ordo planetarum oder von der Verspätung der Wahrheit

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
Nauplios
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Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe!

(Goethe - Gott, Gemüt und die Welt)


Das Licht bedarf der Zeit; keiner Zeit, welche die Schwelle der menschlichen Wahrnehmung überschreiten würde, jedoch einer Zeit, die von kosmischer Relevanz ist und das Licht mit der Entdeckung seiner Geschwindigkeit in einem anderen Licht erscheinen läßt. Es ist ausgerechnet der Himmel, Sitz und Inbegriff des Wahren in der mittelalterlichen Scholastik, der den Menschen täuscht. Abweichungen in den siderischen Entfernungen wurden noch im 17. Jahrhundert als weitgehend bedeutungslos für die Selbstwahrnehmung des Menschen und seiner Belange, soweit diese eine kosmische Dimension hatten, eingeschätzt. Der mittelalterlichen Scholastik galt der Mensch als der designierte Kandidat der kosmischen Veranstaltung. Als terrestrischer Beobachter war er ins Zentrum des kosmischen Innenraums eingesetzt, um das Panorama des Himmelsplafonds, zugeschnitten auf die humanen Bedingungen der Sichtbarkeit, in toto erfassen zu können.

Mit der Entdeckung, daß das Licht sich mit endlicher Größe ausbreitet, das Geschehen am Himmel letztlich um nennenswerte Differenzen von der biblisch verbürgten Kosmogonie abweicht, beschleunigt sich der Prozeß der Genesis der kopernikanischen Welt. Aus dem Panorama der Welt wird der Horizont der Welt, der mit dem Schritt vom Vordergrund zum Hintergrund zurückweicht. Sicht und Einsicht klaffen auseinander wenn das Sichtbare an Dignität für die Einsicht verliert. "Die Irregularität der Erscheinungen im Raum erweist sich als Projektion der fatalen Verspätungen auf die Ebene des gerade Sichtbaren; sie ist das Paradigma für die Verzerrung der Wirklichkeit durch die Zeit, nicht nur und nicht am schmerzhaftesten in der Natur, sondern auch in der Geschichte." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; 125)

Die Wahrheit hatte sich im phainesthai in einer Art Selbstdarbietung geoffenbart und konnte sich zu ihrer Beglaubigung auf den normativen und paradigmatischen Charakter des Kreislaufs der Gestirne berufen. Die Vorgänge am Himmel waren verpflichtend, weil sich darin die Gesetzlichkeiten des ewigen Seins andeuteten. Dafür war die Ruhe des Zuschauers Voraussetzung und sein Rundumblick auf das, was sich im phainesthai von selbst zeigt. Mit Kopernikus´ De revolutionibus orbium coelestium gerät die Himmelslandschaft aus den Fugen, das siderische Panorama löst sich auf. Die Wahrheit kommt, aber sie kommt mit Verspätung. Ihr Zeitverzug ist von Bedeutung, denn der Mensch ist nicht länger Adressat kosmischer Ereignisse. Ein jahrhunderte altes Weltbild erodiert.

In diesem Thread soll es um bewußtseinsgeschichtliche Vorgänge, um den Zugriff des Menschen auf eine Wirklichkeit gehen, die ihn als Menschen ihrerseits ergreift, um die verspätete Wahrheit und ihre Rolle im Prozeß der Selbst- und Weltdeutung des Menschen in der Moderne. -




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Jörn Budesheim
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Mo 15. Jul 2019, 14:39

50 Jahre Mondlandung
Was der Mensch im All sucht
Walther Zimmerli im Gespräch mit Ute Welty

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In wenigen Tagen jährt sich die Mondlandung zum 50. Mal. Was wollte der Mensch dort oben? Er wollte zeigen, dass es einen Weg gibt, wenn es den entsprechenden Willen gibt, meint der Philosoph Walther Zimmerli.

Ute Welty: Was für ein Ereignis ist das gewesen: Der ganze Weltraum im Wohnzimmer, Fernsehen live im Ersten über 28 Stunden, und wir hier im Radio, wir feiern die Mondlandung auch, und zwar die ganze Woche über ...

https://www.deutschlandfunkkultur.de/50 ... _id=453880




Nauplios
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Mo 15. Jul 2019, 17:52

Allzu viel wissen zu wollen, hat von jeher den Argwohn kirchlicher Instanzen bewirkt, insbesondere dann, wenn solche Instanzen den Moraldiskurs von Gesellschaften dominierten. Augustinus´ concupiscentia oculorum, die Augenlust, stand im lateinischen Mittelalter in Verdacht der Weltverfallenheit. Zu sehen, was zu sehen dem menschlichen Auge nur mit erfindungsreichen Listen möglich war, galt als Ausdruck jener von Augustinus in den Lasterkatalog verbannten curiositas, der Neugierde.

(später mehr)




Nauplios
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Mi 17. Jul 2019, 19:58

Die Legitimität der Neuzeit ist insbesondere auch die Legitimität theoretischer Ansprüche in der Auseinandersetzung mit der Natur und den siderischen Phänomenen. Blumenberg knüpft hier an eine Arbeit von Anneliese Maier an: Zwischen Philosophie und Mechanik, in: Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik;, Bd. V. - Im 14. und 17. Jahrhundert vollzieht sich in einem langen Prozeß eine kontinuierliche Distanzierung von der aristotelischen Physik und ihrem traditionellen Bewegungsbegriff. Kopernikus, Kepler, insbesondere die Mechanik Galileis, Leibniz´ mathematische Physik und schließlich die Philosophiae naturalis principia mathematica (Newton) und ihre philosophische Fundierung durch die Kritik der reinen Vernunft sind Wegmarken dieses Prozeßes, in dem sich ein neues Wirklichkeitsverständnis etabliert. Galileis Fernrohr und die Entdeckung der endlichen Lichtgeschwindigkeit durch Romer nötigen zur Einsicht, daß die Vorstellung, der Mensch sei "eingesetzt" ins Zentrum der Welt, alles drehe sich im doppelten Wortsinn um ihn, nicht länger haltbar ist. -

In der Neuzeit hat der Mensch nun eine Perspektive auf das kosmische Geschehen; Nietzsche wird vom Menschen als einem "Eckensteher" sprechen. Dieses Geschehen wird geradezu entkernt von allen transzendenten Instanzen. Das am Himmel Sichtbare erfaßt nicht länger ein theologisch beglaubigter Panorama-Blick, sondern stellt sich zudem auch als in der Zeit kontingent dar. Perspektivität und Kontigenz sind nun zwei bestimmende Faktoren eines neuen Wirklichkeitsbegriffs, den die kopernikanische Welt nötig macht. Das Himmelszelt wird metaphorisch.




