"Morgen früh, wenn Gott will, ...

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
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Nauplios
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Do 12. Sep 2019, 04:10

Vielleicht ist mit dieser Frage nach dem Verstehen gemeint, daß die Metaphorologie, um überhaupt anfangen zu können, sich einer Selbstvergewisserung unterziehen müßte, indem sie Begriff, Wesen, Bedeutung, Leistung, Funktion, Verstehen ... der Metapher in "freier Wildbahn" studiert und vorab über ihr Verhältnis als Theorie zu ihrem Gegenstand aufklärt. Metapher ja, aber ohne Metaphorologie, eine Art Propädeutikum zur Metaphorologie.

Nun ist die Metaphorologie nach Blumenberg ein Extrakt, welches aus Erzählungen gewonnen wird, durchaus großen Erzählungen, deren zeitliche Erstreckung Jahrhunderte einnehmen. Es gibt kaum Programmatisches bei Blumenberg. Die Paradigmen sind mit der Theorie der Unbegrifflichkeit und dem Rhetorik-Aufsatz ebenfalls wenig systematisch angelegt. Metaphorologie ist fast ein Abfallprodukt, das aus Anlaß weitschweifender Narrationen gewonnen wird. Sie ist eingewoben in einen Kon-Text philosophiehistorischen Flanierens, einer Willkommenskultur der Um- und Abwege, die sich kaum kartographieren lassen. Insofern ist die Blumenberg'sche Philosophie von sperrigem Format. Durch die Schriften aus dem Nachlass weiß man heute mehr über die anthropologische Stoßrichtung des Ganzen. Letztlich ist es geduldiges Lesen, was einem weiterhilft. Und anders als zu Blumenberg's Lebzeiten gibt es heute eine breit gefächerte Rezeption. - Wir als Leser sind bei all dem wie Höhlenforscher, deren kleine flackernde Taschenlämpchen im unterirdischen Massiv des Blumenberg'schen Theoriegewölbes kaum den nächsten sicheren Schritt ermöglichen. Doch für Umkehr ist es schon zu spät. ;)




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Friederike
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Do 12. Sep 2019, 10:21

Nauplios hat geschrieben :
Mi 11. Sep 2019, 18:54
[...] Die Metapher ist ebenfalls auf einem Weg zu einem "Grenzwert": am Ende des Weges stünde eine Übertragung, die vollständig wäre und keinerlei Mehrdeutigkeit mehr hätte, die ja für die Metapher so typisch ist. Aus der Metapher würde dann ein sprachliches Symbol. Eine Übertragungsleistung würde, da sie vollständig wäre, gar nicht mehr erkennbar sein. Die Metapher würde zum Symbol (mit der oben beschriebenen Funktionalität). -
Verzeih' mein lakonisches "Ja". Ja, ich habe begriffen!

NS: Den Wirklichkeitsbezug des Menschen für einen vor allem symbolischen anzusehen, würde sehr sehr zugespitzt bedeuten, die "Instinktarmut" (Blumenberg) durch eine andere Form des Instinktes ... vielleicht besser, durch eine Art von Reflex zu ersetzen.




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Jörn Budesheim
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Do 12. Sep 2019, 12:51

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Aug 2019, 20:16
... wirst du wieder geweckt."

Ich singe den Text immer etwas ungewandelt,
weil ich es auch makaber finde.
(Ein BabyCenter Mitglied)
https://www.babycenter.de/p25267/guten-abend-gute-nacht

wäre mal interessant zu wissen, ob sie den Text auch dann umwandeln würde, wenn er in neuro speech gehalten wäre:

Guten Abend, gut' Nacht!
Mit Axonen bedacht,
Mit Dendriten besteckt
Schlupf unter die Deck.
Morgen früh, wenn Hirn will,
Wirst du wieder geweckt,
Morgen früh, wenn Hirn will,
Wirst du wieder geweckt.




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Nauplios
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Do 12. Sep 2019, 14:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 12. Sep 2019, 12:51
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Aug 2019, 20:16
... wirst du wieder geweckt."

