Philosophische Reflexionen der Gefühle

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Jörn Budesheim
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Sa 20. Okt 2018, 18:55

Wir können ja Mal den Gefühle-Thread hier zwischenschalten :-) Ist das Gefühl des Ekels wirklich "subjektiv"? Nicht unbedingt, meine ich. Nach meiner Einschätzung haben, wenn nicht alle, so doch die allermeisten unserer mentalen Zustände zwei (begrifflich zu unterscheidende) Seiten: eine phänomenale und eine intentionale.

Die phänomenale Seite, das "wie es ist" hat eine subjektive Ontologie, da sie nur aus der Perspektive der ersten Person erlebbar ist. Dieses Erleben ist natürlich dennoch etwas, was objektiv vorhanden ist und zwar in dem einfachen Sinne, dass es es tatsächlich gibt. Über das Vorliegen des fraglichen "feelings" kann sich das Subjekt nicht irren. Wenn jemand Ekel erlebt, dass kann er sich nicht darin irren, dass die Erlebnisseite vorhanden ist.

Die intentionale Seite ist der Bezug auf den Gegenstand, mentale Zustände haben einen Gegenstand, etwas worauf sie gerichtet sind, wovon sie handeln. Diese Seite untersteht jedoch Korrektheitsbedingungen, ist also objektiv. Das heißt, hier ist Irrtum möglich. Man kann glauben, sich auf einen Gegenstand zu beziehen, den es im fraglichen Bereich gar nicht gibt oder man kann ihm Eigenschaften zuweisen, die nicht vorliegen.

So ist es mit dem Ekel ebenso. Man kann Ekel empfinden gegenüber etwas, was nicht ekelig ist. Man sich sich zwar nicht darin irren, dass das "feeling" da ist und gerade erlebt wird, aber man kann sich in der "erlebten Aussage" irren. Der Gegenstand auf den man das Prädikat "ekelig" anwendet (mittels des Erlebens) ist nicht so beschaffen, dass er als ekelig eingestuft werden kann.

Hier kann man also zwischen zwei Tatsachen unterscheiden. Der Umstand, dass das Ekelgefühl (die diversen Qualia) vorliegen, kann für etwas anderes sprechen als die Tatsachen über den Gegenstand. Das eine kann dafür sprechen, dass man den Gegenstand meiden sollte. Das andere nicht.




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Stefanie
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Sa 20. Okt 2018, 19:59

Wer legt denn die Korrektheitsbedingugen fest? Wer stuft ein, ob etwas eklig ist? Wer weist und wie wird einem Gegenstand Eigenschaften zugewiesen? Wer legt die intentionale Ebene fest?
Die Mehrheit, die Naturwissenschaft?
Im Bereich der Gefühle, der diversen Qualia halte ich das für schwierig. Es gibt Gegenstände, da ist es eindeutiger. Unser Beispiel der Raumtemperatur. Das ist messbar. Diese wird dann nur intentionalen Norm erhoben, durch wen?
Bei eklig wird es noch komplizierter. Allein beim Zuweisen der Eigenschaften eines Gegenstandes kann man sich täuschen. Sind Schlangen eklig oder nicht, wer legt das fest ? Die, die sagen, nöö Schlangen sind nicht eklig, können auch irren. Oder etwa nicht?



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Jörn Budesheim
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Sa 20. Okt 2018, 20:18

Stefanie hat geschrieben :
Sa 20. Okt 2018, 19:59
Wer legt denn die Korrektheitsbedingugen fest?
Niemand. (Gilt für die anderen Wer-Fragen auch :) ) Mir ist neu, dass Korrektheitsbedingungen festgelegt werden müssen, wie kommst du darauf? Wer legt fest, welche Pilze giftig sind?
Stefanie hat geschrieben : Die, die sagen, nöö Schlangen sind nicht eklig, können auch irren.
Ja, Irrtum ist möglich, das sage ich doch auch.




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novon
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Sa 20. Okt 2018, 20:55

Tommy hat geschrieben :
Sa 20. Okt 2018, 14:22
Persönliche Vorlieben liefern persönliche Gründe. Völlig klar.
Kann sein, dass ich hier deiner Meinung nach was verwechsele, aber ich seh das anders und denke deine Behauptung alle Gründe lägen objektiv vor ist falsch. Es gibt auch subjektive Gründe und die Rede von subjektiven Gründen macht Sinn.
Das Gründe objektiv vorliegen war doch gar nicht Gegenstand der Kontroverse, sondern, dass Gründe, wie, aus der Erinnerung, oben Behauptet, grundsätzlich immer auf Objektives rekurrieren...
Letztlich bastelst du (@Jörn) hier gerade einen recht offensichtlichen Zirkel, indem du Gründe als auf Tatsachen zurückzuführen nimmst und im nächsten Schritt diesen selbst attestierst als Tatsachen herhalten zu können. Die erste Annahme wäre imo ersatzlos zu streichen, denn über mehr als Annahmen (über die Welt, so gut eruiert diese auch sein sollten) verfügen wir nicht. Ich würde ja sagen Gründe basieren nicht etwa auf Tatsachen, sondern immer nur auf Annahmen über die Welt, über Zusammenhänge. Wahrscheinlich vorallem, weil auch hier der immer mögliche Irrtum mit im Boot sitzt.