Nauplios
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Do 18. Jul 2019, 19:03

Es ist Blumenbergs geschätzter Kollege Bruno Snell, der in seiner fulminanten Studie Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen (1946) das griechische horan als das "Ruhenlassen des Blickes" auf dem eidos, dem "Aussehen von etwas" interpretiert (S. 13ff). Der Wirklichkeitsbegriff der Antike war davon bestimmt, daß dem horan des Betrachters sich das Gesehene in "momentaner Evidenz" (Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 49) zeigt. Dabei wird der Betrachter immer als "ruhend" gedacht, während sich ihm das Gesehene von sich aus darbietet, exemplarisch der Kosmos (im Griechischen ist immer der Bedeutungsaspekt des Schmucks mitzudenken), in dessen Mitte sich - schon aus ästhetischen Gründen - die Erde befindet, um die herum - wieder aus ästhetischen Gründen - der Fixsternhimmel kugelförmig angeordnet ist und die Planeten sich - ebenfalls aus ästhetischen Gründen - kreisförmig um die ruhende Erde bewegen.

Die Planeten sind dabei das Problem, denn für den Beobachter scheinen sie um die Erde herumzuirren, teils unter Umkehr ihrer Bewegungsrichtung. Das gilt insbesondere für Merkur und Venus, aber auch für Mars, Jupiter und Saturn. Ihren Namen als "Irrsterne" bekommen sie deshalb auch vom griechischen planaomai (herumirren, herumschweifen). Ihre ungleichförmigen Bewegungen, die augenfällig mit dem antiken Ideal der gleichmäßigen Kreisbewegung als ästhetisch vollkommen nicht übereinstimmen, wird jahrhundertelang unter dem Schlagwort sozein ta phainomena, "Rettung der Phänomene" verhandelt werden. - Für den antiken Wirklichkeitsbegriff bedeutet das:

"Der Zuschauer erfaßt sich als ruhend, als den bloßen Darstellungspunkt der Ereignisse. Für ihn agiert die Welt. Das antike Ideal der Theorie kodifiziert dieses Verhältnis von Ruhe und Bewegung als das von Subjekt und Realität. Es ist folgerichtig und nur eine spezielle Ausprägung dieses fundamentalen Sachverhalts, daß der Himmel sich bewegt und nicht der Mensch, der ihn betrachtet, und nicht die Erde, von der her er ihn betrachtet. [...] Der Vorzug der astronomischen Gegenstände besteht dann darin, daß sie diese Bedingung der theoretischen Einstellung nicht nur faktisch, sondern notwendig und unüberschreitbar repräsentieren. Es ist die Wirklichkeit, die dem Zuschauer genügt, weil sie Prägnanz genug besitzt, um darin durch keine seiner Anstrengungen gesteigert werden zu können. Dieser Komplex ist nicht aufzulösen: der ruhende Zuschauer und die sich zeigende Wirklichkeit." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 512f) -




Nauplios
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Do 18. Jul 2019, 19:34

Daß auch heute noch unser Wirklichkeitsverständnis von kinästhetischen Befindlichkeiten mitbestimmt wird, zeigt der Beitrag des Sozialphilosophen und Soziologen Hartmut Rosa in der ZEIT vom 11. Juli: "Es herrscht rasender Stillstand. Unser Verhältnis zur Welt ist versteinert" ist der Artikel untertitelt und beginnt mit den Sätzen:

"Vom Rand des Sonnensystems aus müsste der Planet Erde leicht als ein rasender Himmelskörper zu erkennen sein. Klein, aber glühend. Unsere Epoche, die Moderne, hat ihn in nur 300 Jahren zum Rasen und Glühen gebracht ... " (DIE ZEIT, 11. Juli 2019, S. 38f)

Rosa plädiert u.a. für die "Anerkennung eines selbstwirksamen Bezogenseins" und es folgt Verblüffendes, nämlich das Bedauern über das Nichtvorhandensein des altgriechischen Mediums als drittes Genus verbi, von Rosa als "Verhängnis der Moderne" eingestuft. Das mediopassiv/medioaktiv steht den modernen Sprachen nicht zur Verfügung. "Worauf ich hinauswill, ist die Frage, ob und wie sich ein Natur-, ein Geschichts-, ein Sozial, ein Selbst- und ein Weltverhältnis im Mediopassiv denken ließe, das den Fallen des Souveränitätsparadigmas entginge, eine Weltbeziehung also, die auch eine medioaktive ist." (S. 39) -

Dies ist ein staunenswerter Befund, daß das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen in der Moderne an die grammatischen Strukturen seiner bloß zweiwertigen Genera Verbi gekoppelt ist.




