Philosophische Reflexionen der Gefühle

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Alethos
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Mi 4. Aug 2021, 16:38

Friederike hat geschrieben :
Mi 4. Aug 2021, 14:35
Mich interessiert die Verbindung zwischen "denken" und "fühlen", das ist der Grund meines Schreibens.
Mich auch.

Obwohl ich mit vielem, was du sagtest, einverstanden bin (z.B. dass wir die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Verstand zurecht vornehmen), bin ich mir bezüglich der Vorzeitigkeit der Gedanken vor den Gefühlen nicht sicher.

Ist es nicht so, dass auch ein bestimmtes Gefühl bspw. der Freude aufkommen kann, ohne, dass ein Gedanke diese anfachte? Die Lebensfreude ist so eine Grundkonstante in meinem Leben, die nicht an einen bestimmten Gedanken geknüpft ist, sehr wohl aber bestimmte Gedanken, positive, befeuern kann.
Im Endeffekt spielt beides ineinander, verstärkt sich zumal, sodass wir vielleicht nicht mehr klar sagen können, was Anlass für das jeweilig andere war, aber ich sehe da nicht unbedingt eine vorgängige Kopplung des Gefühls an einen Gedanken. Manchmal, ja, kommen Gefühle aus dem Unbestimmten (wenn wohl kaum aus dem Nichts, wo ich wieder mit dir überstimme).



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Friederike
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Mi 4. Aug 2021, 17:37

Alethos hat geschrieben :
Mi 4. Aug 2021, 16:38
Ist es nicht so, dass auch ein bestimmtes Gefühl bspw. der Freude aufkommen kann, ohne, dass ein Gedanke diese anfachte? Die Lebensfreude ist so eine Grundkonstante in meinem Leben, die nicht an einen bestimmten Gedanken geknüpft ist, sehr wohl aber bestimmte Gedanken, positive, befeuern kann.
Im Endeffekt spielt beides ineinander, verstärkt sich zumal, sodass wir vielleicht nicht mehr klar sagen können, was Anlass für das jeweilig andere war, aber ich sehe da nicht unbedingt eine vorgängige Kopplung des Gefühls an einen Gedanken. Manchmal, ja, kommen Gefühle aus dem Unbestimmten (wenn wohl kaum aus dem Nichts, wo ich wieder mit dir überstimme).
Bei der Lebensfreude als "Grundkonstante" ist die Unterscheidung von "Stimmung" und "Gefühl" naheliegend, finde ich. Wozu das Auftauchen aus dem "Unbestimmten" passen würde. Aber irgendwie ist mir das zu langweilig.

Lieber würde ich bei der Lebensfreude, von der Du sprichst, an einen akuten Moment der Freude am Leben denken. Mit dem "akuten Moment" meine ich, eine zu einem bestimmten Zeitpunkt erlebte Lebensfreude. Und da möchte ich dem Auftauchen aus dem Unbestimmten nicht folgen. Es muß was vorangehen, nahezu zeitgleich, aber nicht vollständig zeitgleich; ein Geruch, ein Bild, eine Erinnerung, d.h. eine gedankliche Verknüpfung, die die Freude hervorbringt. "Aus dem Unbestimmten" bedeutet vielleicht, nicht ganz genau zu beobachten? Das ist nichts nichts nichts gegen Dich!




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Friederike
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Mi 4. Aug 2021, 17:50

Wie könnte ich meine Auffassung mit einem richtigen, d.h. schlüssigen Argument stützen?
Auf die Beobachtung, also Erfahrung zu rekurrieren, kommt mir unzulässig vor. Oder jedenfalls reicht dies nicht. Am Ende sage ich doch nichts anderes als ''beobachte nur genau".




