"Morgen früh, wenn Gott will, ...

In desem Forum kann die Philosophie des deutschen Philosophen Hans Blumenberg diskutiert werden.
Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

So 25. Aug 2019, 18:22

Friederike hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:40
Nauplios hat geschrieben :
Sa 24. Aug 2019, 17:41
Diese Bilder, Metaphern, Erzählungen ... sind natürlich historisch variabel.
[Unterstreichung von mir, F.]

Wo könnte man das Hirn-Maschinen Konzept vom Menschen einordnen? Gehört es immer noch zu der Erfindung eines Gottes, dem gleichzutun sich der Mensch bemüht (sinngemäß Blumenberg), diesmal nur unter anderem Vorzeichen, die Allmachtsphantasie, versteckt hinter dem Bild des hirnabhängigen Räderwerkes, oder aber ist es Umkehrung des Menschenbildes von der "Krone der Schöpfung" zu einer Sache, zu einem Ding; der Mensch, ein Ding unter vielen anderen Dingen.
Es gibt eine grundlegende Unschärfe der philosophischen Sprache. Weil die Philosophie es mit Totalitäten wie Welt, Bewußtsein, Geschichte u.ä.zu tun hat, läßt sich der cartesische Traum der vollkommenen Klarheit und Deutlichkeit der philosophischen Begrifflichkeit nicht erfüllen. Philosophie bleibt angesichts ihrer Totalitäten immer Stückwerk, Halbzeug. In welche Schwierigkeiten es führt, in einer begrifflich gefaßten, definitorischen Absicht die Welt eindeutig und klar zu bestimmen, zeigt beispielhaft der Versuch von Markus Gabriel, der am Ende aber auch wieder mit seinen "Sinnfeldern" metaphorisch imprägniert ist. Welches Maß an "Unschärfe" darin liegt, zeigen ja u.a. auch die Diskussionen darüber, was mit solchen "Sinnfeldern" gemeint ist. Weil das Ganze der Welt nicht begrifflich zu haben ist, gibt es dann die Welt erst gar nicht oder sie wird mit asketischen Auskünften wie "alles, was der Fall ist" u.ä. anvisiert. Blumenberg gab auf die Frage, was denn für ihn die Welt sei, die lapidare Antwort: "Die Welt ist der geometrische Ort aller Punkte." Die Anekdote zeigt sehr schön die Verlegenheit auf, in die man gerät, will man die Welt begrifflich "klar und eindeutig" definieren.

Metaphorologie ist der Versuch der Aufdeckung der "Substrukturen des Denkens", der "Nährlösung der systematischen Kristallisation" (Paradigmen, S. 13), also einer Struktur (von Metaphern, Mythen, Bildern, Erzählungen), die bei der Begriffsbildung am Werke ist, bevor sich theoretische "Kristallisationen" verfestigen bzw. die dort theoretische Verlegenheiten umgeht, wo sich ein Ganzes, eine Totalität mit einer "absoluten Metapher" anschaulich vor Augen führen läßt.

Vom "genetischen Programm" ist die Rede, vom "genetischen Code", vom "Wirtschaftswachstum", von "Kraft", "Leistung", "Spannung", "Widerstand" in der Physik, "schwarzen Löchern", "Killerviren" ... (vgl. [url]https://www.metaphorik.de/sites/www.met ... ke.pdf/url]) -