Ich singe den Text immer etwas ungewandelt,
weil ich es auch makaber finde.
(Ein BabyCenter Mitglied)
https://www.babycenter.de/p25267/guten-abend-gute-nacht

wäre mal interessant zu wissen, ob sie den Text auch dann umwandeln würde, wenn er in neuro speech gehalten wäre:
Man müßte sich zu dem Zweck beim Babycenter registrieren und sie fragen.

https://www.babycenter.de/secure/login




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Friederike
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Do 12. Sep 2019, 14:53

Alethos hat geschrieben :
Mi 11. Sep 2019, 23:43
[...] Wie kann eine Metapher "vorgreifend als aufschlussreich" (Blumenberg) vermutet werden? Wie darf man die antizipierende Komponente verstehen? Das gelingt vielleicht nur, wenn man sich die Metapher als durch die Hoffnung verfasst denkt, die über das ihr unmittelbar Gegebene hinausgreift in das Mögliche und Kontingente? Es bleibt ja zunächst eine Vermutung, eine blosse Möglichkeit, dass etwas als etwas aufschlussreich sein könnte und die Metapher greift hoffnungsvoll nach dieser Offenheit des Ausgangs. Sie ist immer auch ein Experiment, das scheitern kann?
Das Urteil, die Prädikation nennt Blumenberg eine "Institution". Eine Institution ist etwas Statisches. Das heißt, ich würde das "vorausgreifend für aufschlußreich" in Abhebung und zur Unterscheidung zum Urteil jetzt so verstehen, daß die Metaphorisierung etwas Bewegliches oder Dynamisches ist.

Das ist nichts weiter als eine Erklärung vermittels zweier Adjektive, die, führt man ihre unterschiedliche Bedeutung inhaltlich aus, das Gleiche meint, was Du sagst.




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Jörn Budesheim
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Do 12. Sep 2019, 15:32

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Do 12. Sep 2019, 16:07

Nauplios hat geschrieben :
Di 10. Sep 2019, 01:11
Beide, Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit sind Bewußtseinsphänomene. Die humane Selbstbehauptung ist die (legitime) Antwort auf den Absolutismus der Wirklichkeit. Kultur, Mythos, Wissenschaft, Technik ... sind Strategien dieser Selbstbehauptung gegen die Übermacht der Wirklichkeit.
Diese Stelle möchte ich -öffentlich- markieren. Ich weiß nicht, was Du bzw. Blumenberg mit "Bewußtseinsphänomen" mein-s-t. Wahrscheinlich verläuft die Spur zu Husserl ... womit ich auch bereits am Ende meines Lateins angelangt bin. Ich wollte den Namen nur erwähnt haben. :lol:

Mir scheint Deine Aussage deswegen wichtig, weil ich es für gut möglich halte, daß Blumenbergs Begriff von "Wirklichkeit" klärungsbedürftig ist, denn die Welt der Dinge, der Tatsachen und der Sachverhalte dürfte er mit "Wirklichkeit" eher nicht meinen.

Nur vorsorglich angemerkt, falls ein Mißverstehen irgendwann zu Konfusheit (Ergebnis einer Wortfindungsstörung) führt.




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Friederike
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Fr 13. Sep 2019, 13:51

Alethos hat geschrieben :
Mi 11. Sep 2019, 23:43
So betrachtet kann die Metaphorologie unmöglich Wirklichkeitsleugnung oder -verzerrung sein, weil sie vielmehr einen (uneigentlichen) Zugang zur Wirklichkeit darstellt, ohne den wir uns selbst gar nie mit vollem Gehalt und voller Präsenz gegeben wären. Und auch keine Tatsachen wären uns in den vielen möglichen Bedeutungszusammenhängen gegeben, in denen sie wirklich sind.
Ob Blumenberg den Ausdruck "Wirklichkeitsvermeidung" in einer seiner Schriften gebraucht hat, das weiß ich nicht. "Wirklichkeitsleugnung" käme der Vermeidung zumindest nahe. In den "Anthropologischen Annäherungen" finde ich nichts, was dem von Kroß benutzen Ausdruck entspräche. Die umwegigen, indirekten, verzögerten Wege der Metaphorik, die Blumenberg erwähnt, kann man sicher nicht kurzerhand mit Vermeidung gleichsetzen. Ich meine mich aber zu erinnern, daß Blumenberg davon spricht, der metaphorische Weg sei die Möglichkeit des Menschen, sich mit der Wirklichkeit "nicht einzulassen" - und diese Formulierung würde dann doch ungefähr mit Wirklichkeitsvermeidung und Wirklichkeitsleugnung in Übereinstimmung zu bringen sein.

