Philosophische Reflexionen der Gefühle

Mit Beginn der 1920er Jahre bilden sich in der deutschen Philosophie die Disziplinen der Philosophischen Anthropologie und der Lebensphilosophie aus, deren Grundfragen in den 1990er Jahren eine Renaissance erleben.
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Jörn Budesheim
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Di 30. Jul 2019, 06:09

Alethos hat geschrieben :
Mo 29. Jul 2019, 12:44
Das jeweils empfindende Subjekt ist ja kein allgemeines, sondern ein ganz konkretes Einzelnes, und wie wir feststellten, spielt es in der Struktur der emotionalen Situation eine nicht wegzudenkende Rolle. Das macht die Emotionsbegriffe nicht zu subjektiven, aber auch nicht zu eindeutigen.
In einer gewissen Hinsicht ist das bei Begriffen, die wir anwenden, schließlich immer so! Vor mir steht ein ganz konkretes Einzelnes, nichtsdestotrotz fällt es (neben anderen) unter den Begriff Tisch. Ich selbst bin ein konkretes Einzelnes und dennoch falle ich unter eine ganze Reihe von Begriffen, z.b. Deutscher, Mensch, Großvater etc. Und so ist es bei subjektiven emotionalen Situationen auch, wenn bestimmte Parameter gegeben sind, dann handelt es sich dabei ggf. um Angst, Ekel, Freude und anderes mehr, auch wenn die Situation eine ganz konkrete und einzigartige ist. So wie sie in diesem Moment ist, wird sie und kann sie sich nie wiederholen, dennoch kann sie unter bestimmte allgemeine Begriffe fallen. Das Gleichsetzen von Ungleichem ist im Grunde das Wesen der Begriffe.




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Friederike
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Di 30. Jul 2019, 11:56

Alethos hat geschrieben : Selbstverständlich wäre es unangemessen, vor kleinen Küken Angst zu haben. Es gibt schlicht keinen driftigen Grund dazu. Aber dürfen wir denn jemandem sagen, der nun einmal Angst vor Küken hat, dass er sich irre? Es gibt ja einen Grund (ein Gedanke, ein Erlebnis vielleicht), der diese Angst hervorbringt, wodurch sich diese Angst rationalisieren lässt. Das muss nicht nur eine Ausnahme sein, dass jemand anders fühlt, als man es gegeben die Fakten für verständlich hielte und diesen Punkt müssen wir machen, wenn wir den Bogen zu den objektiven Werten schlagen wollen.
Jörn hat geschrieben : Ich hab Mal aufgezeichnet, wie ich die (engere) Struktur verstehe. Sie hat drei Elemente:
•(s) Die Person oder das Subjekt.
• (o) das Objekt bzw. den Gegenstand der Angst (hier die Schlange)
•(fo) und das formale Objekt, hier das Beängstigende, bzw das Gefährliche.
Vielleicht gibt (fo) einen weiterführenden Hinweis auf Deinen Einwand bzw. Deine skeptische Überlegung @Alethos, denn was das Gefährliche oder Beängstigende ist, das ist ein weites, d.h. nicht sonderlich spezifiziertes Feld. Erst dann, wenn man hinzufügt, in welcher Hinsicht "gefährlich" oder "beängstigend", dann erfaßt man damit die individuumsbezogenen Eigenarten.




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Alethos
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Di 30. Jul 2019, 13:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 30. Jul 2019, 05:40
Alethos hat geschrieben :
Mo 29. Jul 2019, 12:44
... wäre es unangemessen, vor kleinen Küken Angst zu haben. Es gibt schlicht keinen driftigen Grund dazu. Aber dürfen wir denn jemandem sagen, der nun einmal Angst vor Küken hat, dass er sich irre? Es gibt ja einen Grund (ein Gedanke, ein Erlebnis vielleicht), der diese Angst hervorbringt, wodurch sich diese Angst rationalisieren lässt.
Ja, dürfen* wir. Das dürfen wir genauso, wie wenn er glaubt, dass Küken sei blau. Immer gibt es Ursachen oder Gründe für eine verfehlte Wahrnehmung, aber das ändert nichts daran, dass sie verfehlt ist, das heißt, dass sie die uns die Wirklichkeiten anders präsentiert, als sie sind.