So sprechen wir heute oft vom Gehirn als "Steuerungselement", "Prozessor", vom Gedächtnis als "Festplatte" usw. Dort, wo der Mensch eine künstliche Intelligenz programmiert, sie mit lernenden Algorithmen versieht, tritt er als "Schöpfer" einer neuen "Welt" (!) auf, sieht er sich womöglich als ein kreativer Gott, der etwas erschafft. - Begreift er sich selbst als nichts mehr als "Modell" für eine solche künstliche Intelligenz, wird er zum "Ding unter vielen anderen Dingen". Alles ist programmierbar. Alles ist auf den Erfolg eines Programms oder seine vorläufige Unausgereiftheit (Reife als Metapher) zurückzuführen. Was "jemand vor 1500 Jahren in irgendwelchen Schriften niedergeschrieben hat" (Jäncke) kann beiläufig der Mensch-Maschine auf die Festplatte abgespeichert werden. Dieser Maschine werden also sämtliche Werke Blumenbergs in einem Ratsch eingespeichert - unter "B". - Für den Fall, daß irgendwann eine Friederike oder ein Nauplios des Jahres 2100 ein Zitat aus den Werken Blumenbergs sucht: die Mensch-Maschine hat es in einer Nanosekunde bereit. - Versteht sie es auch? - Wäre eine Mensch-Maschine namens Blumenberg dann in der Lage, sämtliche geisteswissenschaftliche Zusammenhänge und Verläufe von 2500 Jahren zu verstehen - vorausgesetzt, diese Maschine hätte auf ihrem "plk-Chip" (philosophie-literatur-kunst) sämtliche vorhandenen Werke sämtlicher Philosophen, Literaten, Künstler der letzten 2500 Jahre gespeichert? - "Wird so ein künstliches Gehirn dann in eine Maschine gebaut, die dazu noch aussieht wie ein Mensch, fällt die ganze Definition, was Menschlichkeit bedeutet, darnieder" (Jäncke; Hervorh. v. mir) -

Die Definition dessen, was den Menschen ausmacht, "fällt darnieder", d.h. es wird ein Problem gelöst, was ich eingangs beschrieben habe: ein Ganzes, eine Totalität (Mensch) braucht in seinem Wesen (seiner Menschlichkeit) gar nicht mehr definiert zu werden. Was in "irgendwelchen Schriften" steht, wird einfach per copy/paste eingespeichert. "Große Fragen" wird es für solche Mensch-Maschinen wahrscheinlich gar nicht mehr geben können, sie werden die ihnen einprogrammierten "Emotionen" dort einsetzen können, wo sie ihrer "Anpassung" an eine "Umgebung" nützlich sind, aber ansonsten von den Kant´schen Fragen, die uns "belästigen", nicht mehr behelligt werden; ja gut, vielleicht dann, wenn sie mal ganz "ausgereift" sind. ;)




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

So 25. Aug 2019, 18:44

Friederike hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:40
Der Mensch, weil er sich zu gar nichts so richtig bestimmt vorkommt (allenfalls könnte man meinen, eben darin, in der Unbestimmtheit, läge die Bestimmung des Menschen) erzählt Geschichten über sich, von denen die des Menschen, konzipiert nach dem Modell einer Maschine, eine dieser Geschichten ist.
Zeichnet sich der Mensch wesentlich durch seine Unbestimmtheit aus, so würde sich für eine Mensch-Maschine übrigens das Problem ergeben: Wie programmiert man Unbestimmtheit? - Das Programm ist seiner antiken Herkunft nach eine "schriftliche Bekanntmachung"; Programmierung von Unbestimmtheit wäre die schriftliche Bekanntmachung von Unbekanntem. - Zugegeben, somit hätte auch die Mensch-Maschine einen Anlaß, zu philosophieren. -




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

So 25. Aug 2019, 19:13

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 18:44
Friederike hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:40
Der Mensch, weil er sich zu gar nichts so richtig bestimmt vorkommt (allenfalls könnte man meinen, eben darin, in der Unbestimmtheit, läge die Bestimmung des Menschen) erzählt Geschichten über sich, von denen die des Menschen, konzipiert nach dem Modell einer Maschine, eine dieser Geschichten ist.
Zeichnet sich der Mensch wesentlich durch seine Unbestimmtheit aus, so würde sich für eine Mensch-Maschine übrigens das Problem ergeben: Wie programmiert man Unbestimmtheit? - Das Programm ist seiner antiken Herkunft nach eine "schriftliche Bekanntmachung"; Programmierung von Unbestimmtheit wäre die schriftliche Bekanntmachung von Unbekanntem. - Zugegeben, somit hätte auch die Mensch-Maschine einen Anlaß, zu philosophieren. -
Man müsste dann erst einmal sehen, welche Metaphern die Maschine erkünstelt, um ihr eigenes Dasein begreiflich zu machen. Vielleicht haben ihre Begriffe einen ganz starken Griff, und sie muss gar nicht erst lernen, im Nebel des Ungefähren Kurs zu halten oder zu naufragieren. Das ist vielleicht ein Privileg von uns Menschen, dass wir untergehen können im Meer von Fragen.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

