter und ihre Geschäftspartnerin Tamara Brown, 34, eine Molekulargenetikerin, glauben eine todsichere Methode gefunden zu haben, um ideale Partner zusammenzubringen – per DNA-Test. ...
Gemäß jenem Gedankenexperiment, wo wir auf Außerirdische treffen, von denen wir nicht wissen, ob sie mit dem Konzept der Liebe und des Verliebtsein vertraut sind, hieße das, dass wir anhand der Genetik am ehesten erklären könnten, worauf sich der Begriff Liebe bezieht!

Für den Fall, dass auch bei diesen Außerirdischen, die Biologie in ihrem evolutionären Drall maximale Genvielfalt wollte, was ja wohl so abwegig nicht ist und die Liebe (technisch gesprochen) immer einen intentionalen "Gegenstand" hat, warum sollte dann ein solcher Gegenstand nicht auch bei den Außerirdischen vorliegen? Wir also von daher sehr wohl wüssten, dass sie mit dem Konzept der Liebe und des Verliebtsein vertraut sind. Wohlgemerkt in diesem intentionalen Sinn, jenseits aller Biochemie der Liebe.




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C3PO
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Do 25. Sep 2025, 19:56

Liebe hat viele Gesichter

[...]

Unzählige Lieder, Gedichte, Bücher und Briefe sind im Namen der Liebe geschrieben, gesungen und gedichtet worden. Und doch fehlen uns gerade in Sachen Liebe immer wieder die Worte, wenn wir sie zu erklären versuchen. Ist sie so etwas wie ein Ereignis, das uns zustößt, eine eigene Kraft, die uns den Kopf verdreht und die Schmetterlinge flattern lässt?

Was passiert, wenn sich Julia in Christian verliebt und wie geht es weiter, wenn die zwei zusammenziehen, sie Karriere macht und er nicht, sie eine Familie gründen und nach Berlin ziehen? Was ist mit der Liebe zum Fußball oder zu guten Filmen, dem alten Auto oder dem Ferienhaus in der Bretagne?

Offenbar gibt es so viele Spielarten und Gesichter der Liebe, dass wir uns nie einig werden, wenn wir versuchen, sie auf einen einzigen Nenner zu bringen. Also sollten wir viel weniger versuchen , die Liebe bis ins Letzte verstehen zu wollen, sondern viel eher, sie in ihren unterschiedlichen Spielarten in unserem Leben gelingen zu lassen.

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Jörn P Budesheim
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So 28. Sep 2025, 12:16



... Das ,Individuelle' selbst wird zum Problem.

Im Mittelpunkt der zeitgemäßen Idee der, Individualisierung steht der einzelne Mensch, das autonome Handlungssubjekt mit seinen Neigungen und Bestrebungen. Entsprechend erhebt das Individuum Anspruch auf eine selbstbestimmtes Liebe. Und doch macht es gerade in der Liebe die Erfahrung, sich selbst als selbständige Instanz des Wollens preiszugeben: Selbstvergessen, hingerissen identifiziert es sich in einem Maße mit dem anderen, daß seine Identität ihm entgeht. Zur Verunsicherung kommt es zudem auch beim Bezug auf den Gegenstand der Liebe - und zwar nicht nur deshalb, weil dafür ein Land, eine Landschaft, ein Musikstück oder die Weisheit eingesetzt werden könnte: Selbst wenn man sich - wie in den Beiträgen dieses Bandes -vor allem an die Liebe zu einem anderen Menschen hält, gerät die Individualität ins Schwanken. Es stellt sich die Frage, ob es wirklich diese Person ist, die man liebt, oder nur bestimmte Eigenschaften, die auch von ihr abzulösen und genauso gut an anderen zu finden wären; und diese Frage wirkt beunruhigend. (Warum genau singt Sinéad O'Connor Nothing compares to you?) ...

(Dieter Thomä, in "analytische Philosophie der Liebe", Einleitung)




Timberlake
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Mi 15. Okt 2025, 17:25

C3PO hat geschrieben :
Do 25. Sep 2025, 19:56
Liebe hat viele Gesichter

[...]

Unzählige Lieder, Gedichte, Bücher und Briefe sind im Namen der Liebe geschrieben, gesungen und gedichtet worden. Und doch fehlen uns gerade in Sachen Liebe immer wieder die Worte, wenn wir sie zu erklären versuchen. Ist sie so etwas wie ein Ereignis, das uns zustößt, eine eigene Kraft, die uns den Kopf verdreht und die Schmetterlinge flattern lässt?


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"Der griechische Philosoph Platon berichtete in seinem Dialog „Symposion“ von einer kurzen Geschichte, die der Dichter Aristophanes auf einem rauschenden Fest zum Besten gegeben habe, um das Wesen der Liebe zu erklären. Es ging um das Leben der „Kugelwesen“, kugelförmige Menschen, die einst auf der Erde in schönster Harmonie gelebt hätten, mit vier Armen und Beinen, zwei Köpfen und zwei Geschlechtsorganen – auf ewig mit ihrer besseren Hälfte in einer Einheit verbunden und entsprechend wunschlos glücklich.

Allerdings sei ihnen dieses Glück zu Kopf gestiegen. Der große Zeus sei überaus wütend geworden, so dass er seinem Schmied Hephaistos befohlen habe, die Kugelmenschen in der Mitte entzwei zu schlagen. So – nach der Geschichte des Aristophanes – ist es zu erklären, dass wir Menschen seitdem unser Leben auf Erden damit verbringen, nach unserer verlorenen Hälfte zu suchen, mal mehr und mal weniger erfolgreich"




psychologie-heute.de hat geschrieben :

Gleich und Gleich

Psychologie nach Zahlen: Gewohnheiten, Aussehen, Persönlichkeit - Fünf mögliche Gründe, warum manche Paare einander so ähnlich sind.

Harry und Sally waren ein ziemlich ungleiches Paar. Oder Sissi und Franz, Goethe und Christiane Vulpius. Aber solche Beispiele springen gerade deshalb ins Auge, weil sie eben nicht die Regel sind. Im Gegenteil: Menschen, die als Paar zusammenleben, sind sich häufig nicht nur in ihren Gewohnheiten, sondern auch in körperlichen Merkmalen wie etwa ihren Gesichtszügen ziemlich ähnlich. Das hat der Anthropologe James Norman Spuhler schon im Jahr 1968 empirisch festgestellt, und verhaltensgenetische Studien haben es seither vielfach bestätigt.
Kennt denn jemand auch nur eine, von den unzähligen Liedern, Gedichten, Büchern und Briefe, die im Namen der Liebe geschrieben, gesungen und gedichtet worden sind, wo ein schöner Prinz, eine hässliche Prinzessin oder eine schöne Prinzessin, einen hässlichen Prinzen geliebt hätte?

https://www.arte.tv/de/videos/105542-00 ... rpursegel/

Würde ich doch bezweifeln, dass beispielsweise "Die Purpursegel" auch unter diesen Vorzeichen funktionieren könnte.




Timberlake
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Mi 15. Okt 2025, 18:41



Übrigens ...



Ich denke mal, dass man sich bei Goethes "Liebschaft" jene Susi, mit der schwarzen Schleife in der Frisur, in der schönen Gestalt ihrer Schwester vorzustellen hat. Will sagen, damit der Topf zum Deckel passt, muss beides nicht aus einer "geistigen" Manufaktur stammen.Mitunter reicht die "Gestalt" und "Funktionalität" völlig aus.




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