*In vielen Fällen sollten wir sogar. Denn die fragliche Person hat nicht wirklich im Wortsinne Angst, sondern sie leidet unter einer Phobie. Und hier muss man sehen, wie man helfen kann.
Diese konsequente Haltung gefällt mir, zeigt sie doch, dass Wahrheit in diesem Punkt für dich nicht verhandelbar ist.

Es will mir aber nicht ganz in den Kopf, dass alle Situationen so eindeutige sein sollen, wie die oben Beschriebene. Beim Zorn z.B. haben wir es ja auch mit einem Gegenstand zu tun, der meinen Zorn entfacht, des Anderen Zorn aber vielleicht kalt lässt. Da ist es nicht mehr so eindeutig. Verstehe mich richtig, ich versuche hier nicht, einem Relativismus das Wort zu reden. Vielmehr möchte ich zum Kern der objektiven Struktur vorstossen und verstehen, warum z.B. jemand Zorn auf etwas empfinden kann und jemand auf das vielleicht genaue Gegenteil. Weil gilt, dass ein Drittes nicht gegeben ist, entweder der eine oder der andere also irrt, so fragt sich doch, welches die objektiven Kriterien sind, nach denen sich die Richtigkeit des einen resp. die Unrichtigkeit des Anderen messe liesse. Warum ist ein Unrecht, anders gefragt, das für mich eindeutig eines ist, für andere keines oder kein so grosses, dass sie darüber zornig werden? Konkretes Beispiel: Migration über das Mittelmeer. Wie könnte das Argument der Sache entlang aufgebaut sein, dass es uns allen, die wir mit der gleichen Situation konfrontiert sind ('Menschen sterben wegen restriktiver Migrationsgesetzen im Mittelmeer'), gleichermassen emotional motiviert? Es tut es offenbar nicht, aber es muss auch hier eine konsequente Haltung geben, die richtig ist und die zur Einsicht zwingen kann, dass nach ihr zu handeln gesollt ist - dass es eine Pflicht ist, diesen Menschen zu helfen und sie nicht im Stich zu lassen.



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Alethos
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Di 30. Jul 2019, 13:44

Friederike hat geschrieben :
Di 30. Jul 2019, 11:56
..was das Gefährliche oder Beängstigende ist, das ist ein weites, d.h. nicht sonderlich spezifiziertes Feld. Erst dann, wenn man hinzufügt, in welcher Hinsicht "gefährlich" oder "beängstigend", dann erfaßt man damit die individuumsbezogenen Eigenarten.
Das ist genau der Punkt, Friederike. Hier dringen wir zum Widerstreit zwischen Einzelding (meine spezifische Angst) und der Universalität der Wahrheit dieser Angst (die Angst vor Küken überhaupt) vor. Das formale Objekt will ja ein allgemeines sein, insofern es die Emotion in möglichst vielen (Einzel-)Fällen unter sich fassen soll. Das Beängstigende, das Erfreuliche, das Erzürnende etc. soll das leisten können. Aber tut es das? Es sind ja sozusagen nur Verdoppelungen für die empfundene Emotion: 'Ich empfinde Zorn wegen des Erzürnenden', 'Das Beängstigende macht mir Angst.' Ich habe mit dieser Begrifflichkeit keinen Erkenntnisgewinn mit Bezug auf das Spezifische der Situation, zu der unsere je persönlichen Gründe objektiv gehören.