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Friederike
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Mi 4. Aug 2021, 18:46

Neuer Versuch - wenn Du von der Lebensfreude als Grundkonstante sprichst @Alethos, dann liegen der Lebensfreude, so wie ich es sehe, bestimmte Überzeugungen zugrunde (das Leben ist ein Geschenk; ich werde das, was ich brauche, erhalten; niemand wird mir "Böses" antun; ich darf das Leben genießen o.ä).
Solche Grundüberzeugungen hat man nicht ständig präsent, erst auf näheres Bedenken hin wird man sie herausfinden, vielleicht sind sie so tief verborgen, daß sie -fast- unbewußt werden. Aber sie existieren. Und ich denke es mir so, daß auf dieser gedanklichen Grundlage dann die Lebensfreude beruht.




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Alethos
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Mi 4. Aug 2021, 18:57

Dann liefere ich einmal einen Gegengedanken, natürlich nicht, gar nicht und überhaupt nicht gegen dich ;)

Nehmen wir einmal an, Tiere könnten nicht denken. Das sei einmal angenommen. Das würde nach deiner Vermutung/Annahme/These ja bedeuten, dass sie gar keine akuten Gefühle haben können, z.B. ein Gefühl der Angst, da sie gar nicht denken.

Nun kannst du erwidern, dass sie bspw. beim Anblick eines Feinds instinktiv Angst haben, dies, weil sie den Feind „erkannt“ haben und das Erkennen ja soweit ein „Denkakt“ sei. Aber verwischen wir damit nicht das blosse Sehen mit dem Erkennen, mit dem Denken und dem Fühlen? Findet das alles wirklich ineins und nie ohne einander statt?

Oder ist nicht das Gefühl eine Empfindung der emotionalen Wirklichkeit, das auf diese gerichtet ist, um sie zu erkennen durch das Fühlen/Empfinden (das Traurige durch die Trauer, das Furchterregende durch die Angst etc.)? Denken ist auch ein sensitiver, empfindender Akt, aber es geht meines Erachtens auf ein anderes Objekt (ein logisches, „kühles“) als das formale Objekt des Fühlens (wir haben das formale Objekt ja in diesem Thread eingehend diskutiert).



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Friederike
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Mi 4. Aug 2021, 19:34

Alethos hat geschrieben :
Mi 4. Aug 2021, 18:57
Nun kannst du erwidern, dass sie bspw. beim Anblick eines Feinds instinktiv Angst haben, dies, weil sie den Feind „erkannt“ haben und das Erkennen ja soweit ein „Denkakt“ sei. Aber verwischen wir damit nicht das blosse Sehen mit dem Erkennen, mit dem Denken und dem Fühlen? Findet das alles wirklich ineins und nie ohne einander statt?
Dieser Einwand bringt mich ins Grübeln ...
Alethos hat geschrieben : Oder ist nicht das Gefühl eine Empfindung der emotionalen Wirklichkeit, das auf diese gerichtet ist, um sie zu erkennen durch das Fühlen/Empfinden (das Traurige durch die Trauer, das Furchterregende durch die Angst etc.)? Denken ist auch ein sensitiver, empfindender Akt, aber es geht meines Erachtens auf ein anderes Objekt (ein logisches, „kühles“) als das formale Objekt des Fühlens (wir haben das formale Objekt ja in diesem Thread eingehend diskutiert).
Ich nehme ein Beispiel: Mein Nachbar grüßt mich nicht. Das ist die Situation. Die ich wahrnehme. Es gäbe noch die Möglichkeit, das Nicht-Grüßen nicht zu registrieren. Ich fühle mich beleidigt. Aber doch nicht deswegen, weil er mich nicht grüßt, sondern weil Nicht-Grüßen generell Mißachtung bedeutet, oder weil ich glaube, der Nachbar könne mich nicht leiden, weil ich ihm vor kurzem Wasser auf den Balkon gegossen habe. Situation-Denken über die Situation (Bewertung)-Gefühl. Ich erkenne durch das Gefühl, was ich denke, meinst Du es so?