Es geht mir gar nicht um einzelne Worte, sondern um das, was wir mit dem metaphorischen Verfahren in Bezug auf die Wirklichkeit tatsächlich tun. Ist es lediglich eine indirekte Weise der Aneignung der Wirklichkeit oder vermeiden wir die Kontingenzerfahrung, die enttäuschten Erwartungen, die Begegnung mit dem Unverfügbaren (@Nauplios, ich beziehe mich auf Deine Erklärung zum Absolutismus der Wirklichkeit )?

Wenn ich an die absoluten Metaphern "Sinn", "Wahrheit", "Freiheit" denke, dann scheint mir Letzteres zutreffend. Für die Übertragungen aus Bedeutungszusammenhängen hingegen kommt mir "Vermeidung" nicht zutreffend vor. In dieser Hinsicht würde ich mich Dir @Alethos, anschließen (soweit ich Dich verstehe).




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Sep 2019, 15:02

In seiner Einführung zu Blumenberg schreibt Wetz in dem Kapitel Grundgedanke: "Als winziges, vergängliches Mängelwesen inmitten einer unermesslichen Welt verfügt er [der Mensch, das animal symbolicum] über die besondere Gabe, sich von der übermächtigen, stummen Wirklichkeit zu distanzieren und dadurch sein ebenso sorgenvolles wie haltloses Leben zu orientieren und zu stabilisieren."

Das würde auch den Begriff der Wirklichkeits-Vermeidung erhellen. Hier möchte ich mir mal die Frage erlauben, ob ihr dieser Beschreibung zustimmen wollt?




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Friederike
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Fr 13. Sep 2019, 16:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 15:02
In seiner Einführung zu Blumenberg schreibt Wetz in dem Kapitel Grundgedanke: "Als winziges, vergängliches Mängelwesen inmitten einer unermesslichen Welt verfügt er [der Mensch, das animal symbolicum] über die besondere Gabe, sich von der übermächtigen, stummen Wirklichkeit zu distanzieren und dadurch sein ebenso sorgenvolles wie haltloses Leben zu orientieren und zu stabilisieren." Das würde auch den Begriff der Wirklichkeits-Vermeidung erhellen. Hier möchte ich mir mal die Frage erlauben, ob ihr dieser Beschreibung zustimmen wollt?
Über die "Gabe" verfügen, ist die Kehrseite des Mangels. Die Fähigkeiten, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte erworben hat, würde ich als Reichtum bewerten.

Ich schreibe im Moment übrigens nur für mich, allenfalls in loser Anlehnung an Blumenberg. Wenn ich davon ausgehe, was ich tue, daß das menschliche Leben und alles Leben und die ganze Welt als absolut sinnlos erlebt werden, dann ist eine der höchsten Leistungen die Erfindung des "Sinns". "Sinn" sichert das kontinuierliche, nie zu einem Ende kommende Weiterfragen, das seinerseits ein nie endendes Forschen, Erfinden und Erkunden nach sich zieht. Das heißt, um auf Deine Frage wenigstens am Rande einzugehen, "Sinn" ist die Antwort auf Sinnlosigkeit und somit Wirklichkeitsvermeidung.




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Sep 2019, 17:24

Friederike hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 16:52
die Kehrseite des Mangels
in der Einführung beschreibt es Franz Josef Wetz so, dass Blumenberg im Grunde zwei Positionen zusammenführt: "Hierbei erweisen sich als die wichtigsten Quellen von Blumenbergs Anthropologie die Philosophien Arnold Gehlens und Ernst Cassirers, die er nur selten erwähnt." Zusammenführen ist vielleicht kein guter Ausdruck, aber sei es drum. Hier bringt Franz Josef Wetz die beiden Aspekte noch mal knapp zusammen: "Auf der einen Seite steht die sinnleere Wirklichkeit, die angsterregende, rücksichtslose, unzuverlässige Übermacht der realen Welt, die man mit einem absolutistischen Souverän vergleichen kann. Ihr stehen auf der anderen Seite ganz unterschiedliche Maßnahmen und Anstrengungen des gleichermaßen schwachen und ohnmächtigen wie erfindungsreichen und talentierten Menschen gegenüber."