So 25. Aug 2019, 20:01

Alethos hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 19:13

Man müsste dann erst einmal sehen, welche Metaphern die Maschine erkünstelt, um ihr eigenes Dasein begreiflich zu machen. Vielleicht haben ihre Begriffe einen ganz starken Griff, und sie muss gar nicht erst lernen, im Nebel des Ungefähren Kurs zu halten oder zu naufragieren. Das ist vielleicht ein Privileg von uns Menschen, dass wir untergehen können im Meer von Fragen.
Ja, da das Digitale nur eindeutige Zustände kennt, wäre die Mensch-Maschine frei von aller Rhetorik als "Armutszeugnis des Menschen" (Blumenberg). Mensch-Maschinen wären nicht angewiesen auf Metaphern, deren Wesen gerade das Nicht-Eindeutige ist. An ihnen und mit ihnen ließe sich der Traum des Descartes verwirklichen: eine auf völlige begriffliche Eindeutigkeit und Klarheit basierende Sprache. Sie würden auch keinen Mythos kennen, an dessen Rand die Eindeutigkeit des mythischen Geschehens immer weiter ausfranst. Sie würden vermutlich mit der Unterscheidung bekannt/unbekannt beobachten und das Unbekannte könnte über künftige Erfahrungen die Seite wechseln; aber sie könnten mit Ambivalenzen nicht umgehen. Ihre "Erinnerungsfetzen" wären fest umrissen und nicht Inseln in einem Meer des Herabgesunkenen. Anstelle eines Proust würden sie Erinnerungsarchive hervorbringen, in denen jede einzelne Erinnerung eine Signatur hat, eine Art Bibliothek von Erinnerungen. Ein Mann wie Borges täte uns not. ;)

Fortpflanzung geschähe als verlustfreie Kopie, Orgasmen wären zuschaltbare Ereignisse höherentwickelter All-in-one-Kopiergeräte ... ;)




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

So 25. Aug 2019, 20:44

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 20:01
Fortpflanzung geschähe als verlustfreie Kopie, Orgasmen wären zuschaltbare Ereignisse höherentwickelter All-in-one-Kopiergeräte ...
Überhaupt alles Extatische würde wegfallen, der Rausch einem blossen Datenrauschen weichen, das Beben einem Knattern im rostfreien Stahl. :D



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23270
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 06:22

Wo finden wir das Uneindeutige? Auf der Seite der materiellen Form des Zeichens oder auf der Seite seines Inhalts?




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23270
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 09:00

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 18:22
In welche Schwierigkeiten es führt, in einer begrifflich gefaßten, definitorischen Absicht die Welt eindeutig und klar zu bestimmen, zeigt beispielhaft der Versuch von Markus Gabriel, der am Ende aber auch wieder mit seinen "Sinnfeldern" metaphorisch imprägniert ist.
Dass es die Welt nicht gibt, heißt im Grunde doch, dass sie keineswegs eindeutig ist. Alles, was wir in den Blick nehmen, lässt viele Deutungen zu. Aber nicht aufgrund irgendeiner Pluralität von Diskursen, sondern weil die Welt selbst nicht eindeutig und klar bestimmt ist.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Mo 26. Aug 2019, 10:14