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Alethos
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Mi 4. Aug 2021, 20:17

Ja, auch. Ich meine aber eher Gefühle, von denen wir gar nicht wissen, weshalb wir sie haben. Vielleicht sind bspw. die Gründe für die schlechte Laune ganz viele, die ich gar nicht alle bedenken kann, vielleicht auch einfach ein schlechter Schlaf wegen des zu harten italienischen Betts (an was ich nicht dachte, aber mein Körper empfand). Wir wissen nicht immer, was die Gründe sind für unsere Gefühle, was aber nicht heisst, dass wir nicht an etwas gedacht haben. Es könnte auch sein, dass wir es bloss nicht mehr wissen.

Du merkst, ich schwanke hin und her zwischen Zustimmung („Ja, Gefühle brauchen einen gedanklichen Auslöser“) und Einspruch („Nein, Gefühle sind eine selbständige Erkenntnisform, die zusätzlich zum Denken mit diesem zusammenspielt“).



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Jörn Budesheim
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Do 5. Aug 2021, 07:03

Gefühle sind Gedanken.

Das heißt, mit Gefühlen erfassen wir im Erfolgsfall Tatsachen. Eine einfache Tatsache hat folgende Form: xF. Dabei ist mit x das gemeint, worum es geht und F die fragliche Eigenschaft von x. Beispiele: die Wiese ist grün; der Hund ist gefährlich; der Nachbar ist unfreundlich.

Nehmen wir Mary. Mary ist die (in der Philosophie des Geistes) bekannte Wissenschaftlerin, die in einer schwarz-weißen Umgebung lebt und alles über Farben weiß, was eine Physikerin nur wissen kann, bis sie eines Tages ihre schwarz-weiße Umgebung verlässt und plötzlich das Blau des Himmels, das Grün der Wiese und das Rot des Blutes erlebt.

In der neuen Variante dieses Gedankenexperiments lebt Mary nicht in einer schwarz-weiß Umgebung, sondern hat keine erlebten Gefühle, keine Qualia, sie lebt das Leben eines Zombies. Legen wir gleich los: Mary geht spazieren (warum auch immer Zombies spazieren gehen sollten) und plötzlich erscheint in ihrem Gesichtsfeld ein Kampf-Hund, der sich von der Leine losgerissen hat und sie anbellt und bedroht. Mary schaut (in Sekundenbruchteilen, das geht schnell) in ihrem inneren Wikipedia nach und erkennt: xF. Der Hund ist gefährlich.

Derweil geht in einer Parallelwelt eine weitere Mary spazieren, die ganz anders ist. Ebenso wie wir erlebt sie die "Welt" (den Ausdruck nutze ich hier als anschauliche Abkürzung für: "Wirklichkeit" und nicht im metaphysischen Sinne des Wortes), sprich sie hat Gefühle. Sie ist in "derselben" Situation wie die gefühlslose Mary. Der Hund kommt aus dem Nichts, bellt sie an, bedroht sie. Mary fährt der Schreck in die Glieder, lange bevor sie auf einer abstrakt-kognitiven Ebene xF denken kann. Der Schreck bezieht sich hier auf den Hund und nicht auf den (sagen wir: sprachlich kodierten) Gedanken. Und zum anderen erfasst der Schreck, meines Erachtens, einen anderen (aber überlappenden) Tatsachenkomplex als der abstrakte Gedanke. Das ist mit rein sprachlichen Mitteln ziemlich schwierig auszudrücken, vielleicht müsste man dafür eine Dichterin sein, die allerdings auf Zombies sicherlich keinen Eindruck machen könnte.

Auf jeden Fall ist so ein Schreck - nach meiner Auffassung - ein Gedanke, der die Gefährlichkeit des Hundes für meine eigene Existenz völlig erlebbar macht. Der Schreck erfasst die relevanten Tatsachen tiefer und präziser und vor allem bedeutungsvoller. Mit anderen Worten: für die Qualia Mary sind ganz andere Tatsachen-Bereiche zugänglich.