Wir haben also auf der einen Seite das Mängelwesen und auf der anderen Seite, auf der Kehrseite wie du schreibst, eben das, was du oben andeutest.

Franz Josef Wetz macht auch deutlich, dass Blumenberg keineswegs beansprucht, seine Position bewiesen zu haben. Er schreibt aus einer Position des unzureichenden Grundes", wie er das nennt. Das ist natürlich sehr sympathisch.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob das alles stimmt :) was heißt es, dass wir Mängelwesen sind? Kann das stimmen? Wir verfügen über einen unglaublichen Geist, und können damit bis an den Anfang und das Ende des Universums schauen. Das kommt mir nicht wie ein Mangel vor. Und dass die Wirklichkeit sinnlos ist, scheint mir einfach ein Dogma zu sein. Da müsste man auch einfach mal erklären, was damit überhaupt gemeint ist.




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Fr 13. Sep 2019, 17:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 15:02
In seiner Einführung zu Blumenberg schreibt Wetz in dem Kapitel Grundgedanke: "Als winziges, vergängliches Mängelwesen inmitten einer unermesslichen Welt verfügt er [der Mensch, das animal symbolicum] über die besondere Gabe, sich von der übermächtigen, stummen Wirklichkeit zu distanzieren und dadurch sein ebenso sorgenvolles wie haltloses Leben zu orientieren und zu stabilisieren."
Das "animale symbolicum" bezieht sich auf die Unterscheidung des menschlichen Wesens von anderen Lebewesen. Der Wirklichkeitsbezug des Menschen ist "vor allem metaphorisch".




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Sep 2019, 17:44

Weiter oben hattest du etwas gebracht, was ich recht griffig fand. Bei der Metapher sieht man - anders als bei Begriff - nicht etwas als etwas, sondern etwas durch etwas. Damit ist die Distanz ja auch bereits angedeutet. Die Metapher ist dann gleichsam ein Bild, das man schützend vor sich hält, durch welches man die Wirklichkeit betrachtet.




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Fr 13. Sep 2019, 18:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 17:24
Franz Josef Wetz macht auch deutlich, dass Blumenberg keineswegs beansprucht, seine Position bewiesen zu haben. Er schreibt aus einer Position des unzureichenden Grundes", wie er das nennt. Das ist natürlich sehr sympathisch.
"Sofern Philosophie der Abbau von Selbstverständlichkeiten ist" (Blumenberg) ... ist die These: "Es ist nicht selbstverständlich, daß der Mensch existiert" (Blumenberg). Ich merke, wie ich mich richtig aufrege. "Beweisen" - das ist einfach lächerlich. Eine derartige These läßt sich nicht in die Zwangsjacke "Beweis" packen.
Jörn hat geschrieben : Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob das alles stimmt :) was heißt es, dass wir Mängelwesen sind? Kann das stimmen? Wir verfügen über einen unglaublichen Geist, und können damit bis an den Anfang und das Ende des Universums schauen. Das kommt mir nicht wie ein Mangel vor. Und dass die Wirklichkeit sinnlos ist, scheint mir einfach ein Dogma zu sein. Da müsste man auch einfach mal erklären, was damit überhaupt gemeint ist.
Spannende Fragen und Behauptungen. Aber nicht mehr heute.




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Sep 2019, 18:20

Friederike hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 18:05
Eine derartige These läßt sich nicht in die Zwangsjacke "Beweis" packen.
Wetz hat geschrieben : Ein solches Erschließen und Verstehenlassen möchte überzeugen, beweisen will es nichts. Es untersteht dem »Prinzip des unzureichenden Grundes« (W, 124), das nicht einen Verzicht auf Gründe überhaupt fordert, sondern sich – »diffus und methodisch ungeregelt« (W, 125) – mit Argumenten unterschiedlicher Art begnügt.
By the way: dass man sich mit Argumenten unterschiedlicher Art manchmal auch nur "begnügen" muss, darum ging es mir auch in dem Thread über Argumente und Gründe.