Nauplios
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Fr 19. Jul 2019, 20:37

Mit der Christianisierung des aristotelischen Kosmos verschärft sich die Rettung der Phänome. Die Zentrallage der Erde als Weltmittelpunkt hat dem omne quod movetur, ab alio movetur Genüge zu tun. Was sich bewegt, muß von etwas anderem bewegt werden. Die letzte Ursache all jener Bewegungen ist der unbewegte Beweger, eine gleichsam außerkosmische Macht, deren Anerkenntnis die Verschränkung und Verflechtung von Physik, Kosmologie und Theologie nach sich zieht. Ptolemäus und die alexandrinischen Astronomen hatten die "Rettung der Phänomene" durch Epizykel und Exzenter vorgenommen, also aufgrund von Kreisbewegungen, welche nicht zwangsläufig um den Ruhepunkt eines physischen Zentralkörpers ausgerichtet sind, sondern um einen mathematischen Punkt, gleichsam ein imaginärer und zudem noch seinerseits beweglicher Drehpunkt. Diese Theorie der Epizykel war mit den Grundannahmen des aristotelischen unbewegten Bewegers nicht vereinbar. Physik und Astronomie driften auseinander; der metaphysische Zusammenhang zwischen der sublunaren und supralunaren Welt zerbricht. Fortan zählt die Astronomie zu den "Künsten" und bildet als ars gemeinsam mit Arithmetik, Geometrie und Musik das Quadrivium der artes liberales. Ihren Erkenntnisanspruch als scientia weist Thomas von Aquin zurück. "Demut und Selbstbeschränkungen" (Thomas v. Aquin) werden ihr auferlegt. -




Nauplios
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Sa 20. Jul 2019, 20:20

Einfachheit und Regelmäßigkeit sind die normativen Vorgaben des stellaren Geschehens, welche in der Antike die Kreisbewegung zur idealen Bewegungsgestalt erhoben und sich im aristotelisch-mittelalterlichen Kosmos der Christianisierung anpaßten. Diese Verschränkung von Astronomie und Metaphysik wird erst erschüttert mit Keplers figura perfecte elliptica. Die elliptische Form der Gestirnbahnen wird dann mit der Massenanziehung der Sonne dem kopernikanischen "Weltbild" zum Durchbruch verhelfen. Hinzu kommt, daß nun auch die Erosion der aristotelisch-mittelalterlichen Kon-stellation mit dem für das lateinische Mittelalter geradezu blasphemischen Gedanken einer Rotation der Erde beschleunigt wird. Die Bewegungen der "Fixsterne" und die "irregulären" Bewegungen der Planeten entpuppen sich mit der astronomia nova Keplers als bloßer Schein, verursacht durch die Erdrotation. - "Die Aktivität der Erde erzeugt die Phänomene, und diese sind schon zuvor nicht mehr das, was sich zeigt. [...] Was in der äußersten Ferne der Fixsterne erscheint, wird in der äußersten Nähe der Bewegungen des Beobachterstandorts erzeugt." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 515). - Damit hat sich die Erklärungsrichtung stellarer Phänomene umgekehrt: Der Gedanke eines "unbewegten Bewegers" ließ auf die Richtung außen>innen schließen, während sie nun innen>außen verläuft. -

Entscheidend ist dabei, daß das kopernikanische Weltbild erst in dem Maße durchsetzen konnte als die zur Scholastik erstarrte aristotelische Physik im Hinblick auf Kausalität, Bewegung, Raum und Zeit aus ihrer Verzahnung mit metaphysischen Grundannahmen losgelöst wurde. Es ist der "bewußtseinsgeschichtliche Vorgang", welcher die Blockade lockerte, die diese Verzahnung bewirkte. Die Inkonsistenzen der aristotelischen Physik, sofern sie durch die Beobachtung der Himmelsphänomene, offensichtlich wurden, verlangte eine "Umbesetzung", d.h. eine Korrektur in der Bestimmung der Kräfte, welche für die Phänomene verantwortlich sind. Blumenberg hat für diesen Zusammenhang den Begriff des "Nootops" (Genesis; S. 158) entwickelt: kulturelle Systeme sind bestrebt, "Störfaktoren" zu integrieren oder - falls das nicht gelingt - Paradigmenwechsel einzuleiten. Die Liquidation des scholastischen Systems verdankt sich nicht einer "Entdeckung", sondern einem Zerfall von "innen" heraus. Deshalb ist in der Gensis bisweilen von einer "Autokatalyse" des Systems der aristotelisch-scholastischen Vorstellungen von Kausalität und Bewegung die Rede.




Nauplios
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So 21. Jul 2019, 20:34

Für die Moderne ist es selbstverständlich, daß die Zeit (insbesondere im Anschluß an Kants transzendentale Ästhetik) eine Form der Anschauung ist. Für die platonische Kosmologie Timaios haftet die Zeit dagegen den Gegenständen an. Zwar gibt es von der Zeit keine "Idee", dennoch ist sie ein Abbild dessen, was Ewigkeit ausmacht. Zeiteinheiten wie Tage, Monate oder Jahre sind erst mit der Arbeit des Welthandwerkers entstanden. Ohne kosmos gibt es die Zeit nicht. Bei Aristoteles wird die Zeit dann verstanden als eine Ordnung der Bewegung gemäß einem proteron und einem hysteron, einem Vorher und Nachher; Ereignisse bekommen eine eindeutige Stellenordnung; ein inneres Zeitbewußtsein oder eine innere Zeiterfahrung wie sie typisch für die Subjektphilosophie der Moderne ist, ist dem antiken Verständnis von Zeit fremd. Zeit ist bei Aristoteles die "Zahl der Bewegung in Bezug auf das Frühere und Spätere" (vgl. Physik; 219b). - Deshalb kann die Zeit weder vergehen (phtharenai) noch en. tstehen (genesthai), als solche müßte sie ja einen Anfang und ein Ende haben. Vielmehr nimmt Aristoteles eine gleichsam ewige Substanz an, die das kosmische Fundament der Zeit garantiert und zwar in Form einer absolut regelmäßigen Periodizität, eben jener gleichmäßigen Kreisbewegung des Fixsternhimmels. Die ewige Beständigkeit des Himmels ist der Garant für die unauflösliche Verzahnung kosmischer Vorgänge mit der Zeit.