Es muss das formale Objekt dem Situationstypischen, dem vielleicht auch Einzigartigen Rechnung tragen können. Aber allgemeine Wahrheitskriterien laufen immer Gefahr, den (fregeschen) Sinn von Wahrheit entweder gar nicht zu erfassen oder soweit alles unter sich zu vereinigen, dass damit wenig gewonnen ist.

Wenn ich dich aber z.B frage: 'Warum hast du Angst vor Küken, Friederike?', und du mir sagst: 'Weil ich als Kind ein schreckliches Erlebnis hatte und sie mich immer wieder an diese Angst erinnern. Es fühlt sich aus diesen und diesen Gründen so und so an.', dann kommen wir vielleicht in ein Gespräch. Das ist dann eine im besten Fall diskursive Situation, aber kein Gespräch, in welchem ich berechtigt wäre zu sagen, dass du falsch liegen würdest. Denn es ist doch offenbar etwas anderes, ob wir uns darüber unterhalten, ob das Küken gelb oder blau ist, oder ob wir uns darüber unterhalten, wie du dich mit Betreff auf dieses Küken fühlst.



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Di 30. Jul 2019, 20:28

Alethos hat geschrieben :
Di 30. Jul 2019, 13:44
Es sind ja sozusagen nur Verdoppelungen für die empfundene Emotion
Man könnte vielleicht sagen, dass das formale Objekt zum Begriff der fraglichen Emotion gehört. Zur Trauer - das hatten wir weiter oben gesagt - gehört der Verlust von etwas Wertvollem - das ist das formale Objekt der Trauer. Damit eine Emotion angemessen ist, muss das (intentionale) Objekt (also das, woran getrauert wird) hier "einhaken" können. Der Verlust eines Tempotaschentuchs dürfte hier in der Regel unangemessen sein, auch wenn man sich sicherlich hier mit etwas Fantasie Ausnahmefälle ausmalen kann.




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Di 30. Jul 2019, 22:23

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 30. Jul 2019, 20:28

Man könnte vielleicht sagen, dass das formale Objekt zum Begriff der fraglichen Emotion gehört. Zur Trauer - das hatten wir weiter oben gesagt - gehört der Verlust von etwas Wertvollem.
Ja, das trifft es wohl besser. Ich wollte im Übrigen auch nicht unterstellen, dass du einen so platten formalen Begriff einführen möchtest, wie ich ihn bei meiner Antwort an Friederike suggerierte.



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Mi 31. Jul 2019, 10:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 30. Jul 2019, 20:28
Man könnte vielleicht sagen, dass das formale Objekt zum Begriff der fraglichen Emotion gehört. Zur Trauer - das hatten wir weiter oben gesagt - gehört der Verlust von etwas Wertvollem - das ist das formale Objekt der Trauer. Damit eine Emotion angemessen ist, muss das (intentionale) Objekt (also das, woran getrauert wird) hier "einhaken" können. Der Verlust eines Tempotaschentuchs dürfte hier in der Regel unangemessen sein, auch wenn man sich sicherlich hier mit etwas Fantasie Ausnahmefälle ausmalen kann.
Falls ich an einer ähnlichen Stelle vor Monaten schon dasselbe angemerkt hatte, bitte ich um Nachsicht. Einer der Ausnahmefälle für die Trauer und ihre Angemessenheit wegen eines verlorenen Tempotaschentuchs könnte der sein, daß eine geschätzte und geliebte Person auf dem Taschentuch seine/ihre Zuneigung bekundet hat. Das zeigt mE den Nutzen der Unterscheidung von Objekt und formalem Objekt. Das formale Objekt gehört definitorisch begrifflich zu einem bestimmten Gefühl, soll es denn dieses bestimmte Gefühl sein. Das Objekt selbst hingegen, das zum Gegenstand eines Gefühl wird, das ist in keiner Weise festgelegt, da sind die Spielräume weit.