Mary ohne Gefühle könnte auch irgendein Roboter sein, Bedeutungen sind für sie unerreichbar. Sie lebt in einer kalten bedeutungslosen Welt, in der sie mit schierer Symbol-Verarbeitung existiert. Es gibt in dieser Welt nichts, was wirklich zählt. Mary mit Gefühlen erlebt darüberhinaus die Bedeutung der Dinge. Was wirklich zählt, das kann Mary erleben. Dieser Tatsachen Bereich ist nur fühlenden biologischen Wesen zugänglich.

Was will ich mit diesem Gedankenexperiment ausdrücken? Zum einen, dass Gefühle sich nicht grundsätzlich auf "Gedanken" (in dem Sinne des Wortes, wie Friederike es benutzt) beziehen müssen. Zum anderen, dass Gefühle im Erfolgsfall eine bestimmte Art und Weise sind, Tatsachen zu erfassen. Und darüber hinaus, dass wir ohne Gefühle, also ohne qualitatives Bewusstsein in einer bedeutungskalten Welt leben würden. Die Welt der Bedeutungen wäre für uns nicht erreichbar.

(Natürlich ist das ganze etwas holzschnittartig dargestellt, um hervorzuheben, worum es mir geht.)




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Alethos
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Do 5. Aug 2021, 09:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 07:03
Gefühle sind Gedanken.
Was will ich mit diesem Gedankenexperiment ausdrücken? Zum einen, dass Gefühle sich nicht grundsätzlich auf "Gedanken" (in dem Sinne des Wortes, wie Friederike es benutzt) beziehen müssen. Zum anderen, dass Gefühle im Erfolgsfall eine bestimmte Art und Weise sind, Tatsachen zu erfassen. Und darüber hinaus, dass wir ohne Gefühle, also ohne qualitatives Bewusstsein in einer bedeutungskalten Welt leben würden. Die Welt der Bedeutungen wäre für uns nicht erreichbar.
Sehr gut formuliert. Das trifft sich „in etwa“ mit dem, was ich sagen wollte:

Ist nicht das Gefühl eine Empfindung der emotionalen Wirklichkeit, das auf diese gerichtet ist, um sie zu erkennen durch das Fühlen/Empfinden (das Traurige durch die Trauer, das Furchterregende durch die Angst etc.)?

Wo ich nicht ganz mitkomme, ist bei der Gleichsetzung von Gefühlen und Gedanken („Gefühle sind Gedanken“).
Wenn wir unter „Gedanken“ alle Erkenntniswege zum Erfassen von Tatsachen subsumieren, dann ja, wären auch Gefühle Gedanken. Dann wäre aber auch das Sehen Gedanken, das Tasten Gedanken und überhaupt alles, was auf Tatsachen geht, Gedanken. Wie nennen wie aber das Denken, womit wir üblicherweise das Haben von Gedanken meinen, im Unterschied dazu? Wenn ich denke, dass 2+2=4 eine Formel ist, dann ist das ja eine „andere“ Form von Gedanke als wenn ich denke, dass diese Formel schön und formvollendet ist. Auch das bin ich bereit unter „Gedanken“ laufen zu lassen sowie überhaupt jedes Vermögen der Tatsachenerfassung. Müssten wir dann aber diese verschiedenen Gedankenarten (die sich auf andere Wirklichkeitsbedeutungen richten) nicht unterscheiden, damit wir darlegen können, von welchem Vorgang wir jeweils sprechen? Es ist doch ein Unterschied, ob ich sage: „Ich sehe das Meer“ und „Ich denke das Meer“. Diesen Unterscheidungen müssen wir doch Rechnung tragen, meine ich.