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Stefanie
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Sa 20. Okt 2018, 21:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 20. Okt 2018, 18:55
(...)
sich auf einen Gegenstand zu beziehen, den es im fraglichen Bereich gar nicht gibt oder man kann ihm Eigenschaften zuweisen, die nicht vorliegen.
(...)
Der Gegenstand auf den man das Prädikat "ekelig" anwendet (mittels des Erlebens) ist nicht so beschaffen, dass er als ekelig eingestuft werden kann.
Bei der phänomenalen Seite widerspreche ich nicht, nur ..

Der erste Satz bezieht sich auf den, der das Gefühl erlebt, er weist Eigenschaften zu, die es nicht gibt. Ich empfinde es als salzig, ist aber kein Salz drin.
Der zweite Satz löst Widerspruch aus. Ich empfinde Schlangen als eklig, weil ich den Gegenstand als eklig einstufe. Täuschen kann ich mich darin nur, wenn jetzt jemand anders den Gegenstand Schlange als nicht eklig einstuft. Aber ich irre mich nicht doch deshalb, weil der Gegenstand auf den sich mein Gefühl bezieht, von wem auch immer so eingestuft wird, dass er nicht so beschaffen ist, dass er als eklig eingestuft werden kann.
Bei den Pilzen ist das anders, ob ein Pilz giftig ist oder nicht, lässt sich objektiv feststellen.
Ob etwas eklig ist, auf das sich das Ekelgefühl bezieht, kann von jedem nur aus der Perspektive der ersten Person beurteilt werden. Es gibt keinen objektiven Dritten.
Es gibt Menschen, die finden weichgekochte Eier eklig, es gibt Menschen, die lieben es so. Es gibt keine Korrekheitsbedingungen.

Es muss doch nicht immer partout eine objektive Komponente eingebaut werden.



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So 21. Okt 2018, 07:22

Stefanie hat geschrieben :
Sa 20. Okt 2018, 21:15
Es gibt keine Korrekheitsbedingungen.
Wirklich? Vor ein paar Jahren waren meine Frau und ich im Kino. In einer Szene küssten sich zwei Schwule. Unser Sitznachbar hat das ausführlich kommentiert. Er fand das offenbar eklig. Wir haben uns dann weggesetzt, aber keinen Streit darüber angefangen, um die Vorführung nicht zu stören, auch wenn es uns in den Fingern gejuckt hat.

Wenn das alles subjektiv wäre, wie ihr galubt dann müsste man wohl einfach sagen, der Herr fand es halt eklig, alles prima, mehr lässt sich da nicht machen. Ich meine hingegen, dass ein Kuss nicht eklig ist, nur weil es Schwule tun. Und wer was anderes glaubt und fühlt, der irrt, egal wie stark sein Ekelgefühl ist.




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So 21. Okt 2018, 07:50

Novon hat geschrieben : Ich würde ja sagen Gründe basieren nicht etwa auf Tatsachen, sondern immer nur auf Annahmen über die Welt
Gründe werden von Tatsachen geliefert. Begründungen hingegen basieren auf unseren Annahmen. Siehe das Schlangenbeispiel. Die Person, die die Schlange aufgeschreckt hat, vermutet, sie müsse wegrennen. Könnte man sie fragen, dann würde sie ihre Handlung (Wegrennen) entsprechend rechtfertigen. Aber ihre Annahme über die Welt ist falsch, es liegt ein Irrtum vor, denn die Faktenlage ist anders und liefert andere Gründe.




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So 21. Okt 2018, 08:16

Stefanie hat geschrieben : Es muss doch nicht immer partout eine objektive Komponente eingebaut werden.
Steine haben keine subjektive "Komponenten". Wir schon. Mir geht es darum, uns als Subjekte und unsere Lebenswelt ernst zu nehmen und stark zu machen. Unsere Gefühle und das, wovon sie uns unterrichten, gibt es wirklich. Mir geht es um die Wirklichkeit unserer Gefühle. Der Hardcore-Naturalismus hat dafür keinen wirklichen Platz, da "da draußen" ja nur eine kalte Welt existiert. Doch da es unsere Gefühle nun Mal gibt, werden sie von solchen Naturalisten (die sogar bereit sind, das Bewusstsein insgesamt zu leugnen) ins Exil abgeschoben und irgendwo unterhalb der Schädeldecke geparkt und zur Folklore erklärt.

Das lehne ich alles an. Uns und unsere Subjektivität gibt es ganz im Ernst und unsere Gefühle sind nicht bloß ein manchmal nettes, manchmal unangenehmes Epiphänomen ohne wahrheitsfähigen Gehalt. Im Gegenteil sie unterrichten uns oft zuverlässig über die Wirklichkeiten, so wie sie tatsächlich sind. Das ist vielleicht der Grund, warum manche Kulturen Gefühle als etwas erlebt und verstanden haben, was "von außen" kommt.

Und da Gefühle uns oft die Wahrheit sagen, können sie auch irren über die Bereiche, mit denen sie uns in Kontakt setzen und verbinden ('sollten').

