Volkssouveränität

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Di 21. Mai 2019, 12:16

Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 21. Mai 2019, 11:45
Nein, im Gegenteil. Weil es gar nicht anders geht, bejaht man die repräsentative Demokratie emphatisch und hält nicht besonders viel von sog. "Volksentscheiden". :-)
Das verstehe ich leider nicht :-(




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Friederike
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Di 21. Mai 2019, 12:28

Am Ende des Artikels, letzter Absatz, wird eindeutig Stellung bezogen.
Artikel hat geschrieben : Gute Gründe sprechen – angesichts einer Krise der repräsentativen Demokratie – für eine solche Verfassungsreform, die Volksentscheide und Volksabstimmungen zu zentralen politischen Fragen und Weichenstellungen vorsieht. Nach mehr als 50 Jahren Bestehen der zweiten deutschen Demokratie vermag das Argument nicht mehr zu überzeugen, das deutsche Volk als Gesamtheit der Bürger sei nicht reif und mündig, sich mittels direktdemokratischer Verfahren rational und effektiv in politische Sachentscheidungen einzuschalten. Leider hat sich diese Argumentation in der Verfassungsreformdiskussion nicht durchsetzen können. Die Verfassungsreform wurde 1994 definitiv verabschiedet, ohne auf Bundesebene eine plebiszitäre Komponente einzuführen.




Hermeneuticus
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Mi 22. Mai 2019, 08:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 21. Mai 2019, 11:30
In der Regel wird der verfassunggebende Wille also durch eine Repräsentation des Volkes ausgeübt. Wenn man diese Möglichkeit der Repräsentation nicht anerkennt, muss man dann nicht repräsentative Demokratie überhaupt ablehnen?
Im Rahmen einer demokratischen Verfassung sind die Bedingungen der Repräsentation festgelegt, und zwar so, dass gesetzgebende Versammlungen 1. auch wirklich repräsentativ zusammengesetzt sind und 2. der Kontrolle durch die Wähler unterliegen und wieder abgewählt werden können. Aber wenn es noch keine Verfassung gibt - wie soll denn festgestellt werden, ob die verfassungsgebende Versammlung wirklich das Volk repräsentiert und nach seinem Willen entscheidet?
(Dazu nur ein Punkt: Wie viele Frauen gab es wohl in der "Nationalversammlung" der frz. Revolution? Wie viele Frauen saßen im Verfassungskonvent bzw. im Parlamentarischen Rat, die 1949 das Grundgesetz ausgearbeitet haben?)
Zuletzt geändert von Hermeneuticus am Mi 22. Mai 2019, 09:04, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Mi 22. Mai 2019, 08:55

Das Problem ist: dann kann es nie eine Verfassung geben, da die Forderung, dass sich alle zusammentun, einfach nicht zu erfüllen ist bei einem Volk, dass zig Millionen Bürger hat.




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Friederike
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Mi 22. Mai 2019, 09:29

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 22. Mai 2019, 08:55
Das Problem ist: dann kann es nie eine Verfassung geben, da die Forderung, dass sich alle zusammentun, einfach nicht zu erfüllen ist bei einem Volk, dass zig Millionen Bürger hat.
Wenn das so ist, dann kann man doch aber nicht behaupten, der zentrale Aspekt der V. sei ihre konstituierende Gewalt? Behaupten kann man das schon, aber es ist doch unter diesen Umständen mehr eine Norm denn empirisch abgedeckt? "Norm" ist vielleicht nicht das zutreffende Wort. Wenn im GG steht, Du hattest gestern daraus zitiert, "wir", das Volk, dann ist es doch eher Makulatur? Ich muß es drastischer formulieren. Dann kann man die Legitimationsgrundlage über die Schulter werfen.




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Jörn Budesheim
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Mi 22. Mai 2019, 09:30

@hermeneuticus

Im Grunde formulierst du zwei Einwände, die zwar zusammenhängen mögen, aber dennoch getrennt behandelt werden können, wenn ich recht sehe.
  • So etwas wie den (vorstaatlichen) Gründungsakt eines souveränen Volkes gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Das ist ein Mythos.
  • Die Volksvertreter sind nicht repräsentativ fürs Volk, weil nicht alle Bevölkerungsschichten repräsentiert sind.




Hermeneuticus
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Mi 22. Mai 2019, 09:31

Nun, unser Grundgesetz lässt sich auf demokratischem Weg ändern. Und es hat seit seiner Entstehung auch schon eine ganze Reihe von Änderungen gegeben. Man könnte also sagen, unsere Verfassung optimiere sich - langsam und behutsam - im demokratischen Prozess, der ja immer auch ein Lernprozess ist.

Was ein Gremium oder eine Versammlung als Verfassung ausarbeiten kann, hängt immer vom Wissenshorizont und den politischen Ansichten der Mitglieder ab. Zwar gehen in neue Verfassungen immer auch historische Erfahrungen ein - wenn denn entsprechend kundige Leute im Gremium sitzen! -, aber die Vorstellung, dass ein eher zufällig zusammengewürfelter Rat zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt DIE perfekte Verfassung entwerfen könnte, die dann für alle Zeiten gültig bleibt, ist doch abwegig.