Das sieht man, meine ich, auch an dem von Dir eingeführten Beispiel @Alethos, den flüchtenden Menschen und ob man sie sterben läßt oder ob man sie aufnimmt. Zu Zorn würde ich, wie Du, das Unrechte als formales Objekt ansehen (vielleicht gibt es noch andere formale Objekte; das Rechte jedenfalls kann nicht das formale Objekt von Zorn sein). Wie man nun aber die Situation/den Sachverhalt, der dem Objekt entspricht, bewertet (ist die Hilfeleistung Recht oder Unrecht), das ist durch das Gefühl "Zorn" nicht festgelegt.




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Fr 2. Aug 2019, 12:30

Friederike hat geschrieben :
Mi 31. Jul 2019, 10:14
Zu Zorn würde ich, wie Du, das Unrechte als formales Objekt ansehen (vielleicht gibt es noch andere formale Objekte; das Rechte jedenfalls kann nicht das formale Objekt von Zorn sein). Wie man nun aber die Situation/den Sachverhalt, der dem Objekt entspricht, bewertet (ist die Hilfeleistung Recht oder Unrecht), das ist durch das Gefühl "Zorn" nicht festgelegt.
Auf die Gefahr hin, alles noch komplizierter zu machen: Was heisst in diesem Zusammenhang 'bewerten'? Ich bin der Ansicht, dass man Gefühle verstehbar machen kann, dass sie einen Grund haben, ein formales Objekt, mehrere vielleicht, durch die man ein Gefühl nachvollziehen kann. Das geht aber nur dann, wenn ich mit genügender Distanz zu mir selbst und meinen Beweggründen positioniert bin. Wenn ich im Gefühl drinstecke, z.B. also Zorn fühle, dann findet da kaum ein Bewerten statt. Gut möglich, dass 'es in mir denkt', so dass ich zornig werde und ich mir bloss dessen nicht bewusst bin. Aber es ist vielmehr die Regel, dass ich meinen Gefühlen bis zu einem gewissen Grad ausgeliefert bin. Vielleicht heisst 'bewerten' in diesen Momenten, das Gefühl überhaupt zu haben und zunächst unbewusst bleibende Reflexionen wirksam sein lassen.
Aber sobald ich bewusst bewerte und reflektiere, mich damit auch auf gewisse Distanz zur Situation bringe und mich mit mir in ihr beschäftige, dann klingt das Gefühl ab, es verliert an Dynamik und Kraft und ich gewinne die Oberhand. Gefühle sind dann so etwas wie Krisensituationen, aus deren Gefahrenbereich man sich auch entfernen kann und manchmal
muss, um die Lage neu einzuschätzen, zu bewerten.



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Jörn Budesheim
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Fr 2. Aug 2019, 14:57

Bild

Ich habe meinen Angst Diagramm noch mal etwas überarbeitet.




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Friederike
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Fr 2. Aug 2019, 15:23

Alethos hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 12:30
Auf die Gefahr hin, alles noch komplizierter zu machen: Was heisst in diesem Zusammenhang 'bewerten'?
Ich meinte damit was ganz Einfaches :lol: ... daß das Zorn(-gefühl) dann entsteht, wenn man einen Sachverhalt, eine Situation für "unrecht" hält. Der Zorn impliziert oder besser noch, er setzt diese Bewertung voraus, andernfalls würde man nicht zornig. Das Gefühl ist also mit einem Gedanken verbunden, auch wenn man sich dessen im Moment des Zornes nicht bewußt sein muß oder nicht bewußt ist. Das ist der kognitive Aspekt der Gefühle. Und ja, insofern kann es vorkommen, daß man ein Gefühl erlebt, dies konstatiert und über das Gefühl, wenn man es reflektiert, dann den gedanklichen Hintergrund erst mitkriegt. Von dem man zuvor vielleicht gar nicht wußte, daß man ihn hat. Zumindest verläuft der Prozeß nicht andersherum. Man sieht in einem Sachverhalt ein Unrecht und sagt sich, daß nun die Zornesreaktion angemessen ist. Ergo wird man zornig.