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Jörn Budesheim
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Do 5. Aug 2021, 10:39

Alethos hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 09:34
Wie nennen wir aber das Denken, womit wir üblicherweise das Haben von Gedanken meinen, im Unterschied dazu?
Ja, das ist ein Problem. Es gibt eine lange Traditionslinie, die Gefühle (sehr übertrieben gesagt) auf innere Regungen reduziert und sie auch in einen Gegensatz zur Vernunft bringt. Aber das ist wohl ziemlich sicher falsch. Wie wir die Sprache behutsam an das neue Wissen um uns selbst anpassen, wird man sehen :-) Ich will damit die "andere" (abstraktere?) Vernunft keineswegs abwerten, schließlich können wir mit ihr bis an den Anfang der Zeit denken. Keine kleine Leistung, wie ich finde :-)




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Alethos
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Do 5. Aug 2021, 12:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 10:39
Alethos hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 09:34
Wie nennen wir aber das Denken, womit wir üblicherweise das Haben von Gedanken meinen, im Unterschied dazu?
Ja, das ist ein Problem. Es gibt eine lange Traditionslinie, die Gefühle (sehr übertrieben gesagt) auf innere Regungen reduziert und sie auch in einen Gegensatz zur Vernunft bringt. Aber das ist wohl ziemlich sicher falsch. Wie wir die Sprache behutsam an das neue Wissen um uns selbst anpassen, wird man sehen :-) Ich will damit die "andere" (abstraktere?) Vernunft keineswegs abwerten
Als Abwertung habe ich es auch nicht verstanden, eher als Aufwertung der Gefühle, indem du sie als zur Aussenwelt gehörend und mit dieser ebenbürtig darstellst.

Tatsächlich repräsentiert die „res sensa“, wie die res extensa wie überhaupt jede res eine Wirklichkeit, zu der wir ja entsprechenden Zugang haben. Es wäre sicherlich falsch zu behaupten, dass Gefühle nur eine Sache der Innenwelt sei, wie es überhaupt seltsam anmutet, die Welt in ein Innen und ein Aussen aufzuteilen. Das ist in etwa so, als würden wir sie in links oder rechts einteilen wollen oder oben und unten. Ja, es gibt Dinge, die niemand ausser mir fühlen kann in der Art, wie ich sie fühle. Qualia sind ganz exklusive Dinge des entsprechenden Subjekts, das fühlt. Aber nichtsdestotrotz weiss ich ja, was du in etwa fühlst, wenn du dich ärgerst oder freust. Ich kann diese Gefühle ja auch teilen, was unmöglich der Fall sein kann, wenn wir alle in unseren eigenen subjektiven Booten sitzend unbemerkt in der Wirklichkeit treiben würden :)

Es gibt Verbindungen der sogenannten Innenwelt zur Aussenwelt, die nicht schwach oder brüchig sind, sondern fundamental und stark. Das ist, warum wir nicht allein sind: Weder je mit unseren Gefühlen noch mit ihnen ohne Grund in der Welt. Ja, es gibt Dinge, die nicht zu mir gehören, wie z.B. der Sand unter meinen Füssen oder das Wasser des sardinischen Meers. Aber nichts destotrotz ist „es“ nicht einfach „dort“ und „ich“ „hier“, als vielmehr wir vereint in vielfältigen Relationen.

Ich meine sogar, dass es Teil des Meeres ist, dass dort Leute ihre Freude beim Baden mit ihm teilen. Dass das Meer das nicht fühlt, dass wir es nicht messen können, dass es keine Eigenschaft des Meeres ist, dass er Freude spenden kann, heisst doch nicht, dass diese Freude, die er machen kann, einfach nur eine innere Wirklichkeit ist. Es ist die Freude eine Tatsache, die am Meer vorkommt, wenn nicht als seine Eigenschaft, dann doch gewiss als eine Gemeinschaftsleistung des Meeres und all jener, die sich an ihm freuen.

Die Bedeutung des Meeres, so will ich sagen, die Bedeutung der Dinge überhaupt, die sind nicht einfach nur in meinem Kopf oder in meinem Bedeuten, sondern sie ist verknüpft mit diesen Dingen. Wie das Schöne verknüpft ist einem toten und schönen Stein, weil er eben auch Schönheit bedeutet. Er bedeutet etwas, das mehr ist, als sein blosses Materiesein. Da, auf dieser Ebene der vielfältigen Bedeutungen, gibt es kein Aussen und Innen mehr: Kein Objekt- und Subjektsein mehr, als vielmehr schiere Wirklichkeit. Bedeutsame Wirklichkeit.



