Klassiker: Was macht das Selbst aus?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Jörn Budesheim
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Fr 14. Feb 2025, 08:56

Es gibt zu dazu ein bekanntes Gedankenexperiment, die genaueren Hintergründe waren mir aber nicht mehr präsent, also hab ich die KI angeworfen.
Jörn Budesheim (an Chat GPT) hat geschrieben : Es gibt ein einflussreiches philosophisches Gedankenexperiment. Ich schätze, es ist ein paar Jahrhunderte alt. Es stammt aus dem europäischen Raum von einem bis heute bekannten Philosophen. Es geht um die Frage nach unserer Identität. Dabei wandern die Erinnerungen eines Herrschers (Fürsten?) in den Körper eines "Untertanen" (Ich meine, es war ein Schneider) und umgekehrt, sie wechseln also die Erinnerungen. Im Ergebnis meint der Philosoph damit gezeigt zu haben, dass die Identität an den Erinnerungen hängt. Wer war der Philosoph? Wie lautete das Gedankenexperiment?
ChatGPT hat geschrieben : Das von Ihnen beschriebene Gedankenexperiment stammt von John Locke, einem einflussreichen englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts. In seinem Werk "An Essay Concerning Human Understanding" (1689) diskutiert Locke die Frage der persönlichen Identität und illustriert seine Überlegungen mit dem Beispiel eines Fürsten und eines Schuhmachers. Er stellt sich vor, dass die Bewusstseinsinhalte, einschließlich der Erinnerungen, des Fürsten in den Körper des Schuhmachers übertragen werden und umgekehrt. Locke argumentiert, dass die Identität einer Person nicht an den physischen Körper gebunden ist, sondern vielmehr an das Bewusstsein und die Erinnerungen. Demnach wäre derjenige, der die Erinnerungen des Fürsten besitzt, trotz des Körpers des Schuhmachers, tatsächlich der Fürst und umgekehrt. Dieses Gedankenexperiment soll veranschaulichen, dass persönliche Identität durch psychologische Kontinuität, insbesondere durch das Bewusstsein vergangener Handlungen und Erfahrungen, bestimmt wird.



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Quk
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Fr 14. Feb 2025, 09:06

Bedeuten für Dich die Begriffe Identität und Selbst das gleiche?




Jörn Budesheim
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Fr 14. Feb 2025, 09:08

Ja, ich denke schon. Das "phänomenale Selbst" von dem du weiter oben sprichst berührt meines Erachtens die Frage nur am Rande ... oder ich hab deinen Punkt noch nicht verstanden.



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Quk
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Fr 14. Feb 2025, 09:14

Dann habe ich den Fadentitel falsch verstanden. Wenn der gleichbedeutend ist mit "Was macht die Identität aus?", dann stimme ich Dir natürlich in allem zu. Mein Missverständnis tut dann nichts weiter zur Sache.




Jörn Budesheim
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Fr 14. Feb 2025, 14:38

Ich hab einige Quellen zum Thema gesammelt und NotebookLM damit gefüttert. auf die Frage "Was sind die Ergebnisse von Nina Strohminger und Shaun Nichols, die aus ihren empirischen Methoden hervorgehen?" lautete die Antwort des Programms:
notebookLM hat geschrieben : Nina Strohminger und Shaun Nichols haben durch ihre empirischen Methoden mehrere Ergebnisse erzielt. Ihre Forschung konzentriert sich darauf, wie Menschen über persönliche Identität denken und welche mentalen Eigenschaften als wesentlich für das Selbst angesehen werden.

Ein Hauptergebnis ist, dass moralische Eigenschaften eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der persönlichen Identität spielen. In verschiedenen Szenarien, wie z.B. dem Verlust von Fähigkeiten nach einer Kopfverletzung oder der Frage, welche Eigenschaften bei einer Wiedergeburt erhalten bleiben, wurden moralische Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Empathie und Fairness als besonders wichtig erachtet.

In einer Studie, in der Teilnehmer sich vorstellen sollten, dass sie nach einem Unfall ein Gehirntransplantat erhalten, zeigte sich, dass der Verlust der moralischen Fähigkeiten als die einschneidendste Veränderung der Identität angesehen wurde. Der Verlust von Erinnerungen oder Wünschen hatte ebenfalls einen Einfluss, aber nicht so stark wie der Verlust der Moral.