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 26. Aug 2019, 09:00
Nauplios hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 18:22
In welche Schwierigkeiten es führt, in einer begrifflich gefaßten, definitorischen Absicht die Welt eindeutig und klar zu bestimmen, zeigt beispielhaft der Versuch von Markus Gabriel, der am Ende aber auch wieder mit seinen "Sinnfeldern" metaphorisch imprägniert ist.
Dass es die Welt nicht gibt, heißt im Grunde doch, dass sie keineswegs eindeutig ist. Alles, was wir in den Blick nehmen, lässt viele Deutungen zu. Aber nicht aufgrund irgendeiner Pluralität von Diskursen, sondern weil die Welt selbst nicht eindeutig und klar bestimmt ist.
Ich verstehe Nauplios-Blumenberg nicht so, daß es um die Welt und verschiedene Deutungen der Welt geht, sondern so, daß es grundsätzlich nicht möglich ist oder möglich sein soll, mit Begriffen die Welt eindeutig zu bestimmen. Und zwar unabhängig davon, ob die Welt mehrdeutig ist oder nicht. Die schärfste Form des Begriffes ist die Definition. Warum das nun aber grundsätzlich nicht möglich sein soll, das ist mir noch nicht klar. Weil mir mit dem Begriff "etwas" als "etwas" identifizieren und damit durch den Begriff einen außer-begrifflichen Bereich schaffen, nämlich den, der von ihm nicht erfaßt wird? Oder wie?

NS: Eigentlich ist dies die Antwort:
Nauplios hat geschrieben : Metaphorologie ist der Versuch der Aufdeckung der "Substrukturen des Denkens", der "Nährlösung der systematischen Kristallisation" (Paradigmen, S. 13), also einer Struktur (von Metaphern, Mythen, Bildern, Erzählungen), die bei der Begriffsbildung am Werke ist, bevor sich theoretische "Kristallisationen" verfestigen bzw. die dort theoretische Verlegenheiten umgeht, wo sich ein Ganzes, eine Totalität mit einer "absoluten Metapher" anschaulich vor Augen führen läßt.
Die der Begriffsbildung zugrundeliegenden Metaphern sind nie eindeutig.




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Mo 26. Aug 2019, 13:26

Metaphorologische Weltbeschreibungen, wenn ich es recht verstehe, konzentrieren sich nicht auf klare Begriffsgrenzen, weil sie stets unerreichbar bleiben für den direkten Zugriff. Die Dinge/Sachverhalte/Theorien kristallisieren sich zwar in Begriffen, sie bestehen in relativ klar konturierten begrifflichen Grenzen, aber für vieles haben wir keine Begriffe, die direkten Zugriff auf ein (ganzheitlicheres) Verstehen erlauben. Es bleibt vieles trotz oder gerade wegen der Begriffe unbegreiflich. Wir haben keine Begriffe für das Unbegreifliche. Hier versucht die Metaphorologie über Umwege, über Provisorien, über bildhafte Übersetzungsleistungen, ein Gespür für dieses Unbegriffliche zu entwickeln, aber ohne selbst wiederum einen eindeutigen Begriff zu geben. Sie meidet solche sogar. Für das Uneindeutige eine Sprache zu finden, das ist das Anliegen der Metaphorologie, weil sie jenseits der Begriffe, sozusagen in seinen Umrissen (in der 'Nährlösung der systematischen Kristallisation') verborgene Erkenntnisschätze vermutet. Es hat glaube ich viel auch mit Fernweh zu tun, mit dem Fernweh eines Entdeckers, dem das Naheliegende zu nahe liegt.