Ihr seid offenbar der Ansicht, die Subjektivität stark zu machen. Ich hingegen glaube, ihr halbiert sie, da ihr nur ihren "Feeling"Aspekt ernst nehmt. Damit macht ihr die Subjektivität nicht stark, sondern leugnet ihre Wirklichkeit. Dass unsere Gefühle uns mit Wahrheiten über die Wirklichkeit in Kontakt bringen, das lehnt ihr leider ab. Das führt zu einem Gefühls-Solipsismus. Ich für meinen Teil lehne diese Halbierung ab und will das Ganze der Gefühle und unserer Subjektivität als etwas retten, was uns mit der Wirklichkeit verbindet und unsere Subjektivität und unser Menschsein (mit-)ausmacht.

Diese Halbierung und der Gefühls-Solipsismus entsprechen einfach nicht unserer Lebensrealität, die ich nicht aufzugeben bereit bin. Wir identifizieren (wenn nicht alle, so doch viele) Gefühle nicht nur über ihre Phänomenalität, sondern auch über ihre Gegenstände. Andernfalls hätten wir auch nicht die ausgeklügelte Sprache dafür, die wir haben.

Wenn jemand das "Gesicht verzieht" und Ihhhh! ruft, dann halten wir Ausschau, wovor er oder sie sich ekelt. Wir glauben dann nicht, dass er oder sie sich vor dem blauen Himmel oder völlig Beliebigen ekelt, sondern vor dem verschimmelten Stück Fleisch vor ihm. Diese "Sozialität" und Triangulations-Fähigkeit der Gefühle war übrigens ein großer evolutionärer Vorteil. Sie schützt nicht nur jeden Einzelnen vor Dingen, die für uns und unsere Gemeinschaft abträglich sind, sondern "informiert" zugleich anwesende Unseresgleichen über die vorliegenden Tatsachen: "Eklig - bitte meiden!" Gefühle erlauben in solchen Fällen eben eine "kommunikative" Triangulation. Das funktioniert aber nur, wenn die eine Spitze des Dreiecks nicht einfach bloß im Kopf der Kommunikationspartner ist. Dass es hier von Person zu Person individuelle Variationen gibt, macht das Ganze jedoch nicht bloß subjektiv, denn es muss dabei schließlich ein Kern bleiben, der variiert wird, damit die Triangultion überhaupt funktionieren kann.

Unsere Gefühle und Intuitionen sind, weil sie von der Wirklichkeit selbst handeln und uns helfen, uns (gemeinsam und einzeln) darin zu orientiern, jedoch für Irrtümer anfällig, wie alle unsere Sinne, einschließlich des Denkens. Wenn sich jemand vor einer Wäscheklammer fürchtet, dann ist es nicht iregndeine subjektive Einstellung unter vielen, sondern einfach ein Irrtum, denn Wäscheklammern sind für sich genommen kein Grund* zum Fürchten.

*Um zurück zum Thema zu kommen :)




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proximus
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So 21. Okt 2018, 09:17

Es geht nicht darum, dass alle anderen, dass auch anstreben sollten, sondern darum, dass der Umstand, dass wir etwas mögen, schätzen, lieben, etc immer ein Grund ist, es anzustreben.
Wenn ich etwas liebe, könnte ein Grund sein, dass ich es so lasse.



""Wahrheit" ist immer nur theoretisch." proximus

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Stefanie
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So 21. Okt 2018, 09:34

Nur kurz. Jörn, ich will genau das identische.
U.a. deswegen war ich über einige Aussagen von Rödl fast schon entsetzt, und bei Gabriel hinsichtlich des Denkens beschleicht mich ein ungutes Bauchgefühl.
Weil ich bei beiden empfinde, dass die Vielfalt von Gefühlen, Emotionen, Körperempfindungen quasi abgeschafft wird.



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Jörn Budesheim
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So 21. Okt 2018, 10:49

Ich bin allerdings der Ansicht, dass du sie selbst - gegen deine eigenen Absichten- "abzuschaffen versuchst".

Unsere Gefühle gehören nach meiner Ansicht zur Wirklichkeit und informieren uns im Erfolgsfall über die vielen Wirklichkeiten. Für dich sind Gefühle im Grunde genommen eingesperrt in die subjektive Innenwelt, meine ich. Und das halte ich für völlig falsch.




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Jörn Budesheim
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So 21. Okt 2018, 12:27

Die "innere Empfindung" ist falsch, weil sie die Wirklichkeit nicht so darstellt, wie sie ist. Es ist einfach über Küsse von Schwulen nicht wahr, dass sie eklig sind. Das heißt, die gefühlte Tatsache liegt nicht vor.

Es gibt hier im Prinzip keinen Unterschied zu unserem sonstigen Urteilen. Ein Gegenstand wird herausgepickt und es wird ihm ein Prädikat zugewiesen. Es liegt dann ein Urteil vor: (X)f. Ekligkeits-Empfindungen prädikatieren ihre Gegenstände als eklig. Der Urteilsakt ist etwas "Inneres". Das Urteil selbst "Schwule Küsse sind eklig." ist wahr gdw. schwule Küsse eklig sind. Da sie es nicht sind, liegt ein Irrtum vor. Die Methode der Disquotation funktioniert hier genauso wie sonst auch.