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Nauplios
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Fr 13. Sep 2019, 19:33

Friederike hat geschrieben :
Do 12. Sep 2019, 16:07
Nauplios hat geschrieben :
Di 10. Sep 2019, 01:11
Beide, Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit sind Bewußtseinsphänomene. Die humane Selbstbehauptung ist die (legitime) Antwort auf den Absolutismus der Wirklichkeit. Kultur, Mythos, Wissenschaft, Technik ... sind Strategien dieser Selbstbehauptung gegen die Übermacht der Wirklichkeit.
Diese Stelle möchte ich -öffentlich- markieren. Ich weiß nicht, was Du bzw. Blumenberg mit "Bewußtseinsphänomen" mein-s-t. Wahrscheinlich verläuft die Spur zu Husserl ... womit ich auch bereits am Ende meines Lateins angelangt bin. Ich wollte den Namen nur erwähnt haben. :lol:

Mir scheint Deine Aussage deswegen wichtig, weil ich es für gut möglich halte, daß Blumenbergs Begriff von "Wirklichkeit" klärungsbedürftig ist, denn die Welt der Dinge, der Tatsachen und der Sachverhalte dürfte er mit "Wirklichkeit" eher nicht meinen.

Nur vorsorglich angemerkt, falls ein Mißverstehen irgendwann zu Konfusheit (Ergebnis einer Wortfindungsstörung) führt.
"Wirklich?" - Mit dieser Nachfrage signalisieren wir, daß uns Zweifel an dem kommen, was uns jemand erzählt. Der Jugendjargon hat dafür auch ein "Echt-jetzt?" ausgebildet, das die Verunsicherung des Hörers ausdrückt, ob sich das Gesagte wohl wirklich so verhält. Im Regelfall aber führt man diese Irritationsspur nicht mit. Am Wirklichen wird nicht allzeit und aus jedem Anlaß gezweifelt. Wollten wir bei jeder Gelegenheit das Wirkliche bezweifeln, wäre das ein höchst unpraktisches Verfahren im Alltag. In unserem Handeln und Verhalten ist das Wirkliche als Wirkliches unausgesprochen vorausgesetzt. Blumenberg nennt Wirklichkeit deshalb auch ein "implikatives Prädikat" (Vorbemerkungen zum Wirklichkeitsbegriff; in: "Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, 1973; Nr. 4, S. 3). - Der Begriff der Wirklichkeit hat "vorwiegend pragmatische Funktion". Erst die Störung, der Zweifel, die Irritation legt das "implikative Prädikat" explizit offen.

Mit dem Scheitern, der Enttäuschung wird dann so etwas wie Wirklichkeit thematisiert, weil das, was bis dahin in fragloser Selbstverständlichkeit galt, fortan nicht mehr gilt. "Wirklich ist, was nicht unwirklich ist." (Vorbemerkungen; S. 3) -

"Da es Erfahrungen im Lebensvollzug sind, die bestimmen, was wirklich ist und was nicht, ist der Wirklichkeitsbegriff relativ, also nur zu verstehen in Bezug auf individuelle Sichtweisen oder kulturelle Lebensformen oder epochale Bewußtseinsarten. Deshalb gibt es nebeneinander und nacheinander viele verschiedene Wirklichkeiten. Mit dieser Pluralität ist für Blumenberg ausgeschlossen, dass ˋeigentlich´ wirklich allein das wäre, was wir hier und heute wirklich nennen. Für einen solchen ˋAbsolutismus der Gegenwart´, den Blumenberg verachtet, wäre unsere aktuelle Wirklichkeit die endgültig gültige ˋwirkliche Wirklichkeit´." (Manfred Sommer; Art. "Wirklichkeit"; in: Blumenberg lesen. Ein Glossar; S. 363f) -