Ich kann mich irren mit dieser Interpretation, aber was sicher ist, es gibt Hundert bessere Arten, es zu formulieren.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Mo 26. Aug 2019, 14:16

Alethos hat geschrieben :
Mo 26. Aug 2019, 13:26
Ich kann mich irren mit dieser Interpretation, aber was sicher ist, es gibt Hundert bessere Arten, es zu formulieren.
Du bist ... Bild




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 18:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 26. Aug 2019, 06:22
Wo finden wir das Uneindeutige? Auf der Seite der materiellen Form des Zeichens oder auf der Seite seines Inhalts?
Man muß berücksichtigen, daß die Metaphorologie ja keine Zeichentheorie ist. Sie ist nicht einmal eine Metapherntheorie im sprachphilosophischen Sinne. Vielmehr liegen ihr anthropologische Motive zugrunde. Daß Metaphern als rhetorisches Element der Sprache vorkommen und als solche die "materielle Form" eines nicht eindeutigen "Zeichens" haben und daß sie in dem, was sie damit als "Inhalt" bezeichnen ebenfalls nicht eindeutig sind - das wären Befunde, die an den anthropologischen Kern der Metapher, an ihre Funktion als Distanzgewinnung vom Absolutismus der Wirklichkeit, bzw. an die pragmatische Funktion, ein begrifflich in seiner Totalität nicht überschaubares Ganzes zu veranschaulichen, nicht in den Blick bekämen.

Das humane Selbst- und Weltverhältnis ist metaphorisch. Die Gründe dafür liegen in einer Not, die daraus entsteht, daß die Grundstrukturen des menschlichen Daseins weder mit den Mitteln des Begriffs noch mit denen der Wahrnehmung in ihrer Totalität erfaßt werden können. Es ist nicht so, daß für die Welt nicht den Begriff "Welt" hätten. Aber dieser Begriff schließt uns das, was die Welt in ihrer Totalität ist, nicht auf. Und eine direkte Anschauung von allem, was der Fall ist, hat auch niemand. Das gilt auch für das Leben, die Geschichte, das Bewußtsein usw. Um uns das Ganze des Lebens vorzustellen, greifen wir zu metaphorischen Veranschaulichungen, welche natürlich nicht die Eindeutigkeit aufweisen, die Begriffe aufweisen können. Das Leben als gewagte Seefahrt läßt viele Deutungen und Interpretationen zu.




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 18:55

Friederike hat geschrieben :
Mo 26. Aug 2019, 10:14

Ich verstehe Nauplios-Blumenberg nicht so, daß es um die Welt und verschiedene Deutungen der Welt geht, sondern so, daß es grundsätzlich nicht möglich ist oder möglich sein soll, mit Begriffen die Welt eindeutig zu bestimmen. Und zwar unabhängig davon, ob die Welt mehrdeutig ist oder nicht. Die schärfste Form des Begriffes ist die Definition. Warum das nun aber grundsätzlich nicht möglich sein soll, das ist mir noch nicht klar. Weil mir mit dem Begriff "etwas" als "etwas" identifizieren und damit durch den Begriff einen außer-begrifflichen Bereich schaffen, nämlich den, der von ihm nicht erfaßt wird? Oder wie?
Was vermögen Metaphern, was Begriffe nicht auch könnten? - Fokussiert man sich auf diese erkenntnistheoretische Perspektive - die selbstverständlich auch eine Rolle spielt - verliert man andere Motive der Metaphorologie aus dem Auge. Die Rhetorik (und damit die Metapher als Spezialgebiet der Rhetorik) ist ja nicht allein eine Sprachtechnik. Vielmehr geht es um die "rhetorische Situation" als Kompensation für die anthropologische Unbestimmtheit der conditio humana.

Begriffe, Logik, Prädikationen, Definitionen, Thesen, Schlüsse, Theorien, Diskurse ... greifen auf ein reichhaltiges Material ("Nährlösung") an Bilderreichtum zurück, aus denen sie schöpfen.