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Alethos
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So 21. Okt 2018, 12:44

Stefanie hat geschrieben :
Sa 20. Okt 2018, 19:59
Wer legt denn die Korrektheitsbedingugen fest? Wer stuft ein, ob etwas eklig ist? Wer weist und wie wird einem Gegenstand Eigenschaften zugewiesen? Wer legt die intentionale Ebene fest?
Die Mehrheit, die Naturwissenschaft?
Im Bereich der Gefühle, der diversen Qualia halte ich das für schwierig. Es gibt Gegenstände, da ist es eindeutiger. Unser Beispiel der Raumtemperatur. Das ist messbar. Diese wird dann nur intentionalen Norm erhoben, durch wen?
Bei eklig wird es noch komplizierter. Allein beim Zuweisen der Eigenschaften eines Gegenstandes kann man sich täuschen. Sind Schlangen eklig oder nicht, wer legt das fest ? Die, die sagen, nöö Schlangen sind nicht eklig, können auch irren. Oder etwa nicht?
Aber sind wir uns denn nicht einig, dass Schlangen eklig oder niedlich zu finden, kein moralischer Sachverhalt ist? Ich denke, dass selbst bei der Beurteilung der Frage, ob man eine Schlange töten solle, die Tatsache, dass man sie eklig/niedlich findet, nur geringe moralischen Relevanz im Zusammenspiel aller Gründe spielt.



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Alethos
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So 21. Okt 2018, 13:26

Tommy hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 01:46
Alethos hat geschrieben :
Sa 20. Okt 2018, 16:45
Und nun ergibt sich, dass diese Mechanik für alle gilt: Dass wir also jeweils das sollen, wofür am meisten spricht, und zwar nach Abwägung der Gründe, die sowohl dafür wie auch dagegen sprechen.
Was Du meinst ist ein Prinzip (oder auch: Maxime). Der Mensch soll sich also das Prinzip zu eigen machen seine Normen auf Gründen basieren zu lassen. Dieses Prinzip ist selbst schon eine Norm (Du sollst stets nach Gründen handeln).

Woraus sollte sich aber diese Norm ergeben?
Die ergäbe sich ja nur, wenn wir alle darin übereinstimmen würden, dass stets nach Gründen zu handeln ist.
Wir müssten das also zunächst wollen, sonst wird's nix mit dem Sollen.
Die Normativität ergibt sich aus der Diskursivität, basierend aber auf objektiven, d.h. auf Wahrheit basierenden Argumenten, darunter die eigenen Interessen wohl fallen, aber nur als ein Aspekt unter anderen. Das macht die moralische Wahrheit deshalb nicht zu einer Frage der persönlichen Einstellung, sondern der Einsicht in die objektive Gegebenheiten des Fürs und Widers als Ganzes.
Woraus folgt nochmal, dass wir stets Gründe abzuwägen und nach Gründen zu handeln haben?
Natürlich haben wir die Freiheit, alle Prinzipien moralischer Ordnungen abzulehnen, die Frage ist nur, wie intelligent das wirklich ist. Ja, wir können einander nicht zwingen, moralische Einstellungen zu entwickeln, wir können einander nur zwingen, unmoralische Taten nicht zu begehen, z.B. durch Strafen in Form von Haft etwa. Aber wer von uns wird ernstlich behaupten, dass es gut sei, Kinder von ihren Eltern an der amerikanischen Grenze zu trennen? Manche mögen sagen, es sei zwar nicht gut, aber notwendig, dass man sie trenne, aber wie intelligent ist so ein Tun vor dem Hintergrund aller Argumente, die dagegen sprechen? Liegen nicht in der Sache selbst genug Gründe dafür vor, Familien zusammenzuhalten? Oder nehmen wir den Fall Kashoggi: Natürlich gibt es gute Gründe, dass man die Beziehungen zu Saudiarabien nicht kappt, unter anderem wirtschaftliche Interessen, aber gibt es da nicht auch mehr und bessere Gründe, die Saudis zu sanktionieren, weil es sich aus den Umständen ergibt?
Das sind doch moralisch relevante Fragen, und sie ergeben nur Sinn vor dem Gründehorizont und nicht auf dem Ursachenteppich stehend.
Das ist ja das Wesen des Problems in der Strassenbahn, ihr erinnert euch: Kann ich und soll ich verhindern, dass das geschieht, was auf Ursachen basierend geschehen muss, gegeben die Fähigkeit meiner Einflussnahme? Gibt es eine Pflicht, diese Fähigkeit zur Erreichung eines gesollten Zustands wirksam werden zu lassen? Und ich meine, ja, die gibt es, nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Umsicht und Einsicht.