Trotz des Plurals "Wirklichkeiten besteht hier nicht die Gefahr einer Beliebigkeit von Perspektiven. Ohne die Wirklichkeit gäbe es keine Vielzahl von Wirklichkeitsformationen. Der Titel "Wirklichkeiten in denen wir leben" (1981) hat einen zweiten Plural, der unauffällig erscheint: "wir". - "Wir sind es, die in Wirklichkeiten leben. Wir sind nicht allein die Gegenwärtigen. Denn wir sind, was wir sind, nur kraft der evolutionären Übergänge und der geschichtlichen Erfahrungen, die andere vor uns und für uns durchlebt haben und die unser Leben überhaupt erst zu dem machen, was es ist. Deshalb gehören diese anderen nicht minder zu uns wie die, die nach uns kommen werden. Sie alle sind in dem einen Wir mit eingeschlossen." (Manfred Sommer; a.a.O. S. 364)

Im Unterschied zum Weltbegriff, der ja auf die Totalität eines Ganzen abhebt, "betont der Wirklichkeitsbegriff die Weise, wie dieses Ganze in sich verfasst, aus seinen Teilen gewebt und gewirkt ist." (Sommer; a.a.O. S. 364) -

Wie Du schon erahnt hast, Friederike, "verläuft die Spur zu Husserl". Hier ist es insbesondere das phänomenologische Theorem der Abschattung, das in das Verständnis von Wirklichkeit einfließt. Husserl hatte ja herausgearbeitet, daß Dingwahrnehmung sich in einem Bewußtseinsprozeß vollzieht, also in zeitlicher Erstreckung. Wir sehen immer nur eine Seite eines Gegenstandes, die ihrerseits auf andere mögliche Seiten desselben Gegenstandes verweist. "Wie es bei einem Ding unendlich viele verschiedene Perspektiven gibt, aus denen es - ein und dasselbe bleibend - betrachtet und beschrieben werden kann, so gibt es bei der Wirklichkeit verschiedene Weisen, wie sich Begriffe von ihr ausbilden, die gleichwohl Begriffe von ihr sind. Es widerspricht dem Wesen überhaupt - des Dings wie der Wirklichkeit - , es schlagartig auf einmal erfassen und dann endgültig dauerhaft haben zu wollen. [...] Für Husserl bildet sich der Kontext namens Wirklichkeit heraus aus dem strömenden Nacheinander von Bewußtseinsakten. [...] Nicht genau so, aber doch so ähnlich, wie die zahllosen möglichen Abschattungen eines Gegenstandes sich zu diesem selbst verhalten, verhält sich der Gegenstand als Ganzes zu anderen Gegenständen, die ihn umgeben, ihm ähneln, an ihn erinnern - zu Gegenständen, von denen wiederum jeder ˋin sich´ seine eigenen Abschattungen und ˋum sich´ seine eigenen gegenständlichen Nachbarn und Verwandten hat, für die erneut dasselbe gilt. Und auch hier gibt es ein ˋunabschließbares Undsoweiter´. [...] Husserl verwendet den Begriff des Horizonts - und Blumenberg nimmt ihn auf - um damit die intentionale Verweisungsstruktur zu charakterisieren. Der Horizont ist eine Grenze des faktisch Gesehenen, die weitere Sichtbarkeiten verspricht, ohne sie schon zu zeigen. Jeder Gegenstand hat seinen Horizont in sich und um sich. So lassen sich auch Welt und Wirklichkeit bestimmen: Die Welt ist nicht aggregativ aufgefasst als die Gesamtheit aller Gegenstände, sondern intentional als der Horizont aller Horizonte. Die Wirklichkeit ist nicht einfach dasselbe wie die Welt, sondern deren innere unabschließbare Verweisungsstruktur: Sie ist Blumenbergs ˋoffener Kontext´." (Manfred Sommer; a.a.O.; S. 367) -

Was als wirklich gilt steht in einer Relation zu historisch auffindbaren Auffassungen: "Da das, was als wirklich gilt, jeweils abhängig ist von Einstellungen oder Lebensformen, ist leicht zu sehen, daß es prinzipiell unendlich viele Wirklichkeitsbegriffe gibt." (Manfred Sommer; a.a. O.; S. 367) - In diesem und anderen Threads hatten wir ja schon den antiken Wirklichkeitsbegriff der "momentanen Evidenz" besprochen oder auch (in der lebhaften Diskussion mit Epitox) das spätmittelalterliche Konzept der "Wirklichkeit kraft göttlicher Garantie". Für die Neuzeit findet sich dann bei Blumenberg der oben skizzierte Wirklichkeitsbegriff des "offenen Kontextes". -