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 19:16

Alethos hat geschrieben :
Mo 26. Aug 2019, 13:26
Metaphorologische Weltbeschreibungen, wenn ich es recht verstehe, konzentrieren sich nicht auf klare Begriffsgrenzen, weil sie stets unerreichbar bleiben für den direkten Zugriff. Die Dinge/Sachverhalte/Theorien kristallisieren sich zwar in Begriffen, sie bestehen in relativ klar konturierten begrifflichen Grenzen, aber für vieles haben wir keine Begriffe, die direkten Zugriff auf ein (ganzheitlicheres) Verstehen erlauben. Es bleibt vieles trotz oder gerade wegen der Begriffe unbegreiflich. Wir haben keine Begriffe für das Unbegreifliche. Hier versucht die Metaphorologie über Umwege, über Provisorien, über bildhafte Übersetzungsleistungen, ein Gespür für dieses Unbegriffliche zu entwickeln, aber ohne selbst wiederum einen eindeutigen Begriff zu geben. Sie meidet solche sogar. Für das Uneindeutige eine Sprache zu finden, das ist das Anliegen der Metaphorologie, weil sie jenseits der Begriffe, sozusagen in seinen Umrissen (in der 'Nährlösung der systematischen Kristallisation') verborgene Erkenntnisschätze vermutet. Es hat glaube ich viel auch mit Fernweh zu tun, mit dem Fernweh eines Entdeckers, dem das Naheliegende zu nahe liegt.

Ich kann mich irren mit dieser Interpretation, aber was sicher ist, es gibt Hundert bessere Arten, es zu formulieren.

Um ein Mißverständnis zu vermeiden: Es geht ja nicht um das Ausspielen der Metapher gegen den Begriff. Die Strenge der Wissenschaft liegt u.a. auch in "klaren und deutlichen", definitorisch fest umrissenen Begriffen. Der Begriff ist der Stolz der Vernunft. Die Metapher erscheint dagegen, weil sie mehrdeutig ist, ein defizienter Modus. Doch was wäre, wenn auch die Wissenschaften auf Metaphern nicht verzichten könnten? Was wäre, wenn Rhetorik sogar in einer solch strengen Wissenschaft wie der Logik auftaucht - und zwar nicht im Vorwort, sondern da, wo es ans logisch Eingemachte geht?

"An ihrem Grunde, dem logisch Einfachen angelangt, kann also selbst eine so ˋstrenge Wissenschaft´ wie die Logik nicht auf rhetorische Elemente verzichten." (Gottfried Gabriel; Zwischen Logik und Literatur; S. 88) -




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 19:17


"Unterscheidungswissen ist nicht allein begrifflicher Art, es manifestiert sich gerade auch und besonders in Metaphern. Nun galten Metaphern - sowie ganz allgemein bildliche Sprache - in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften häufig geradezu als Feinde genauer Unterscheidungen und Erkenntnisse. [...]

Schon Kant hat mit Blick auf solche kategorialen Begriffe wie 'Grund' und 'Substanz' deren metaphorischen Ursprung im Sinne einer veranschaulichenden Analogie herausgestellt. Am besten begegnet man der dekonstruktiven Erkenntniskritik dadurch, daß man auf eine strikte Unterscheidung zwischen Begriffen und Metaphern verzichtet und den Erkenntniswert der Metaphern positiv hervorhebt. [...]

Die poetische Metapher bereichert eine Darstellung, die kategoriale Metapher ermöglicht eine Unterscheidung. Poetische Metaphern sind Väter des Überflusses, sie setzen Konnotationen frei; kategoriale Metaphern greifen auf Konnotationen zurück, weil die Begriffe fehlen. Sie sind Kinder des Mangels und werden aus Ausdrucksnot geboren. Als Beispiel sei hier das aus der Chemie übernommene Metaphernpaar 'gesättigt - ungesättigt' angeführt, daß Frege dazu dient, die Unterscheidung zwischen den logisch einfachen und daher nicht definierbaren kategorialen Begriffen des Gegenstandes und der Funktion zu erläutern und die logische Struktur der prädikativen Aussage als Sättigung eines ungesättigten Begriffs durch einen abgeschlossenen Gegenstand zu bestimmen. Um sich über einfache Begriffe zu verständigen, so räumt Frege ein, sei es nur möglich, 'auf das hinzudeuten, was gemeint ist', und dazu müsse man häufig auf 'bildliche Ausdrücke' zurückgreifen. Da die Metaphern hier nicht bloß der Veranschaulichung einer bestehenden Begrifflichkeit dienen, handelt es sich um 'absolute Metaphern' im Sinne Hans Blumenbergs, um solche Metaphern nämlich, deren Bedeutungsinhalt durch Begriffe nicht eingeholt werden kann und die daher Anlass geben, 'das Verhältnis von Phantasie und Logos neu zu durchdenken."