Moralität hat es an sich, dass sie nur aus eigener Freiheit erkannt werden kann, indem sich das Subjekt die entsprechende argumentative Basis gibt, sie auch zu erkennen. Es ist qua Anwendung der Vernunft, dass wir unsere Handlungen hinsichtlich eines gesollten Zustands optimieren. Nun kann man dies aber nicht einfach erzwingen, es gibt auch keine Notwendigkeit zur Einsicht in die moralischen Argumente, sonst gäbe es ja nirgends Krieg und Totschlag, aber es gibt eine Notwendigkeit der Richtigkeit selbst als das Gute überhaupt. Diese ergibt sich aus der Wahrheit der widerstreitenden ontischen und ontologischen Sachverhalte zu allererst, also aus dem Widerstreit zwischen Sosein der Sachverhalte und den persönlichen Einstellungen, die darin eingewoben sind. Wir können uns nicht wegdividieren als denkende, fühlende, auch mitfühlende, intelligente Wesen: Wir können wohl, aber das ist nun eben nicht intelligent: Denn nur, wo Intelligenz sich einbringt, ist sie auch tatsächlich: Intelligenz ist immer praktische Intelligenz.

So also müssen wir doch anerkennen, dass es Sachverhalte gibt, bei denen unsere Einstellungen einfach relevant werden mit Blick auf ein bestimmtes Tun, nämlich insofern, als sie uns auffordern, Stellung zu beziehen. Einstellungen zu haben bedeutet, Stellung zu beziehen zu den Tatsachen in der Welt und mit ihnen zu interagieren, aber eben nicht wie ein Stein, der den Berg hinunterrollt, weil er sich loslöst und als Verursachtes Bewirktes ist, sondern als Prinzipiensetzendes, das verantwortungsvolles Handeln möglich macht. Gründe sind so gesehen moralische Ursachen und wir die 'unbewegten ersten Beweger'.

Dass es nun wiederum sich widersprechende Einstellungen gibt, bedeutet nicht, dass die Richtigkeit des Handelns relativ wäre, also, dass etwas richtig wäre mit Bezug auf diese Einstellung, falsch mit Bezug auf die andere, sondern zeigt, dass Wahrheit pluralistisch ist, dass sie komplex ist und würdig ist, vom Konkreren her betrachtet zu werden. Denn es ist nicht einmal richtig, jemandem zu schaden und das andere mal nicht, je nach dem, wer was denkt, sondern einmal richtig und einmal falsch, je nachdem, welche guten, in der Sache selbst liegenden Gründe dafür sprechen. Es kann gut sein, jemanden wie die Saudis zu bestrafen, ihnen also Schaden zuzufügen, aber doch nicht, weil wir wir sind und sie sie, sondern weil sie einem gut begründeten Recht geschadet haben, das über alle Subjektivität Existenzrecht hat: Meinungsfreiheit, Menschenrechte etc.
Das ist doch die Kernfrage hier und nicht, ob Paul Schokoladeneis mag und Jana Schlangen.
Zuletzt geändert von Alethos am So 21. Okt 2018, 13:39, insgesamt 1-mal geändert.



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So 21. Okt 2018, 13:37

Alethos, offensichtlich sind wir uns nicht einig.

Wir haben hier drei Fälle, wo es um eklig geht. Die Schlange, das Hühnerei, und die sich küssenden schwulen Männer. Die Fälle sind, obwohl es um das identische Gefühl eklig geht, ziemlich unterschiedlich, werden aber mit dem gleichen Maßstab beurteilt. Irgendwoher kommt auf der intentionalen Ebene dann eine Tatsache, eine wahre Tatsache, Eigenschaft, die sagt, sorry aber du irrst Dich in Deinem Gefühl über diese Tatsache.
Grob gesagt findet die Hälfte der Menschheit Schlangen eklig, die andere Hälfte nicht. Und nun? Wessen Tatsache ist jetzt wahr? Wer irrt? Alle dann wohl, oder?

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 12:27
Die "innere Empfindung" ist falsch, weil sie die Wirklichkeit nicht so darstellt, wie sie ist. Es ist einfach über Küsse von Schwulen nicht wahr, dass sie eklig sind. Das heißt, die gefühlte Tatsache liegt nicht vor.
Was ist das anderes als eine Wertung, die zu einer Normierung und damit zu einer Sanktion führen kann?
Wir sagen, die Wirklichkeit stellt sich nicht so dar, wie die innere Empfindung ist, also ist diese falsch. Der andere sagt, nein die Wirklichkeit ist so, wie ich es empfinde. Und nun?

Auch wenn es im Fall der Küssenden schwer fällt, ich muss erstmal akzeptieren, dass der andere es als eklig empfinde. Für ihn ist die innere Empfindung richtig. Woher kommt jetzt meine Berechtigung, ihm zu sagen, deine innere Empfindung ist falsch?
Diese Aufteilung in phänomenaler und intentionaler Ebene birgt in meinen Augen die Gefahr, dass neben der
Gleichmacherei der vielfältigen individuellen Gefühle,die dadurch entsteht, weil ein einheitlicher Maßstab auf diese angewendet wird, vor allem die Gefahr, dass das Gefühl sanktioniert wird. Die Berufung auf die Möglichkeit des Irren als objektives Kriterium für eine wahrheitsfähige ist eigentlich eine Wertung, eine Bewertung. Falsch oder richtig. Über ein Gefühl?

Wenn in dem Beispiel mit den Küssenden, der andere, wenn er sein Gefühl nach außen kundtut, dabei jemand beleidigt wird, kann ich diese Handlung sanktionieren. Aber nicht das Gefühl. Die Handlung kann normiert werden, aber nicht das Gefühl, was eine Handlung hervorbringt.