Erst mit der Überwindung der aristotelischen Bewegungsauffassung wird - etwa bei Wilhelm von Ockham oder Johannes Buridan - die Zeit von ihrer kosmologischen Struktur entkoppelt. Doch nun ist die Zeit zwar nicht länger von einem unbewegten Beweger abhängig, bleibt aber als Kontingenzformel vom Diktum Gottes abhängig, denn sie übersetzt die göttliche Ewigkeit in Weltdauer und Weltexistenz. Der christliche Gott ist ja nicht nur für Bewegungen aller Art zuständig, sondern als Schöpfer obliegt ihm der Bestand der Welt schlechthin. So konnte Augustinus sogar zu einer Auffassung kommen, daß die Zeit auch dann noch fortliefe, wenn der Himmel stillstehen würde. Die kosmische Fundierung der Zeit wie Platon und Aristoteles sie gelehrt hatten wird im Mittelalter aufgeweicht und wird schließlich zum Signum der Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpfen. Der Schöpfer hat Zeit sozusagen nicht nötig, während die Zeit zum Alleinstellungsmerkmal der Geschöpfe wird und für die Vergänglichkeit der menschlichen Kreatur steht. Das Geschaffene hat seine (!) Zeit. "Die ursprüngliche und aristotelische Bezugsrichtung des Prozesses der Zeiterzeugung und Zeitmanifestation im Universum war umkehrbar geworden." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 561)) - Es ist diese Akzentverschiebung von der Kosmologie zur Anthropologie, die dann erst "einen" Kopernikus möglich macht, der die Bewegung der Erde entgegen des aristotelischen Zeitbegriffs als fundamentum in re der Zeit setzt. Die stellaren Vorgänge können jetzt mit einer neuen Auffassung von Bewegung und Zeit und ihrer Loslösung von kosmischen Wurzeln neu verstanden werden.

Wirklichkeits- und Weltverständnisse unterliegen dem Wandel in der Zeit. Sie sind historisch gewachsen, von "Umbesetzungen" betroffen, wobei die Neuzeit die Signatur trägt, daß der Mensch seine kosmisch erhebliche Existenz verliert. Die "kopernikanische Welt" entsteht nicht einfach durch "Entdeckungen" entlang einer Zeitachse und vor dem Hintergrund einer immer schon konstanten Wirklichkeitsauffassung über Jahrhunderte und Jahrtausende. Mit Husserl könnte man von einem "Fundierungszusammenhang" sprechen, in dem Wirklichkeit und Wirklichkeitsauffassung verschränkt sind.




Nauplios
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Di 23. Jul 2019, 20:41

Eine der entscheidenden Fragen des Mittelalters, welche den Gedanken der Kontingenz vorantreiben, ist die Frage nach den Möglichkeiten Gottes, eine Welt zu erschaffen. Gott hat die Welt erschaffen, aber es wäre ihm auch möglich gewesen, die Welt anders als nach den Vorgaben der aristotelischen Physik und Metaphysik zu schaffen. Der deus mutabilissimus Oresmes und sein undurchsichtiger Wille werden zu einem Risikofaktor für das irdische Geschehen. Ferdinand Fellmann hat in seiner Studie Scholastik und kosmologische Reform (S. 15) auf die Entwicklung dieses nominalistischen Willkürgottes hingewiesen.

Cum nihil scias de voluntate Dei tu non potes esse certus de aliquo. Da du nichts von Gottes Absicht weißt, kannst du über nichts etwas Sicheres wissen. Es kündigt sich die Vorstellung eines arglistigen Gottes an, dem es gefallen könnte, den menschlichen Verstand zu überlisten. Oresme hält es sogar für möglich, daß die Erde einen Tag lang stillstehen könnte und der Himmel könnte sich bewegen, derweil es am nächsten Tag andersherum verhält. Kopernikus begreift "die ganze Anstößigkeit dessen, daß der Gott des Mittelalters den Himmel so geschaffen haben sollte, daß der Mensch an ihm nur Verwirrung zu erkennen vermag." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 307) -

Was sich damit ankündigt ist ein neues Verständnis des phainestai: Phänomen wird immer mehr die Erscheinung anstelle des Scheins. "Der kopernikanische Schritt" ist nicht der vom Schein zum Sein, sondern der "vom Schein zur Erscheinung". (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 656)




Nauplios
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Mi 24. Jul 2019, 07:35

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- TsukiHana

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Danke für Deinen sechsfachen Zuspruch, TsukiHana. ;)

Ich habe an irgendeiner Stelle im Forum gelesen, daß Du Dich mit der Philosophie Hans Blumenbergs beschäftigt hast: Als Mitglied der http://blumenberg-gesellschaft.de/?lang=de möchte ich Dich und alle Blumenberg-Leser gerne auf eine Veranstaltung des ZfL (Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung) in Berlin hinweisen; dort findet vom 10. bis 12. Oktober ein internationales Symposion zum Thema "Hans Blumenberg - Neue Zugänge zum Werk" statt. Die Themenschwerpunkte sind "Theoriegeschichte", "Weltliteratur" und "Lebenswissen"; den Eröffnungsvortrag hält Manfred Sommer. - Berlin ist eine Reise wert. ;)




Nauplios
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Do 1. Aug 2019, 01:00

"Mehr als Denkform, wird Perspektivität zur Lebensform, wenn die Leidenschaft der Reflexion auf den eigenen Standort so genannt werden darf." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 619) -

Im Vollzog der Entstehung der kopernikanischen Welt tritt ein Wechsel im Verständnis von "Phänomen" ein: Phänomene - zunächst die des Himmels - zeigen nicht mehr ihr inneres Formprinzip, ihr eidos, welches sich bis dahin im Modus einer "momentanen Evidenz" gezeigt hatte. Phänomene bedürfen jetzt der Entdeckung. Ein neuer Zugang zur Realität entsteht; der Panoramablick weicht dem Blick auf den Horizont, dem man zwar entgegen gehen kann, der aber dabei zurückweicht. Wir haben es nur noch mit dem Vordergrund einer Kulisse zu tun. Es ist der eigene Standort des Beobachters, der Entdeckungen ermöglicht oder versagt, zumindest beschränkt. Die Bestimmung des eigenen Standorts wird immer mehr Voraussetzung der Bestimmung von Phänomenen. Die Projektionen, die der Mensch benutzt, um die Welt zu begreifen und damit auch seine eigene metaphysische Bedeutsamkeit, werden korrigierbar, gewinnen eine standort-bedingte Perspektivität. Perspektivität ist der Zugewinn an methodischer Reflexion auf die Erfahrungen, die der Mensch bei der Beobachtung der kosmischen Phänomene und eben auch seiner eigenen "Stellung" macht.