(Gottfried Gabriel; Erkenntnis; S. 54f.)
Zuletzt geändert von Nauplios am Mo 26. Aug 2019, 19:59, insgesamt 3-mal geändert.




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Mo 26. Aug 2019, 19:26

Hier noch mal eine Textstelle, welche die Sprachnotwendigkeit der Metapher ("Sättigung") bei Frege und in der Logik dokumentiert:

"Als Beispiel für den Erkenntniswert kategorialer Metaphern sei die chemische Metapher der 'Ungesättigtheit' angeführt. Sie dient dem Logiker (!) Gottlob Frege, der ansonsten mit Blick auf die Geltung des tertium non daturfür seine Forderung nach 'scharfer Begrenzung der Begriffe' bekannt ist, zur Erläuterung des kategorialen Begriffs der Funktion. Der Begriff der Funktion ist nach Frege logisch einfach, also definitorisch nicht auf andere Begriffe zurückführbar, so daß wir mit unseren Begriffen an ein Ende kommen. Zur Erläuterung müsse man daher - so Frege - auf 'bildliche Ausdrücke' zurückgreifen. Dabei geht es nicht um eine ergänzende Veranschaulichung bereits bestehender Begrifflichkeit, sondern die Metapher tritt an die Stelle fehlender Begrifflichkeit. An ihrem Ur-Grunde, beim logisch Einfachen angelangt, kann also selbst eine so strenge Wissenschaft wie die Logik nicht auf rhetorische Elemente des Unbegrifflichen verzichten." (Gottfried Gabriel; Präzision und Prägnanz. Logische, rhetorische, ästhetische und literarische Erkenntnisformen; S. 44) -

Das Rufzeichen in dem Zitat stammt nicht von mir, sondern findet sich im Text. -




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23270
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 27. Aug 2019, 05:42

Nauplios hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 20:01
Ja, da das Digitale nur eindeutige Zustände kennt, wäre die Mensch-Maschine frei von aller Rhetorik als "Armutszeugnis des Menschen" (Blumenberg).
Nauplios hat geschrieben :
Mo 26. Aug 2019, 18:35
Man muß berücksichtigen, daß die Metaphorologie ja keine Zeichentheorie ist.
Wir können uns leicht Wesen vorstellen, die sich, in dem Moment wo sie etwas sagen, zwar in eindeutigen physikalischen Zuständen befinden; während das, was sie gerade sagen, uneindeutig und flirrend ist. Ich meine, diesen Umstand habt ihr weiter oben außer acht gelassen...




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Di 27. Aug 2019, 14:08

Herrschaft der Vernunft (die das "Gütesiegel" u.a. der Wissenschaften ist), Eindeutigkeit der Begriffe, Naturwissenschaften und Wissenschaften vom Menschen; die Neuropsychologie dürfte eine Verbindung beider Wissenschaftsgegenstände sein. Das hat eine hohe Relevanz für die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Auf der politischen Ebene fließen neuere Erkenntnisse in neue Gesetze ein oder führen zur Korrektur bestehender Gesetze. Dies wiederum hat enormen Einfluß auf die Alltagspraxis der Mitglieder einer Gesellschaft (man denke an Krankheitstherapien, Energiesparmaßnahmen in verschiedensten Bereichen, alle Arten von technischem Gerät). Andersherum arbeiten die verschiedenen Wissenschaftsbereiche nicht unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen (Finanzierung).