Ein weiteres Ergebnis betrifft die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Erinnerungen. Autobiografische Erinnerungen scheinen wichtiger für die Identität zu sein als beispielsweise das Wissen, wie man etwas tut. Der Verlust der Fähigkeit, sich an persönliche Erfahrungen zu erinnern, führte zu einem größeren Verlust der Identität als der Verlust grundlegender kognitiver Fähigkeiten.

Strohminger und Nichols fanden auch heraus, dass Persönlichkeitsmerkmale eine größere Rolle für die Identität spielen als Erinnerungen, Wünsche oder Wahrnehmung. Allerdings waren moralische Eigenschaften immer noch der wichtigste Faktor.

Darüber hinaus untersuchten sie, wie sich religiöse Überzeugungen auf die Wahrnehmung des Selbst auswirken. In einer Studie mit Buddhisten, Hindus und Amerikanern zeigten sich kulturelle Unterschiede in Bezug auf die Kontinuität des Selbst. Buddhistische Teilnehmer neigten dazu, eine geringere Kontinuität zwischen ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Selbst wahrzunehmen.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass die Ergebnisse nicht immer den Erwartungen entsprachen. Zum Beispiel berichteten tibetische Mönche in einigen Fällen eine größere Sorge um die Selbsterhaltung als andere Gruppen, was den expliziten buddhistischen Lehren über das Nicht-Selbst zu widersprechen scheint.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Forschung von Strohminger und Nichols die zentrale Bedeutung moralischer Eigenschaften für die persönliche Identität hervorhebt. Ihre Studien zeigen, dass Menschen moralische Werte als wesentlichen Bestandteil des Selbst betrachten, wichtiger als andere mentale Fähigkeiten oder körperliche Merkmale.



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Jörn Budesheim
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Fr 14. Feb 2025, 14:41

Ich finde den empirischen Ansatz spannend, aber man kann sich natürlich auch fragen, ob das wirkliche eine angemessene Methode ist, philosophische Probleme anzugehen. Spannend wäre folgendes, man befragt die Teilnehmer:innen vor und nach einer philosophischen Vorlesungsreihe zum Thema :-)



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Jörn Budesheim
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Sa 1. Mär 2025, 08:13



"Philosophen diskutieren unter „personaler Identität“ die Frage, wie wir dieselben bleiben, obwohl wir uns über die Zeit verändern. Viel spricht dafür, dass weder eine unsterbliche Seele noch autobiographische Erinnerungen, sondern unser Charakter essentiell für unsere Identität ist. Der Charakter umfasst den moralischen Kompass eines Menschen, also seine Werte, Normen und Tugenden.

Moralische Identität zeigt sich darin, dass wir uns über unseren Charakter definieren, wir zu identitätsschützenden Denkfehlern neigen (mit denen wir eine kognitive Dissonanz auflösen, wenn Fakten oder Argumente unseren Werten widersprechen) und darin, dass Gruppenzugehörigkeit im Kern moralisch ist, nicht nur im Fall der Identitätspolitik, sondern auch im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz.

Gesellschaftlichen Fortschritt und konstruktive Diskussionen kann es allerdings nur geben, wenn wir unsere moralische Identität nicht als vollkommen starr, sondern zu einem gewissen Grad als elastisch ansehen.
" (Beschreibung des Videos bei YouTube)

Huebl, der nach meinem Empfinden in seiner Arbeit sehr stark empirisch orientiert ist, bezieht sich zwar auch auf die Forschungen, die im Startbeitrag erwähnt werden, aber fügt dem noch drei weitere empirische Befunde hinzu.

Stellt sich die Frage: sind wir gewissermaßen Opfer unserer moralischen Vorstellungen? Huebl verneint das und gesteht uns eine gewisse Autonomie zu, als Beleg gibt er "die große moralische Revolution der letzten 100 Jahre" an. Moralischer Fortschritt ist, wie sich Huebl ausdrückt, nur möglich durch eine gewisse "Elastizität" der moralischen Identität.