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Alethos
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Fr 2. Aug 2019, 16:47

Friederike hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 15:23
Alethos hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 12:30
Auf die Gefahr hin, alles noch komplizierter zu machen: Was heisst in diesem Zusammenhang 'bewerten'?
Ich meinte damit was ganz Einfaches :lol: ... daß das Zorn(-gefühl) dann entsteht, wenn man einen Sachverhalt, eine Situation für "unrecht" hält. Der Zorn impliziert oder besser noch, er setzt diese Bewertung voraus, andernfalls würde man nicht zornig.
Ja, das habe ich schon verstanden, glaube ich jedenfalls :) Die Emotion wird durch eine Bewertung ausgelöst, die mit einer Situation einhergeht: z.B. entsteht das Unrecht, wenn jemand auf der Strasse verprügelt wird, in der Situation, d.h. es kommt mit dem Umstand, dass jemand auf einen anderen einschlägt. In diesem Umstand ist das Unrecht bereits eingefasst. Das Unrecht als Unrecht erkennen, heisst die Situation bewerten und diesen Wert zu empfinden, löst den Zorn aus (wobei man hier die genaue 'Psychomechanik' feiner ausarbeiten müsste).

Aber es ging mir mehr darum herauszustellen, dass die Emotion, einmal in Gang gekommen, etwas Gefühltes ist, das einen "überwältigen" kann, ohne auf es unmittelbar einwirken zu können. Bei der Wut, die überschäumt, wird das auch schön deutlich: Gleich aufgewärmter Milch, die am Siedepunkt angelangt, einfach überquillt, weil die reine Zufuhr von Hitze es bewirkt, und deren Überschäumen, einmal stattfindend, ich nicht verhindern kann, wenigstens nicht sofort, so nimmt
eine Emotion, angetrieben durch einen Wert, Fahrt auf und kann nicht unmittelbar zum Stillstand kommen, sondern muss erst abkühlen und abklingen. Oder um es mit einer Zugmetapher auszudrücken: Die Lokomotive bremst nicht von jetzt auf sofort, wenn die Hitze des Feuers ihre Masse erst einmal in Bewegung gebracht hat.

Ich war nie gut darin, die Sachen auf den Punkt zu bringen, aber ich schätze, was ich sagen will, ist, dass wir trotz Vernunftbegabung nicht immer die volle Kontrolle über das Fühlen haben. Manchmal können wir es, manchmal erst nachträglich, und, was tragisch enden kann, manchmal auch zu spät.



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Fr 2. Aug 2019, 17:02

Friederike hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 15:23
.. dass Zorn(-gefühl) dann entsteht, wenn man einen Sachverhalt, eine Situation für "unrecht" hält.
Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob wir das so sagen können. Entsteht Zorn nicht vielmehr, weil Unrecht Unrecht ist? Das Dafürhalten ist vielleicht eine Bedingung dafür, dass man den Zorn fühlt, das Bewerten ist notwendige Voraussetzung für die Emotion. Aber das Unrecht: Es ist doch nicht durch die Bewertung? Vielleicht hast du es auch nicht so gemeint, dann fühle dich nicht bemüssigt zu erwidern. :)



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Fr 2. Aug 2019, 17:32

Alethos hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 17:02
Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob wir das so sagen können. Entsteht Zorn nicht vielmehr, weil Unrecht Unrecht ist? Das Dafürhalten ist vielleicht eine Bedingung dafür, dass man den Zorn fühlt, das Bewerten ist notwendige Voraussetzung für die Emotion. Aber das Unrecht: Es ist doch nicht durch die Bewertung? Vielleicht hast du es auch nicht so gemeint, dann fühle dich nicht bemüssigt zu erwidern. :)
Hm, die -von mir im Zitat unterstrichene- Überlegung finde ich spannend. Ich bin nur im Moment geistig überfordert, :lol: dazu was zu sagen. Das heißt, ich weiß genaugenommen noch nicht einmal, ob ich sie verstehe, Deine Überlegung, meine ich. Vielleicht könntest Du "nachlegen" oder @Jörn, Du springst helfend ein?