Und wir sind hier noch nicht mal bei den Schwergewichten der menschlichen Gefühle, verliebt sein, Liebe und der Hass.



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So 21. Okt 2018, 13:57

Stefanie hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 13:37
Alethos, offensichtlich sind wir uns nicht einig.

Wir haben hier drei Fälle, wo es um eklig geht. Die Schlange, das Hühnerei, und die sich küssenden schwulen Männer. Die Fälle sind, obwohl es um das identische Gefühl eklig geht, ziemlich unterschiedlich, werden aber mit dem gleichen Maßstab beurteilt. Irgendwoher kommt auf der intentionalen Ebene dann eine Tatsache, eine wahre Tatsache, Eigenschaft, die sagt, sorry aber du irrst Dich in Deinem Gefühl über diese Tatsache.
Grob gesagt findet die Hälfte der Menschheit Schlangen eklig, die andere Hälfte nicht. Und nun? Wessen Tatsache ist jetzt wahr? Wer irrt? Alle dann wohl, oder?
Ich würde nicht behaupten, dass sinnliche Empfindungen oder Gefühle falsch sind, sie haben ja ihren Gegenstand in sich selbst. So wie die Aussage: 'Köln ist keine Stadt in Deutschland' ja auch nicht falsch ist, sondern nur in Anwendung auf die nichtsprachliche Tatsache falsch ist, da es sich nun eben so verhält, dass Köln eine deutsche Stadt ist. Eine Schlange ist nicht eklig, aber auch nicht niedlich, sie ist weder noch, und wenn wir sagen, sie sei eklig, dann meinen wir im Grunde ja nur, dass wir sie eklig finden. Es gibt an der Schlange selbst nun Merkmale, die diese Einstellung begünstigen können, insofern ist die Einstellung relational, sie ist intentional, weil sie sich auf etwas bezieht, aber Gegenstand der Empfindung ist nun eben das Phänomen der Empfindung selbst.

Ekelgefühle sind für mich daher keine Gründe. Falls sie für dich Gründe sind, dann haben wir tatsächlich einen Dissens.
Aber aus dem Ekelgefühl folgt kein Sollen in der Art: 'Weil alle Menschen schwule Küsse eklig finden, muss man sie verbieten.' Denn das Ekelgefühl selbst begründet keine Richtigkeit, da es ja kein Grund ist, wenn es auch immer wieder als Grund herhalten muss. Dass wir sagen: 'Der Grund für meine moralische Einstellung ist mein Ekelgefühl' täuscht eine argumentative Relevanz vor, wo keine ist. Ekel- oder Freudempfindungen funktionieren nach den Muster: 'Ist so, weil ist so.', das ist offensichtlich tautologisch und auch moralisch völlig uninformativ.
Die Frage betreffend die Handlungsnormen ergeben sich nicht aus diesen isolierten Sachverhalten, denn auch mein Ekelgefühl ist ja ein objektiver Sachverhalt, sondern aus dem Abwägen komplexer Gründestrukturen, die unser Zusammenleben steuern. Nur vernunftgeleitete Differenzierungen, die die vielfältigen Aspekte würdigen, sind moralisch relevant mit Blick auf die Normativierung, sofern sie Einsicht in die Richtigkeit selbst möglich machen. Ein Aspekt mag das Ekelgefühl sein, aber er ist einer unter vielen und es gilt, diese argumentative Pluralität herauszuarbeiten.
Zuletzt geändert von Alethos am So 21. Okt 2018, 14:06, insgesamt 2-mal geändert.



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So 21. Okt 2018, 13:59

Stefanie hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 13:37
Was ist das anderes als eine Wertung
Nichts. Es ist ein Werturteil. Viele Gefühle erlauben uns die Wirklichkeit der Werte zu erkennen. Auch wenn das nicht immer hinhaut.

Wie wir zu den fraglichen Wahrheiten kommen, ist eine epistemische Frage und keine Frage der Ontologie der Gefühle. Auch bei anderen Ansichten gibt es schließlich Meinungsverschiedenheiten, oft sogar erhebliche, aber daraus folgt keineswegs, dass solche Ansichten nicht wahr oder falsch sein können. Ich kann auch keine Gefahr darin sehen, dass viele Menschen, die ethischen Tatsachen erkennen und auch anerkennen. Gerade in den Zeiten, die wir aktuell erleben, finde ich das zunehmend wünschenswert.

Wenn wir unseren Kindern das Rechnen beibringen, nennen wir das übrigens auch keine Gleichmacherei.

Wir können gerne mal einen Thread über den Epistemologie der Werte machen. Vieles davon dürften wir mitbringen, manches lernen wir. Anderes ergibt sich aus Nachdenken und diskutieren. Wobei Diskutieren ja bereits eine Ethik beeinhaltet. In der Philosophie machen wir es oft mit Gedankenexperimenten. Dabei werden manchmal verschiedene Intuitionen oder Ansichten aufgerufen, die in Konflikt geraten können gegeneinander gestellt und man überlegt dann, wie man die konfliegierenden Ansichten zusammen bringen kann, wo man die Stellschrauben drehen muss. Oft geht es um einfache Tatsachen - etwa die, dass jeder den anderen ein anderer ist. Oder, dass die meisten Lebewesen empfindungsfähig sind - vielleicht kommt man an dieser speziellen Stelle nicht tiefer als zu intuitiv einsichtigen Wahrheiten, wie zum Beispiel der, dass wir immer Gründe haben, Leid zu vermeiden.