Und bei allen Erkenntnissen, von denen die beteiligten WissenschaftlerInnen -vermutlich- wissen, wie vorläufig sie sind, muß die Politik aber so tun, als seien sie der Weisheit letzter Schluß.

(Stichwortartig zum praktischen Aspekt der Dominanz der Wissenschafts-Vernunft).




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Di 27. Aug 2019, 18:40

Friederike hat geschrieben :
Di 27. Aug 2019, 14:08
Herrschaft der Vernunft (die das "Gütesiegel" u.a. der Wissenschaften ist), Eindeutigkeit der Begriffe, Naturwissenschaften und Wissenschaften vom Menschen; die Neuropsychologie dürfte eine Verbindung beider Wissenschaftsgegenstände sein. Das hat eine hohe Relevanz für die gesellschaftliche Wirklichkeit.

Auf der politischen Ebene fließen neuere Erkenntnisse in neue Gesetze ein oder führen zur Korrektur bestehender Gesetze. Dies wiederum hat enormen Einfluß auf die Alltagspraxis der Mitglieder einer Gesellschaft (man denke an Krankheitstherapien, Energiesparmaßnahmen in verschiedensten Bereichen, alle Arten von technischem Gerät). Andersherum arbeiten die verschiedenen Wissenschaftsbereiche nicht unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen (Finanzierung).

Und bei allen Erkenntnissen, von denen die beteiligten WissenschaftlerInnen -vermutlich- wissen, wie vorläufig sie sind, muß die Politik aber so tun, als seien sie der Weisheit letzter Schluß.

(Stichwortartig zum praktischen Aspekt der Dominanz der Wissenschafts-Vernunft).
In dem Band Permanentes Provisorium gibt es zum Aspekt der Technisierung einen lesenswerten Aufsatz von Alexander Friedrich: "Daseinsgrundprobleme. Blumenbergs Metaphorologie als Kultur- und Technikphilosophie" (S. 75ff); darin heißt es:

"Fortschreitende Technisierung stabilisiert und beschleunigt nicht nur Kommunikations-, Handlungs- und Produktionsabläufe. In Gestalt unerwünschter Technikfolgen produziert sie auch ˋerst die Bedrängnisse, denen abzuhelfen sie theoretisch entworfen war.´" (S. 86) -

"Fortschreitende Technisierung bringt, kurz gesagt, einen zunehmenden Kontrollverlust mit sich. Spätestens in der modernen Technik bekundet sich eine systematische Selbstüberforderung der anthropologischen Vernunft durch ihre eigenen Erfolge ..." (S. 86) -

Aktueller denn je wird in der Dialektik von Lebenswelt und Technisierung durch den Verbund von Neurowissenschaften und KI-Forschung der menschliche Selbst- und Weltbezug in Metaphern gefaßt, die das Gehirn als "Schaltzentrale", als antihierarchisches "Netzwerk" vorstellen.




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Di 27. Aug 2019, 19:00

Hier noch mal ein illustrativer Aufsatz über Metaphern in der Hirnforschung:


http://material.brainworks.uni-freiburg ... phern2.pdf




Nauplios
Beiträge: 2883
Registriert: Mo 27. Mai 2019, 16:12
Kontaktdaten:

Di 27. Aug 2019, 20:02

Alexander Friedrich spricht nachfolgend auch von einem "unhintergehbar historisch gewordenen Dasein" (91). Das Dasein (des Menschen), sein Selbstverständnis und das, was er als Wirklichkeit betrachtet, unterliegt einem historischen Werden, d.h. es ist nicht isolierbar, sondern nur im Zusammenhang der Wechselwirkung zwischen Historizität und Metaphorizität zu verstehen. Dieses Wechselspiel bezeichnet Blumenberg als "Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen ..., innerhalb deren Begriffe ihre Modifikationen erfahren" (Paradigmen; S. 11) -




Antworten