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Alethos
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Fr 2. Aug 2019, 19:41

Friederike hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 17:32
ich weiß genaugenommen noch nicht einmal, ob ich sie verstehe, Deine Überlegung, meine ich.
Mein Zweifel gilt der konstruktivistischen Suggestion, Zorn entstehe, weil man eine Situation für unrecht hält.
Und der Zweifel rührt daher, weil ich denke, dass eine Situation unrecht ist, weil sie Unrecht birgt, ungeachtet der Haltungen.



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Fr 2. Aug 2019, 23:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 05:39
novon hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 01:03
Mhhh... Von nicht identischem, oder? Gleichheit ist begrifflich imo vollkommen anders aufgestellt als Identität...?
Hast du vielleicht ein zwei Stichworte, worauf du hinaus möchtest? :)
Nicht sicher. Irgendwie stieß mir die Formulierung auf. Vielleicht so in Richtung einer Überschreitung von Kategoriegrenzen, ein Zirkel sogar, weil Begrifflichkeit etwaiger Gleichheit ganz allgemein ja notwendig vorausgeht, während Identität über Begrifflichkeit quasi hinausragt. Identisches kann verschiedene Begriffe evozieren, etwaige Gleichheit findet sich aber ja erst im begrifflichen Kontext. Eigentlich würde ich da auch eher Differenz einspielen wollen, als nun gerade "Gleichheit"... Ich überleg noch mal, ob es da was zu beackern geben könnte. ;)




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Sa 3. Aug 2019, 07:30

novon hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 23:22
Formulierung
Hier noch mal die Formulierung: "Das Gleichsetzen von Ungleichem" ist wesentlich für Begriffe. Der Gedanke dabei ist eigentlich ganz einfach: es geht darum, etwas als etwas zu sehen. Ein Beispiel: dort und dort stehen zwei Etwasse, sie sind ungleich, allein schon deshalb, weil sie verschiedene Raumzeit-Positionen einnehmen. Dennoch fallen beide unter dem Begriff "Stuhl". Hier habe ich das Ungleiche gleichgesetzt, also unter denselben Begriff gebracht.




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Sa 3. Aug 2019, 08:30

Alethos hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 19:41
Mein Zweifel gilt der konstruktivistischen Suggestion, Zorn entstehe, weil man eine Situation für unrecht hält. Und der Zweifel rührt daher, weil ich denke, dass eine Situation unrecht ist, weil sie Unrecht birgt, ungeachtet der Haltungen.
Weil ich gestern so auf das Objekt, d.h. den Gegenstand des Zornes fixiert gewesen bin, ist mir noch nicht einmal in den Sinn gekommen, Deine Bemerkung, Zorn entstünde, weil Unrecht Unrecht ist, als Aussage über das formale Objekt zu verstehen. Ich bin mir zwar nicht vollkommen sicher, ob dies der Punkt des Mißverständnisses ist, vermute es allerdings.




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Sa 3. Aug 2019, 09:03

@Alethos, neuerlicher Anlauf zum Ausschluß jeden Mißverständnisses. Wenn die Verkäuferin, die ein Brötchen mitgenommen hat, von ihrem Arbeitgeber fristlos gekündigt wird, dann kann man entweder zornig sein, weil man die fristlose Kündigung für Unrecht befindet oder aber man kann zornig sein, weil man den Klau für Unrecht hält. Zum Zorn gehört, damit Zorn Zorn ist, als formales Objekt das Unrecht. Wo man in einer Situation das Unrecht sieht (also entweder die Verkäuferin handelt skandalös oder der Arbeitgeber handelt skandalös) das ergibt sich aber nicht zwingend aus der Situation. Und daran ist doch nichts Konstruktivistisches? Stimmen wir überein?