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So 21. Okt 2018, 15:19

Alethos hat geschrieben : Das ist doch die Kernfrage hier und nicht, ob Paul Schokoladeneis mag und Jana Schlangen.
Alethos hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 13:57
Ekelgefühle sind für mich daher keine Gründe.
Schön, dann sind wir hier mal nicht einer Meinung :-) Ich hatte weiter oben das Beispiel mit dem Vanille-Eis gebracht. Dass ich es mag, liefert mir einen Grund, es zu essen. Der Grund mag nicht entscheidend sein, aber das müssen wir an dieser Stelle nicht klären. Ähnlich liegt es mit dem Ekel des Kinobesuchers. Die Tatsache, dass er sich vor küssenden Männern ekelt, liefert ihm einen Grund, solche Filme zu meiden. Beides, das Mögen des Eis' und der Ekel vor Schwulenküssen sind (wenn man es so nennen mag) subjektive Einstellungen. Und beides liefert objektive Gründe. Objektiv heißt hier zumindest zweierlei: Erstens: Die Gründe sind "objektgegeben" (das ist der Begriff, den Parfit nutzt) sie werden uns von Tatsachen geliefert. Zweitens: Die Gründe sind objektiv, weil sie tatsächlich für die entsprechende Handlung oder Ansicht sprechen.

Ekel liefert nach meiner Einschätzung durchaus Gründe für dieses oder jenes. Und zwar auch unabhängig davon, ob er etwas wahres über seinen Gegenstand besagt. Und auch unsere persönlichen Vorlieben und Abneigungen können uns Gründe liefern, dies oder das zu tun. (Das heißt aber nicht ineins, dass diese Gründe in jeder Hinsicht angemessen und/oder entscheidend sind.)

Aber die Ethik ist natürlich ein Bereich, der nicht in unseren persönlichen Vorlieben aufgeht. (Auch wenn die Frage nach dem guten Leben natürlich auch ein Teil der Ethik ist.) Die Fragen, um die es da geht, gehen nicht darin auf, ob Paul Schokoladeneis mag und Jana Schlangen, wie du zurecht geltend machst. Bei schieren Geschmacksfragen hat es keinen Sinn, die eigenen Vorlieben zu verallgemeinern. In schätze, es gibt keine Tatsachen darüber, welche Eissorte objektiv am schmackhaftesten ist. Dieser Punkt führt anscheinend leicht zur Verwirrung. Es gibt aber Tatsachen zu der Frage, ob Schwulsein eklig ist. Und das ist offensichtlich nicht der Fall, auch wenn es viele Generationen anders sahen. (Wer glaubt, die ganze Ethik ist Geschmacksache wird bei diesen Punkten natürlich nicht mitmachen und/oder sie systematisch verwechseln.)

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Aus ich glaube, dass p, folgt nicht, dass p. Wichtig: Die Tatsache, dass ich glaube, dass p, kann natürlich ganz andere Gründe liefern als p selbst. Diese Aspekte sollte man auseinander halten.




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So 21. Okt 2018, 15:58

Vermutlich ist die Vorstellung Gefühle seien "subjektiv", "privat" oder etwas "Inneres" ein Kind der Vorstellung, Wahrnehmungen seien etwas Inneres oder subjektives, so dass man eigentlich nur die eigenen Wahrnehmungen wahr nimmt. Dazu ein Zitat von John Searle, was ich immer Mal wieder herauskrame :-)

“… Der größte Irrtum - vermutlich geht er zurück bis zu den alten Griechen - war ein falsches Verständnis von Wahrnehmung, das besagt: »Du kannst die wirkliche Welt nicht sehen.« Du kannst nur sehen, was in deinem eigenen Geist vorgeht, in deinem Sehsinn und den anderen Sinnen. Was dir bewusst ist, sind nur Repräsentationen, wie Kant sie nannte.

Dafür gibt es ein schlechtes Argument: Du glaubst, deine Hand vor deinem Gesicht zu sehen. Aber es könnte auch eine Halluzination sein. Was siehst du in diesem Fall? Irgendwas nimmst du wahr. Es muss deine eigene Wahrnehmung sein. Weil aber das Erleben im Fall einer Halluzination und im Fall einer echten Wahrnehmung gleich sind, müssten beide Fälle gleich sein. Also müsse man dasselbe wahrnehmen.

Alles, was man je sieht, sei die eigene Wahrnehmung. Das ist der größte Fehler der Philosophie in den letzten 400 Jahren, und er hat viele Namen: Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Leibniz, Spinoza, Kant, Hegel, Mill. Ein übles Desaster nach dem anderen. Das Ganze beruht auf einem Irrtum, der aus einer Zweideutigkeit im Verständnis von Wahrnehmung herrührt. Wenn ich meine Hand wahrnehme, dann ist die Hand nicht identisch mit meiner Wahrnehmung von ihr. Wenn ich hingegen eine Halluzination von meiner Hand habe, dann ist der Gegenstand meiner Wahrnehmung identisch mit meiner Wahrnehmung dieses Gegenstands. Es ist gerade die Wahrnehmung selbst. Das Versäumnis, diese Zweideutigkeit zu sehen, wiederholt in Hunderten Formen, ist verantwortlich für die moderne Epistemologie.