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Friederike
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Do 5. Aug 2021, 13:06

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 10:39
[...] Es gibt eine lange Traditionslinie, die Gefühle (sehr übertrieben gesagt) auf innere Regungen reduziert und sie auch in einen Gegensatz zur Vernunft bringt. Aber das ist wohl ziemlich sicher falsch. Wie wir die Sprache behutsam an das neue Wissen um uns selbst anpassen, wird man sehen :-) [...]
Es gibt Verben, in denen der -vermeintliche- Gegensatz aufgehoben ist: Wollen, wünschen, erwarten, hoffen, vermeiden, ausweichen, weitere? Sind es Denk- oder Gefühlstätigkeiten? Weder-noch, d.h. sie sind weder nur "denken" noch nur "fühlen".

Warum schreibe ich das? Weil ich den Aspekt der "Bedeutungs-Welt", die ohne Gefühle zu erreichen nicht möglich ist, besonders spannend finde. Und weil ich es zugleich schwierig finde, die Bedeutung, die "etwas" für mich -durch Gefühle- erlangt, in den üblichen Gefühlsbegriffen zu erfassen. In sehr vielen Fällen geht das schon, aber ich meine zum Beispiel meine Situation jetzt und hier. Ich bewege mich durch meine Wohnung, setze mich an den Schreibtisch, schreibe, denke, stehe wieder auf, trinke einen Schluck Kaffee usw.usf. Bedeutungs"kalt" wäre es so, wie Ch. Koch die Zombieexistenz beschreibt: Wie tot. So aber erfahre ich meine Situation nicht. Also ist sie voller Bedeutung. Es paßt aber für diese, wie ich meine, sehr normale Situation überhaupt kein Wort aus dem Gefühlsrepertoire.

Mir schwebt daher vor, wofür die Verben, die ich eingangs nannte, immerhin erste Beispiele sein sollen, noch mehr über die Verknüpfung von "fühlen" und "denken" auf der Wahrnehmungsebene herauszufinden und darüberhinaus andere Beispiele zu finden, in denen wir sprachlich diese Trennung aufheben.




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Friederike
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Do 5. Aug 2021, 14:59

Alethos hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 12:10
Es gibt Verbindungen der sogenannten Innenwelt zur Aussenwelt, die nicht schwach oder brüchig sind, sondern fundamental und stark. Das ist, warum wir nicht allein sind: Weder je mit unseren Gefühlen noch mit ihnen ohne Grund in der Welt. Ja, es gibt Dinge, die nicht zu mir gehören, wie z.B. der Sand unter meinen Füssen oder das Wasser des sardinischen Meers. Aber nichts destotrotz ist „es“ nicht einfach „dort“ und „ich“ „hier“, als vielmehr wir vereint in vielfältigen Relationen.
Mir kommt bei Deiner Beschreibung der Begriff "Leibempfinden" in den Sinn. Übrigens ist auch die von mir erwähnte Situation in meiner Wohnung am ehesten mit diesem Wort zu erfassen. Ein diffuses Spüren mit allen Sinnen, bei dem die Körpergrenze aufgehoben ist, Innen und Außen sind durchlässig, verschwimmen, verschwinden.

Dem "Leibempfinden" fehlt nun aber die gedankliche Komponente wie überhaupt der kognitive Anteil im Zugang zur Welt, der die Gefühle -auch- charakterisiert. Insofern ist er nicht als Ersatz für "Gefühle" geeignet, präziser gesagt, für nicht definierte Gefühle.




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Friederike hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 14:59
Dem "Leibempfinden" fehlt nun aber die gedankliche Komponente wie überhaupt der kognitive Anteil im Zugang zur Welt ...
Warum?