Nein, man muss sich wohl von den politischen Theorien verabschieden, die die Entstehung von Staaten und Verfassungen auf einen einzelnen Gründungsakt zurückführen wollen (z.B. den Gesellschaftsvertrag oder eben eine "Urabstimmung" des souveränen Volkes). Diese Theorien vernebeln die politische Realität. Sie tun so, als gäbe es ein Volk ohne politische Institutionen - also im "Naturzustand" - und als sei dieses Volk gerade deshalb "souverän", weil es keinem Gesetz und keiner Form von politischer Herrschaft unterworfen ist. Politische Freiheit kann nur im politischen Prozess entstehen. Sie ist kein Geschenk der Natur, das man von draußen in den politischen Prozess hinein holen könnte oder das einer glorreichen Nationalversammlung in den Schoß fiele... :-)




Hermeneuticus
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Mi 22. Mai 2019, 09:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 22. Mai 2019, 09:30
@hermeneuticus

Im Grunde formulierst du zwei Einwände, die zwar zusammenhängen mögen, aber dennoch getrennt behandelt werden können, wenn ich recht sehe.
  • So etwas wie den (vorstaatlichen) Gründungsakt eines souveränen Volkes gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Das ist ein Mythos.
  • Die Volksvertreter sind nicht repräsentativ fürs Volk, weil nicht alle Bevölkerungsschichten repräsentiert sind.
Moment! Ich sage ja nicht, dass Volksvertretungen grundsätzlich nie repräsentativ seien! Wenn sie auf demokratischem Weg gewählt und abgewählt werden können und wenn außerdem ihre Entscheidungen revidierbar sind, dann entschärft sich das Problem. Aber dazu braucht es eben schon eine demokratische Verfassung und ein eingespieltes demokratisches Leben des Volkes.

Mein Einwand bezieht sich nur auf den angeblich souveränen Gründungsakt "des" Volkes, der außerhalb einer Rechtsordnung stattfinden soll.




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Jörn Budesheim
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Mi 22. Mai 2019, 10:05

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 22. Mai 2019, 09:46
Moment!
Stimmt.

Ich schreibe statt dessen wohl besser: Die Volksvertreter waren nicht repräsentativ fürs Volk, weil nicht alle Bevölkerungsschichten repräsentiert waren.




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Stefanie
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Do 23. Mai 2019, 21:52

Kleines off-topic
Wie viele Frauen saßen im Verfassungskonvent bzw. im Parlamentarischen Rat, die 1949 das Grundgesetz ausgearbeitet haben?)
Vier. Und diese - vor allem die zwei Frauen aus der SPD - haben den Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" durchgesetzt. Dazu gibt es einen schönen Fernsehfilm, mit Iris Berben.
Bis dieser Satz anfing zu wirken, hat es allerdings noch ziemlich lange gedauert.
Ich hatte in der Uni zum Grundgesetz Bernhard Schlink als Professor und dieser sagte immer konsequent "die Mütter und Väter des Grundgesetzes".



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Stefanie hat geschrieben :
Do 23. Mai 2019, 21:52
Kleines off-topic
Wie viele Frauen saßen im Verfassungskonvent bzw. im Parlamentarischen Rat, die 1949 das Grundgesetz ausgearbeitet haben?)
Vier. Und diese - vor allem die zwei Frauen aus der SPD - haben den Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" durchgesetzt. Dazu gibt es einen schönen Fernsehfilm, mit Iris Berben.
Bis dieser Satz anfing zu wirken, hat es allerdings noch ziemlich lange gedauert.
Der Film lief übrigens gestern auf PHOENIX gleich mehrmals. :-)

Aber Dein Hinweis ist kein bisschen "off-topic". - Die Geschichte dieses Grundgesetzartikels beleuchtet nämlich sehr schön die von mir angesprochenen Probleme mit dem "konstituierenden Akt" und seiner angeblichen "Souveränität". Abgesehen davon, dass es sowieso die alliierten Besatzungsmächte waren, die damals den Prozess der Verfassungsgebung befohlen haben, muss man es doch als einen reinen Zufall ansehen, dass im Parlamentarischen Rat die energische Elisabeth Selbert (eine Rechtsanwältin aus Kassel) saß, die dann den Artikel "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" durchgesetzt hat. Das gelang nur, weil sie über Radiosendungen die Frauen im Land mobilisierte und zu Protesten "aufwiegelte". Denn im Parlamentarischen Rat selbst war ihr Antrag abgeschmettert worden.

Interessant ist auch der Vergleich der Formulierung "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" mit der Formulierung aus der Weimarer Verfassung: "Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten." Weniger ist hier eindeutig mehr! Den Juristen im Parlamentarischen Rat war sofort klar, dass die unscheinbare Weglassung sehr folgenreich sein würde. Man musste nämlich weite Teile des Bürgerlichen Gesetzbuches und das ganze Familienrecht (also die nicht-staatsbürgerlichen Teile des Rechts) umarbeiten, um diesen schlichten Satz zu verwirklichen. Und das dauerte, wie Du schon sagtest, Stefanie, Jahrzehnte. Auch, weil die erzkonservative Adenauer-Regierung bremste, wo sie nur konnte. Sie ignorierte sogar eine Aufforderung des Verfassungsgerichts.




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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 24. Mai 2019, 10:45
Das gelang nur, weil sie über Radiosendungen die Frauen im Land mobilisierte und zu Protesten "aufwiegelte".




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Friederike
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Fr 24. Mai 2019, 11:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 24. Mai 2019, 11:29
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 24. Mai 2019, 10:45
Das gelang nur, weil sie über Radiosendungen die Frauen im Land mobilisierte und zu Protesten "aufwiegelte".
Warum zitierst Du den Satz?




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Jörn Budesheim
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So 26. Mai 2019, 20:41

Weil ist zeigt, welchen Einfluss "das Land" offenbar doch hatte.




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