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Sa 14. Sep 2019, 08:04

Nauplios hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 19:33
"Wirklich?" - Mit dieser Nachfrage signalisieren wir, daß uns Zweifel an dem kommen, was uns jemand erzählt. Der Jugendjargon hat dafür auch ein "Echt-jetzt?" ausgebildet, das die Verunsicherung des Hörers ausdrückt, ob sich das Gesagte wohl wirklich so verhält. Im Regelfall aber führt man diese Irritationsspur nicht mit. Am Wirklichen wird nicht allzeit und aus jedem Anlaß gezweifelt. Wollten wir bei jeder Gelegenheit das Wirkliche bezweifeln, wäre das ein höchst unpraktisches Verfahren im Alltag.
Mit "Wirklich?" bezweifelt man aber nicht, wie du zu Beginn selbst sagst, die Wirklichkeit, sondern unsere Ansichten.




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Sa 14. Sep 2019, 09:14

Wie ist das Verhältnis von Abstrahlung, Abschattung, Perspektive einerseits und Begriff andererseits? Es heißt in dem Text ja auch, dass wir unendlich viele verschiedene Abschattung desselben vor uns haben.

Ich kann also den Stempel, den ich gerade in der Hand halte, immer nur aus einer gewissen Perspektive heraus betrachten, niemals aus allen Perspektiven zugleich. Aber es ist zugleich klar, dass es immer der Stempel ist, den ich sehe und in den Händen drehe. Und das ist die Leistung des Begriffs, nämlich die wirkliche Einheit zu erfassen, also den Umstand zu erfassen, dass all diese Abtrahlungen Abstrahlung des Stempels sind.




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Sa 14. Sep 2019, 09:28

Für heute möchte ich mich dispensieren lassen.




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Nauplios hat geschrieben :
Fr 13. Sep 2019, 19:33
Wir sehen immer nur eine Seite eines Gegenstandes, die ihrerseits auf andere mögliche Seiten desselben Gegenstandes verweist. "Wie es bei einem Ding unendlich viele verschiedene Perspektiven gibt, aus denen es - ein und dasselbe bleibend - betrachtet und beschrieben werden kann, so gibt es bei der Wirklichkeit verschiedene Weisen, wie sich Begriffe von ihr ausbilden, die gleichwohl Begriffe von ihr sind. Es widerspricht dem Wesen überhaupt - des Dings wie der Wirklichkeit - , es schlagartig auf einmal erfassen und dann endgültig dauerhaft haben zu wollen. [...]
Wieder ein sehr informativer und schöner Beitrag, Nauplios.

Meine Nachfrage: Wenn wir durch die Metapher etwas durch (als) etwas erfassen, sagten wir, übertrügen wir etwas auf das andere, drückten dieses durch das andere aus. In dieser Lesart, wie du es mit Husserl nahelegst, leistet die Übertragung eine perspektivische Erfassung desselben durch einen anderen Blick auf dasselbe, wobei letzteres eine Perspektive der Wirklichkeit darstellt. Ich will sagen, dass wir mit der Metapher dasselbe in einem neuen Licht, in einer neuen Perspektive erfassen, und damit einen wirklichen Aspekt der Wirklichkeit hervorheben. Die Wirklichkeiten ergeben sich durch die Perspektiven, aber sie beschreiben daher nicht je durch anderes etwas, sondern durch sich selbst in anderem Gewand. Wäre es richtig wiedergegeben, wenn ich sage, dass die Metapher ein Blick auf dasselbe von anderer Warte ist?

Die Metapher wäre dann auch eine Weise, wie sich sich ein Begriff der Wirklichkeit ausbildet. Einen Begriff der Wirklichkeit zu haben, wäre dann unweigerlich ein Versuch, mit ihr auf vielfältige Weise umzugehen und sich ihrer wirklichsten Wirklichkeit zu stellen.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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