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Do 5. Aug 2021, 17:11

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 15:56
Friederike hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 14:59
Dem "Leibempfinden" fehlt nun aber die gedankliche Komponente wie überhaupt der kognitive Anteil im Zugang zur Welt ...
Warum?
Weil mit diesem Wort ein "sich diffus irgendwie befinden" gemeint ist; das Leibempfinden ist nicht gerichtet, nicht intentional. Es hat kein Objekt, vielleicht gerade deswegen, weil Leib und das ihn Umgebende verschwimmen ... nein, schon die Formulierung unterstellt bereits wieder Grenzen. Der Leib ist in dem Umgebenden. S o ist die Empfindung.




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Do 5. Aug 2021, 17:21

Friederike hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 17:11
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 15:56
Friederike hat geschrieben :
Do 5. Aug 2021, 14:59
Dem "Leibempfinden" fehlt nun aber die gedankliche Komponente wie überhaupt der kognitive Anteil im Zugang zur Welt ...
Warum?
Weil mit diesem Wort ein "sich diffus irgendwie befinden" gemeint ist; das Leibempfinden ist nicht gerichtet, nicht intentional. Es hat kein Objekt, vielleicht gerade deswegen, weil Leib und das ihn Umgebende verschwimmen ... nein, schon die Formulierung unterstellt bereits wieder Grenzen. Der Leib ist in dem Umgebenden. S o ist die Empfindung.
Ich glaube, ich kann das sehr gut nachempfinden, Friederike. Es ist eine Art von Verschmelzen mit dem Raum, mit der Umgebung. In solchen Momenten des absoluten Vertrautseins (?) ist das „Denken“ nicht ausgeschaltet, eher ausgelagert, so dass ich sagen kann, nicht ich dächte, aber es denke. Es denkt sich dabei das Gesamte, von welchem ich ein schwindender Teil bin.



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Do 5. Aug 2021, 17:36

Ahhh, "verschmelzen" ist das gesuchte Wort, das mir nicht einfiel.




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Friederike
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Do 5. Aug 2021, 17:55

"Leibempfinden" war nur der Versuch, Fühlen und Denken mit einem Wort zu übersteigen.
Nur abschließend noch zur Funktion des Leibempfindens eine Überlegung: "Bedeutung" schafft das Leibempfinden, oder? Wie man sich insgesamt, rundherum in einer bestimmten Situation (Strand, Meeresbrise, Sonne) befindet, "wohl" oder "unwohl", "behaglich" oder "unbehaglich", dies zu erleben wäre ohne Leibempfinden unmöglich.

Vielleicht könnte man die Leibempfindung als "Hintergrundtönung" bezeichnen.




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Jörn Budesheim
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Do 5. Aug 2021, 18:16

Verstehe ich nicht so wirklich. Wenn man sich am Strand unwohl oder behaglich fühlt, dann hat man es doch mit einem intentionalen Gefühl zu tun?!




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Alethos
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Do 5. Aug 2021, 18:45

Ich sehe hier keinen Widerspruch.

Wenn „Leibempfinden“ Denken und Fühlen ineins ist („Denken und Fühlen mit einem Wort übersteigt“), handelt es sich bei ihm um ein intentionales Gefühl. Wenn Friederike bspw. mit der Wohnung so vertraut ist, dass gar kein Denken als bewusster Denkakt explizit mehr vollzogen wird, wir es sozusagen mit einem reinen Inderwohnungsein in der Form eines manifesten Gefühls des Daseins zu tun haben, dürfte dieses Leibempfinden das Denken des Daseins einschliessen und ihm dürfte auch ein Objekt gegeben sein: die Wohnung, Ich in ihr. Die Ruhe. Die Tasse Kaffee. Die Musik. Die Balkontür. Das alles dürfte die Szenerie sein, die dem Leibempfinden das Objekt gibt.

Das Leibempinden hat - so verstanden (was falsch sein kann) - zum Gegenstand das Sein des Daseienden im Hier und Da und das zusammen wäre sein intentionales Objekt.
Dieses Leibempfinden (das wir vlt. noch genauer ausbuchstabieren können) kann natürlich überall stattfinden.



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