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Quk
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Sa 1. Mär 2025, 09:39

Das Video kenne ich. -- Was die Elastizität betrifft, dazu hatte ich letztes Jahr -- zufällig -- in diesem Faden eine These vorgestellt bezüglich der Härte des Verlasses und der Weichheit der Kreativität. Weich im Sinne von elastisch.
Quk hat geschrieben :
So 16. Jun 2024, 08:22
[...] Lernen ist eine zentraler Vorgang im Leben. Jedes Lebewesen sammelt rationale und empirische Neuheiten. Diese werden verallgemeinert, um bei Entscheidungen vorausahnen zu können. Dabei passieren Fehler, so dass die Wesen ihre Verallgemeinerungen stetig verfeinern müssen. Die Verallgemeinerungen können also wechselhaft sein. Das Lebewesen ändert entsprechend sein Verhalten.

Verhaltensänderungen führen allerdings dazu, dass auf die Wesen kein Verlass mehr ist.

Folgefrage: Schadet Lernen der Verlässlichkeit?

Kernfrage: Ist Lernen unmoralisch?

Eine Gruppe, die Altes konservieren und Neues begrenzen möchte, will sicherlich auch das Lernen einschränken. "Du sollst nicht allzu viel Neues lernen", ist dort ein angewandter Moralsatz.

Die Gegengruppe müsste konsequenterweise folgenden moralischen Satz anerkennen: "Du sollst nicht allzu verlässlich sein." Denn sonst müsstest du den Gegenwartszustand konservieren.

Zwischenbilanz: Wenn sich zwei mutmaßliche Logiken widersprechen, handelt es ich vielleicht nicht um Logiken, sondern um eine variable Polarisierung, zwischen deren Pole ein Pendel hin- und herschwingt: Das Pendel des Mottos "Versuch und Irrtum". Damit wäre eines der letzten vermeintlich universellen Moralwerte -- der Verlass -- nichts universelles mehr. Noch wichtiger ist die Änderung. Evolution ist Änderung. Kreativität führt zu Änderungen. Die Änderung betrifft wohl auch die Moral, die doch eigentlich in Fels gemeißelt sein will ...




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Es fällt mir schwer, den Ansatz von Huebl in deinem Text wiederzuerkennen. Worin besteht deiner Ansicht nach die Ähnlichkeit?



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Quk
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Sa 1. Mär 2025, 10:11

In dem Gedanken, dass Fortschritt nur möglich ist durch Elastizität (Weichheit, eingeschränkter Verlass) und nicht durch Härte (totaler Verlass).




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So wie ich Huebl verstehe, zweifelt er ja nicht an, dass es in den letzten 100 Jahren große moralische Fortschritte gab. Sein Beispiel dafür ist die Ehe für Homosexuelle.



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Quk
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Ich möchte Huebl doch nicht widersprechen. Ich unterstütze seine Sätze.




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Quk hat geschrieben :
So 16. Jun 2024, 08:22
Zwischenbilanz: Wenn sich zwei mutmaßliche Logiken widersprechen, handelt es ich vielleicht nicht um Logiken, sondern um eine variable Polarisierung, zwischen deren Pole ein Pendel hin- und herschwingt: Das Pendel des Mottos "Versuch und Irrtum". Damit wäre eines der letzten vermeintlich universellen Moralwerte -- der Verlass -- nichts universelles mehr. Noch wichtiger ist die Änderung. Evolution ist Änderung. Kreativität führt zu Änderungen. Die Änderung betrifft wohl auch die Moral, die doch eigentlich in Fels gemeißelt sein will ...
Dann verstehe ich diesen Teil nicht. Der steht meines Erachtens im direkten Widerspruch zu Hübls Sicht. Hübl schreibt ja nicht, dass Änderung wichtiger ist als universelle Moral, sondern dass sie die Voraussetzung für den moralischen Fortschritt ist.

Bei ihm findet sich übrigens auch das Beispiel mit dem Quälen von Kindern, bei mir war es die Folter, aber das nur am Rande, weil ich es gerade beim Nachlesen gefunden habe: "Um ein drastisches Beispiel zu wählen: Kinder zum Spaß zu quälen ist ein absolutes moralisches Verbot. Jedenfalls unterstellen wir das, wenn wir sagen, dass es keine Verhandlungssache ist. Demnach würde jemand, der das anders sieht, sich genauso irren wie jemand, der meint, Wasser hätte die chemische Formel CO2 oder Pi wäre eine rationale Zahl." Es ist aber - glaube ich - keine Erfindung von ihm, ich habe es in der Literatur öfter gefunden.



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