Descartes bringt dabei den Verdacht ins Spiel, es könnte einem bösen Gott gefallen, uns über die Welt und unser Weltverhältnis zu täuschen. Solche und ähnliche Verdachtsmomente liegen auch in der in Foren allseits beliebten Vorstellung, wir könnten in einer "Matrix" leben. Der Descartes´sche Täuschergott erlebt als künstliche Intelligenz, welche durch eine Computersimulation die Menschheit unter Kontrolle hält, eine durch science-fiction formatierte Reanimation. Solche Gedankenexperimente sind im Grunde vorkopernikanisch, weil mit Kopernikus die Vernunft in die Lage versetzt wird, den eigenen Standort als kontingent und ihre Anschauungen als perspektivisch in ihr Weltverhältnis einzubauen. Die Vernunft ist auf keinen Morpheus angewiesen. -

Kopernikanisch verfährt dann vor allem Kant, weil er in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft die Selbst(!)-Täuschungen der Vernunft offenlegt. Die Kritik der reinen Vernunft wird gerne als eine Theorie der Erkenntnis wahrgenommen; zugleich damit ist sie aber auch eine Theorie des Irrtums. Kopernikus und Kant entschleiern den Schein und - das ist das Entscheidende - sie begründen auch, in welcher Form dieser Schein immer schon in der Vernunftverfassung verankert ist. Die Paradoxie der Vernunft wird bereits angedeutet in der Metapher des Richterstuhls: die Vernunft ist Richterin und Angeklagte. Zur Erfassung der Paradoxie der Vernunft ist Vernunft vonnöten.

Der neue Stern, den Tycho Brahe am 11. November 1572 im Sternbild der Cassiopeia ent-deckt, läutet das Ende der aristotelisch-mittelalterlichen Naturphilosophie ein. Nach der aristotelischen Lehre war der Himmel unveränderlich, woran die theologische Doktrin von der Allmacht Gottes mühelos anschließen konnte. Zeichen am Himmel konnte es nur geben, wenn sie göttlichen Ursprungs waren wie etwa der Stern von Bethlehem oder Endzeit-Vorstellungen (s. die Offenbarung des Johannes), in denen die Sterne vom Himmel fallen. Tycho Brahes Stern konnte mit diesen Vorgaben nicht in Einklang gebracht werden. Die neue Physik der Welt galt auch für den Himmel. Die Sterne wurden zu physikalischen Körpern, die als solche eben jenen Gesetzen unterstanden, die auch auf der Erde galten. Der Stern im Bild der Cassiopeia war das nicht mehr wegzuleugnende Zeichen für das Ende aller Zeichen am Himmel.

"La filosofia e scritta in questo grandissima libro que continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi [...], ma non si puo intendere se prima non s´impera a intender la lingua, e connoscei i caratteri ne´ quali e scritto. Egli e scritto in lingua matematica ..." (Galileo Galilei; Il Saggiatore, in le opere VI, S. 232) - "Die Philosophie ist geschrieben in jenem großen Buche, das immer vor unseren Augen liegt [...], aber wir können es nicht verstehen, wenn wir nicht zuerst die Sprache und die Zeichen lernen, in denen es geschrieben ist. Diese Sprache ist Mathematik ..."

Es dürfte das Zitat Galileis schlechthin sein. Das Buch der Natur ist geschrieben in der Sprache der Mathematik. Seine Zeichen sind "Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren" ("triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche"). Ohne die Kenntnis dieser Zeichen irrte man in einem "dunklen Labyrinth" herum ("oscuro laberinto"). - Hier liegt das vor, was man mit Blumenberg die epochenspezifische "Umbesetzung" einer Metapher nennen könnte. Gelesen werden nicht länger die allegorischen Zeichen am Himmel, in denen Gott seine Botschaften als Garant der Weltordnung chiffriert, sondern gelesen wird im Buch der Natur, das in der Sprache der Mathematik geschrieben ist und uns direkt vor Augen liegt. Die Metapher von der Lesbarkeit der Welt hat ihren Migrationshintergrund in der mittelalterlichen Scholastik. Sie ist mittlerweile so gut integriert, daß sie sich beispielsweise um den "genetischen Code" der Biologie verdient gemacht hat. -




Nauplios
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Do 1. Aug 2019, 19:40

Die Zuspitzung der Krise um das Wirklichkeitsverständnis der mittelalterlichen Philosophie läßt sich exemplarisch an der Gegenüberstellung des platonischen Demiurgen bzw. des aristotelischen unbewegten Bewegers mit dem christlichen Schöpfergott zeigen. - Am Anfang hat Gott Himmel und Erde geschaffen, heißt es in der Genesis. Dieses Schaffen ist ein Sprachgeschehen, jedoch eines aus dem Nichts. Warum hatte sich Gott so lange Zeit gelassen mit der Erschaffung der Welt? Wie kam er überhaupt dazu, etwas zu schaffen und nicht vielmehr alles im Nichts zu belassen? - Aristoteles ging vom ewigen Bestand der Welt aus; sein unbewegter Beweger stellte sein Können in den Dienst der kosmischen Ordnung indem er die Himmelsphären bewegte. Die mußte es jedoch vorher schon geben. Der christliche Gott hat hingegen die Welt erschaffen, weil er es wollte. - Im Können und im Wollen zeigt sich hier der Unterschied.