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Sa 3. Aug 2019, 10:58

Friederike hat geschrieben :
Sa 3. Aug 2019, 09:03
Wenn die Verkäuferin, die ein Brötchen mitgenommen hat, von ihrem Arbeitgeber fristlos gekündigt wird, dann kann man entweder zornig sein, weil man die fristlose Kündigung für Unrecht befindet oder aber man kann zornig sein, weil man den Klau für Unrecht hält. Zum Zorn gehört, damit Zorn Zorn ist, als formales Objekt das Unrecht. Wo man in einer Situation das Unrecht sieht (also entweder die Verkäuferin handelt skandalös oder der Arbeitgeber handelt skandalös) das ergibt sich aber nicht zwingend aus der Situation.
Bin mir nicht sicher, ob wir uns einig sind, da ich nicht genau weiss, ob du mich verstanden hast :) Nochmal: Ob man das Unrecht sieht, ergibt sich nicht aus der Situation, da sind wir uns einig. Dabei meine ich mit Sehen die Fähigkeit zu erkennen. Wenn man das Unrecht nicht sieht (nicht erkennt), dann weil man falsch liegt. Du scheinst mit Sehen etwas zu meinen, das konstitutiv für das Unrecht ist. Unrecht sei, was man dafür hält.

Im obigen Beispiel sind beide Handlungen unrecht, die fristlose Kündigung, weil sie unverhältnismässig ist, wie auch das Stehlen, weil es Entwendung von Eigentum ist. Aber sie sind unrecht doch an sich, und nicht, weil ich sie für Unrecht halte, oder?

Du suggerierst mit folgendem, dass das Unecht aus einer Bewertung folge:
Friederike hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 15:23
.. dass Zorn(-gefühl) dann entsteht, wenn man einen Sachverhalt, eine Situation für "unrecht" hält.
Aber soeben merke ich, dass ich komplett falsch liege :) Du darfst mich gerne pardonieren, Friederike. Der Zorn entsteht durch die Haltung, nicht das Unrecht entsteht durch die Haltung. Das ist das, was du sagst. Ich hatte dir zuunrecht unterstellt, du würdest das formale Objekt als konstruiert darstellen. Mea culpa :?



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Sa 3. Aug 2019, 18:42

Alethos hat geschrieben : Du suggerierst mit folgendem, dass das Unrecht aus einer Bewertung folge:
Friederike hat geschrieben :
Fr 2. Aug 2019, 15:23
.. dass Zorn(-gefühl) dann entsteht, wenn man einen Sachverhalt, eine Situation für "unrecht" hält.
Aber soeben merke ich, dass ich komplett falsch liege :) Du darfst mich gerne pardonieren, Friederike. Der Zorn entsteht durch die Haltung, nicht das Unrecht entsteht durch die Haltung. Das ist das, was du sagst. Ich hatte dir zuunrecht unterstellt, du würdest das formale Objekt als konstruiert darstellen. Mea culpa :?
Neinnein. :lol: Ich fand den von Dir gewählten Ausdruck konstruktivistische "Suggestion" schon sehr passend, weil ich, wie gesagt, auf den Gegenstand des Gefühls fixiert gewesen bin und deswegen, wegen der Fixiertheit, blind war dafür, daß Du eine Aussage über das formale Objekt machst. "Blind" meint, ich verstand noch nicht einmal, wovon Du sprichst. Weil ich aber auf Dich geantwortet habe, mußte es so scheinen, als würde ich das formale Objekt konstruktivieren.

Haha, ich glaube @Alethos, ich stifte mit dem obigen nur Verwirrung. Es klingt irgendwie wirr. Morgen nehme ich mir nochmals den ersten Teil Deiner Antwort von heute Vormittag vor, weil darin könnte, wie ich beim ersten Lesen ahne, noch Diskussionsstoff stecken.




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