Jetzt nämlich stellt sich die Frage: Wie kann man etwas über die Welt jenseits unserer Repräsentationen wissen, wenn alles, was man wahrnimmt, die eigenen Repräsentationen sind? Descartes und Locke gaben die Antwort, dass unsere Wahrnehmung ein Bild der äußeren Welt ist. Hume und Berkeley sahen ein, dass das sinnlos ist. Es ergibt keinen Sinn, dass eine Welt aus Bildern der anderen besteht, wenn diese andere unsichtbar ist.

Aber die eigentliche Katastrophe brach mit Kant herein. Er verkündete: Zwar sei alles, was man wahrnehmen kann, die eigenen Repräsentationen. Aber da gebe es eine Welt jenseits davon, die Welt des »Ding an sich«. Nur könne man über die nichts wissen. Dann sah Hegel, dass auch das keinen Sinn ergibt. Lasst uns dieses Ding an sich loswerden! Dann kam der wirklich katastrophale Fehler: zu sagen, dass alles, was es wirklich gibt, unsere subjektive Welt ist. Das ist der Idealismus. Ein kolossales Desaster.” (John Searle)




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Alethos
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So 21. Okt 2018, 16:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 15:19
Alethos hat geschrieben : Das ist doch die Kernfrage hier und nicht, ob Paul Schokoladeneis mag und Jana Schlangen.
Alethos hat geschrieben :
So 21. Okt 2018, 13:57
Ekelgefühle sind für mich daher keine Gründe.
Schön, dann sind wir hier mal nicht einer Meinung :-) Ich hatte weiter oben das Beispiel mit dem Vanille-Eis gebracht. Dass ich es mag, liefert mir einen Grund, es zu essen.
Natürlich gibt ein Geschmacksempfinden Anlass, etwas zu tun oder zu lassen, in diesem Sinne liegt in ihnen eine Erklärungskraft, meine ich, die eine Einstellung begründen kann. Aber dabei handelt es sich nicht um einen Grund, sondern um eine Verfasstheit, denn obwohl ich sagen kann: 'Weil p, tue ich q', kann ich es doch nicht in der Art einer begründeten Handlung tun, sondern rekurrierend auf das gegebene Sosein meines Geschmackssinns. Ich kann gar nicht begründen, warum ich dieses oder jenes mag, ich kann nur begründen, dass ich dieses oder jenes tue, weil ich es mag. Und darum kann es auch nicht falsch sein, dieses oder jenes zu mögen, entgegen deiner eigenen Feststellung :) Denn nur, wo ich entscheiden kann, also setzen kann, dass etwas ist, da kann es richtig oder falsch geben. Bei 'Ich mag es' oder 'ich mag es nicht', da ist keine Richtigkeit dabei, denn es ist auch kein weiterer Grund da, aus dem sich ableiten liesse die Richtigkeit oder Falschheit.

Gründe kommen, in dem mir vorschwebenden Sinn, nur vor in sich gegenseitig herausfordernden Sachverhalten, also in minimalkomplexen Begründungszusammenhängen. Ja, ich habe Anlass dies oder jenes zu tun, je nach dem, wie ich empfinde, aber es ist als solches isoliertes Moment einfach nur das: ein weiterer Sachverhalt unter vielen, aus denen im Gesamt erst Handlungsoptionen erwachsen. Wenn du so willst, halte ich Geschmacksurteile für Scheinurteile, die nur im Verbund mit anderen Sachverhalten überhaupt Urteilscharakter erhalten.
Und erst über Urteile, die wirkliche sind, lässt sich diskutieren, über Geschmack lässt sich aber weder streiten noch argumentieren, denn darin allein kann weder Richtigkeit, Falschheit noch Einsehbarkeit sein, sondern blosses Sein.

Wenn ich farbenblind bin und Rot und Grün nicht unterscheiden kann, dann ist das vielleicht der Grund für meine Handlung, bei Rot über die Ampel zu fahren, aber die Farbenblindheit ist kein Grund, Rot für Grün zu halten. Dass ich beide Farben verwechsle hat keinen Grund in meiner Farbenblindheit, auch wenn wir so reden, sondern eine Ursache. Ich kann gar nicht anders wollen, als Rot und Grün nicht unterscheiden zu können. Farbenblindheit ist aber deshalb auch kein Grund, sondern einfach ein weiteres Sein unter vielen, daraus Gründe erwachsen können, sofern sie sich Subjekte geben. Da sind sie durch die Sache, aber sie müssen als Prinzipien argumentativ erschlossen werden oder wenigstens erschliessbar sein.

Wenn wir unsere Gründe auf Geschmackseinstellungen gründen, dann haben wir zum Ergebnis ein Verursachtsein unseres Handelns, das sind dann aber keine Gründe, oder aber Gründe und Ursachen sind einerlei, was ich nun nicht glaube.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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