Bei Platon die der Demiurg der Garant für die Transformation von Urbilder in Abbilder. Der christliche omnipotente Gott benötigt gar nicht erst Urbilder; bei ihm gilt das Prinzip: Erwirken durch Befehl. Die Welt liegt gleichsam bereits im Begriff Gottes (vgl. dazu die Ausführungen Walter Benjamins in seinem Sprachaufsatz von 1916). Die Weltsubstanz kann keine ewige sein, sie muß vergänglich sein, sonst wäre sie schon vor ihrer Erschaffung irgendwie "da" gewesen. Es hat Gott gefallen, die Welt zu schaffen. Und genauso gut könnte es ihm jederzeit gefallen, sie ins Nichts zurück zu befördern. Die Welt bekommt den Charakter, eine Welt von Gottes Gnaden zu sein. Blumenberg nennt dieses Welt- und Wirklichkeitsverständnis die "garantierte Realität" (Ästhetische und metaphorologische Schriften; S. 50). In Gott hat die Wirklichkeit ihren verantwortlichen Bürgen. Ohne ihn und seine creatio continua, die das beständige, aber eben nicht ständige Fortbestehen der Welt garantiert, wäre der Mensch und die Welt nichts. - Im Gegensatz dazu war Aristoteles´ unbewegter Beweger der Systemadministrator, der das reibungslose Funktionieren gewährleistete. Im christlichen Gottesverständnis ist die Welt "im Ursprung ihrer Wirklichkeit, in ihrem gesamten Bestand, in jedem ihrer Zustände in jedem Augenblick von einem Akt der transzendenten Zustimmung abhängig." (Hans Blumenberg; Die Genesis der kopernikanischen Welt; S. 168). Nimmt Gott diese Zustimmung zurück, verschwinden Mensch und Welt ins Nichts.

Diese Weltverfassung spitzt sich mittelalterlichen Nominalismus zu und befördert den Gedanken der Kontingenz der Welt schließlich ins Grenzenlose. Gottes Wille, aus dem heraus die Welt geschaffen wurde, wird zur Willkür, mit der er sie zu jedem Zeitpunkt vollkommen anders gestalten könnte - ihr völliges Verschwinden inbegriffen. Dieses ist sogar der Inbegriff jener Willkür. - Wie ließ sich leben mit einer ins Äußerste getriebenen Kontingenz? -




Nauplios
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Mo 5. Aug 2019, 20:13

Für die mittelalterliche Scholastik war die Schöpfung gleichsam der evolutionary kick, die Ingangsetzung der Geschichte, der von Gott in Form eines Sprachgeschehens angestoßene Prozeß der Entstehung von Welt und Mensch. Mit dem Übergang in die Neuzeit und der Gewichtung von Standort, Perspektive und Kontingenz, verlagert sich der Bedeutungsschwerpunkt in Richtung auf ein autonomes System der Neuordnung, in dem nun der Mensch selbst Regie führt. Die gotische Kathedrale, Sinnbild einer in Stein gehauenen theogenen Metaphysik, bekommt mit den neuzeitlichen Wissenschaften weitere Instanzen zur Seite gestellt, deren Garant nun eine letzte Bastion für ordnungsspezifische Garantieleistungen sein soll und die als Fundament der novissima tempora die kopernikanische Welt einläutet: die Vernunft. -

Nun kann alles - in einem methodischen Akt - bezweifelt werden, nur nicht der Vorgang des Zweifelns selbst. Der entscheidende Unterschied zum vorkopernikanischen Wirklichkeitsverständnis ist, daß es nun keine appellative Instanz außerhalb des Bereichs menschlicher Verfügbarkeiten mehr gibt, die als "Bürge" für die Vergewisserung der Stellung des Menschen auftritt; vielmehr bleibt die Selbstbehauptung des Menschen nun eine Angelegenheit innerhalb der Möglichkeiten der Vernunft. Die Vernunft verbürgt sich selbst. Spätestens mit Kant hat sich ein neues Wirklichkeitsverständnis etabliert, in dem die Wirklichkeit zu dem, was sie ist, durch die Formgebung des Menschen wird. Die Ordnungsstrukturen von Raum, Zeit, Kategorien u.ä. lassen die Wahrheit zu einer verite a faire werden und die Erfahrung zu einem Produkt synthetischer Leistungen der Subjektivität. Dabei werden diese Erfahrungen durch das "ich denke" zusammengehalten, d.h. die scholastische creatio continua findet innerhalb der Subjektivität statt, durch ein ordnungsgebendes, identitätsstiftendes Ensemble von Bewußtseinsleistungen. - Der Mensch versteht sich als "produktiver Faktor seiner Welt und seiner Geschichte zu begreifen" (Hans Blumenberg; Beschreibung des Menschen; S. 425). - "An die Stelle der transitiven Erhaltung - Gott erhält die Welt - tritt die intransitive: Die Welt erhält sich, indem sie ohne Außenhalt, ohne externe Unterstützung, ohne transzendente Leistung kontinuierlich fortbesteht." (Manfred Sommer; Wirklichkeit auf Widerruf?; in Heidgen, Koch, Köhler; Hg.; Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege; S. 31) -




Nauplios
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Mi 7. Aug 2019, 18:16

Belegstellen für die Umbesetzung im Wirklichkeitsverständnis von der Antike über das lateinische Mittelalter bis zur Moderne gibt es viele (s.o.). - Exemplarisch seien zwei Stellen aus Husserls Logischen Untersuchungen bzw. aus Formale und transzendentale Logik zitiert, welche die Verschiebung der Garantieleistung von einer göttlichen Instanz auf das Feld der Subjektivität illustrieren:

"Die Wahrheit ist identisch eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen." (Husserliana, XVIII; 125)

Die Wahrheit muß in allen Welten gelten. Was wahr ist, ist wahr für einen Gott und ebenso wahr für die Menschen. Durch die phänomenologische Reduktion bedarf es keiner "Einsicht in die faktische Welt" mehr, sondern nur "der Imagination möglicher Welten im Dienst der freien Variation als des Instruments der Wesensschau". (Hans Blumenberg; Beschreibung des Menschen; S. 447f) -

Nicht die Welt, sondern eine Welt, nicht das Faktische, sondern das Mögliche weist den Weg zur Wesenheit.

"Das Sein von Gott und Welt, allem und jedem" ist das Ergebnis von Leistungen des Bewußtseins als eines "Universums konstituierter Transzendenzen". (Husserliana; XVII; 222) -

"Die Phänomenologie ist die Methode, im Menschen ein qualitativ gottesgleiches Reservat zu schaffen, das [...] Unbetroffenheit und Unbetreffbarkeit durch die Welt gewährleistet." (Hans Blumenberg; Beschreibung des Menschen; S. 386) - In der Spätversion der Phänomenologie als genetischer und insbesondere mit der "Entdeckung" der Lebenswelt wird dann die Welthabe eines Bewußtseins endgültig aus dessen Leistungen offengelegt. "Unbetreffbarkeit durch die Welt" ist die knappe Formel für das Wirklichkeitsverständnis der Phänomenologie. -




Nauplios
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Do 8. Aug 2019, 18:21

Nur Gott konnte für die Scholastik die Garantie dafür abgeben, daß so etwas wie eine adaequatio rei et intellectus überhaupt möglich war. Hätte es Gott gefallen, hätte er diese Übereinstimmung jederzeit entziehen können. Die Möglichkeit des Erkennens für den Menschen bestand, allerdings mußte Gott die Bedingungen dieses Erkennens bewirken. Mit Kant werden die Bedingungen des Erkennens durch die Konstruktion seiner Transzendentalphilosophie in die Zuständigkeit der menschlichen Vernunft verlegt. Der mittelalterliche Gott schaffte die Dinge, der moderne Mensch schafft die Erfahrungswelt, wenn auch nicht ex nihilo, sondern aus dem "rohen Stoff" der Empfindungen. Das "Ding an sich" bleibt dabei außen vor, denn die theoretische Vernunft hat es mit einer Welt der Erscheinungen zu tun. Damit entfällt auch die Vorstellung, der Mensch sei dazu berufen, die Gedanken Gottes nachzudenken. Kant setzt der Vernunft enge Grenzen, doch bekommt die eingeengte und begrenzte Vernunft dadurch auch mehr Sicherheit.

Husserl wiederum sieht im intentionalen Bewußtsein und seiner noetisch-noematischen Verfassung die Welt als einen in sich offenen, gleichwohl in sich auch "einstimmigen" Zusammenhang von Phänomenen. Seine Theorie der Abschattung versteht das Bewußtsein in ständiger Bewegung auf die Sache selbst hin. Abschattung ist die eigentliche Gegebenheitsweise des Gegenstands für das Bewußtsein. Das Perspektivische gehört zu unserem Wesen. Unser Weltbezug ist perspektivisch. Ein "Ding an sich" wäre phänomenologisch ein Ding, das niemals Gegenstand eines erkennenden Subjekts sein könnte. Aber genau diese Verzahnung von Noesis und Noema macht das "Ding an sich" zu etwas Unsinnigem.

Die Konstellation zwischen Mensch und Welt hat sich in der kopernikanischen Welt grundlegend verändert. Kant spricht in der Transzendentalen Ästhetik auffallend vom "Standpunkt", Husserl von der "Abschattung" des Dings, die eine Folge der Perspektivität auf dieses Ding ist. Die Welt ist dabei für Kant nur noch "regulative Idee"; von der Welt als Totalität kann es keine Anschauung geben. Später wird sich diese Denkfigur im Hinblick auf "die Geschichte", "das Leben", "das Bewußtsein", "die Gesellschaft" u.a. wiederholen. Unsere Perspektivität erlaubt uns nur Ausschnitte. Wir bleiben standortgebunden; uns fehlt ein Organ für das Ganze der Wirklichkeit.




Nauplios
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Sa 10. Aug 2019, 19:40

In den Logischen Untersuchungen schreibt Husserl über die Sphäre der reinen Wahrheiten, sie bilde "einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig ist. Es gibt also unzählige Bedeutungen, die im gewöhnlichen relativen Sinne des Wortes bloß mögliche Bedeutungen sind, während sie niemals zum Ausdruck kommen und vermöge der Schranken menschlicher Erkenntniskräfte niemals zum Ausdruck kommen können." (Husserliana XIX/2; 105)[/i]

Darin liegt der frühe Platonismus der Phänomenologie, welche den Gedanken der späteren epoche bereits andeutet und ermöglicht, daß die Existenz der faktischen Welt ein phänomenologisch bloß beiläufiger Aspekt ist. Nicht die Existenz ist für Husserl der phänomenologische Befund, sondern die Essenz (anders später Heidegger). Sofern es überhaupt um die Welt geht, geht es um sie als eine Welt. Die eidetische Gegenständlichkeit, welche durch die Methode der freien Variation nach Goldgräberart geschürft wird, bedarf gar keiner (faktischen Welt), um wahr zu sein. So konnte Husserl in seiner Göttinger Vorlesung von 1907 sagen: "Das Denken aber, von dem die Phänomenologie spricht, ist niemandes Denken. (Ding und Raum, in: Husserliana; XVI, 41) -




Nauplios
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Sa 10. Aug 2019, 20:11

Die Transformation dieses anfänglichen Platonismus findet in der Phänomenologie mit der Einführung der "genetischen" Konstellation statt. Wurde das "niemandes Denken" vorgefunden als Resultat der freien Variation, so wird die logisch-begriffliche Ausrüstung des noetisch-noematischen Bewußtseins nun erzeugt. Es sind nicht länger die als ewig gedachten Idealitäten, "eingeborene" Begriffe, Kategorien u.ä., sondern die Urteilsformen werden im Vollzug von Erlebnissen generiert. Die "Idealität" wird sozusagen umbesetzt: von der Eidetik zu Konstitutionsleistungen des Bewußtseins.

Phänomenologie ist im Spätwerk Husserls eine Art Perfektionierung aller theoretischen Praxis, die sich ihrer Grundlegung, ihrer "Genese" versichert, welche in dem wurzeln, was "vorprädikative Erfahrung" genannt wird oder auch "Lebenswelt". Die Lebenswelt ist der Urgrund und Ausgangspunkt aller Prädikationen, in dem es ein logisch-begriffliches Instrumentarium noch nicht gibt. Die Theorie der Lebenswelt erteilt Auskünfte über eine Welt, deren Wesen darin besteht, keine Auskünfte über sich erteilen zu können. Die Lebenswelt muß man - durch einen Akt der Theoretisierung - immer schon verlassen haben, um sie ins theoretische Visier zu bekommen.

Hier findet also nochmals eine Standort- und Perspektivenbestimmung statt. Die Lebenswelt als Inbegriff des Selbstverständlichen ist das Antipodische zur Anstrengung der Phänomenologie, nichts als selbstverständlich zu belassen.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 10. Aug 2019, 19:40
In den Logischen Untersuchungen schreibt Husserl über die Sphäre der reinen Wahrheiten, sie bilde "einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig ist. Es gibt also unzählige Bedeutungen, die im gewöhnlichen relativen Sinne des Wortes bloß mögliche Bedeutungen sind, während sie niemals zum Ausdruck kommen und vermöge der Schranken menschlicher Erkenntniskräfte niemals zum Ausdruck kommen können." (Husserliana XIX/2; 105)[/i]
Was wäre ein Beispiel für einen solchen generellen Gegenstand? Z.b. die mathematischen Wahrheiten?




Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 11. Aug 2019, 07:21
Nauplios hat geschrieben :
Sa 10. Aug 2019, 19:40
In den Logischen Untersuchungen schreibt Husserl über die Sphäre der reinen Wahrheiten, sie bilde "einen ideal geschlossenen Inbegriff von generellen Gegenständen, denen das Gedacht- und Ausgedrücktwerden zufällig ist. Es gibt also unzählige Bedeutungen, die im gewöhnlichen relativen Sinne des Wortes bloß mögliche Bedeutungen sind, während sie niemals zum Ausdruck kommen und vermöge der Schranken menschlicher Erkenntniskräfte niemals zum Ausdruck kommen können." (Husserliana XIX/2; 105)[/i]
Was wäre ein Beispiel für einen solchen generellen Gegenstand? Z.b. die mathematischen Wahrheiten?
In dieser Frühphase der Phänomenologie geht es Husserl ja um die "freie Variation", in der das "Wesen" einer Sache freigelegt wird. Husserl unterscheidet das Wesen von allem Faktischen und Zufälligen. Nach Ende des Schürfvorgangs, in dem all dieses Faktische und Zufällige am Gegenstand ausgesiebt wurde, bleibt das "Eidos" als das "Wesen" übrig. Aus dem konkreten Faktum ist ein "genereller Gegenstand" geworden. Husserl benutzt für diesen Vorgang Bezeichungen wie "Wesensschau", "Ideation" oder auch "eidetische Reduktion". Der konkrete individuelle Gegenstand wird dabei "gereinigt" von allem Unwesentlichen; in der "Wesensschau" werden alle individuellen Eigenschaften aussortiert und es bleiben am Ende diejenigen Eigenschaften, die dem Gegenstand notwendig zukommen, damit er seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse nicht verliert. So gelangt der Phänomenologe zu einem eidetischen Bestand. Existenz gehört für Husserl jedoch nicht zum Wesentlichen. Die in freier Variation gewonnenen Idealitäten sind wesensmäßig nicht davon abhängig, ob sie von einer Subjektivität gedacht oder erkannt werden. Das Wesen der Dinge ist unabhängig vom Subjekt, das es bewußtseinsmäßig erfaßt. Und die Wahrheit solcher Wesenserkenntnis bedarf gar keiner Welt, um wahr zu sein. Es geht also nicht nur um "mathematische Wahrheiten", sondern um Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, Phantasie, um das Denken überhaupt. Die Verhältnisse, welche Subjekte schlechthin mit Objekten schlechthin eingehen, sind ihrerseits Objekte für das phänomenologische Subjekt.

Bei diesem "Aussieben" fällt im Zuge der phänomenologischen Reduktion jedoch auch das konkrete und zufällige Ich fort, das konkret als Phänomenologe diesen Akt des Aussiebens vorgenommen hat. Man könnte meinen, daß dann ja buchstäblich nichts mehr übrigbleibt, die Welt in ihren Konkretionen ist "fort", aber auch das Ich, welches in seinen Bewußtseinsakten solche konkrete Gegenstände "haben" könnte. - Tatsächlich spricht Husserl in den Logischen Untersuchungen von einer "ichlosen" oder auch "nonegologischen Phänomenologie". - Auch hier wird das faktische, empirische Ich durch die "phänomenologische Reduktion" ausgeklammert. Das Wesen der Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung, Phantasie ... bleibt. Wesen ist das, was sich nicht "realisiert". Deshalb das "niemandes Denken".

Husserl selbst hat später Korrekturen an seinem frühen Denken vorgenommen. Phänomenologie ist immer ein "Werkstattgespräch" des Phänomenologen mit sich selbst. Insbesondere die transzendentale Wendung der Phänomenologie hat das "niemandes Denken" später wieder aufgegeben. - All das wäre ein "Werkstattgespräch" im Rahmen einer zuvor einzurichtenden phänomenologischen "Werkstatt" hier im Forum wert ...




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