PS. zu Elke Heidenreich, Rassismus usw.

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Burkart
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Mi 20. Okt 2021, 19:02

Jovis, ich hatte mich so auf eine Antwort von dir gefreut, aber nix, zumindest bisher... :(
Burkart hat geschrieben :
Mo 18. Okt 2021, 23:58
Jovis hat geschrieben :
Mo 18. Okt 2021, 10:25
Burkart hat geschrieben :
So 17. Okt 2021, 19:40
Warum wird nur einem sehr großen Menschen die Frage nach seiner Größe gestellt? Natürlich, weil es etwas Ungewöhnliches ist - entsprechend ist es hier.
Und wie findest du die Frage dann (vorausgesetzt, du bist auch einer von den sehr Großen)?
MIt 206 cm dürfte ich dazugehören ;) Und wieviel hast du? Wenn die Frage denn erlaubt ist? :D
Ich antworte mal für mich, die ich auch ziemlich groß bin: Mal so, mal so. Es kommt immer darauf an, wer wann wie fragt. Mal ist es in Ordnung, mal nervt es.
Einverstanden, das sehe ich grundsätzlich auch so. Allerdings ist man im Laufe der Zeit hoffentlich so pragmatisch geworden, dass es nicht mehr wirklich nervt, weil man es schon Tausende von Malen hinter sich und deshalb daran gewöhnt hat. (Ich hatte mal die Top Ten der Bemerkungen zur Größe aufgestellt: In Deutschland war es Frage nach der Größe, im Ausland z.T. eher, ob ich Basketball spiele. Beliebt natürlich, ob das Bett groß genug ist oder ob es Probleme mit Kleidung gibt, ob man durch die Tür kommt u.ä. Top-Platz bei meiner Partnerin ist die Bemerkung "Entschuldigen Sie, ich dachte sie seien ein Ständer", als ich mal im Kleidergeschäft leicht angerempelt worden bin.)
Wenn aber über viele Jahre IMMER als ziemlich erstes gesagt wird: "Oh, Sie sind aber groß - sagen Sie mal, wie groß sind Sie denn?", dann nervt es nur noch und ich empfinde es als impertinent.
Na ja, IMMER ist ja nun unwahrscheinlich.
Dann komme ich in eine neue Runde und sehe schon an den überraschten Blicken, was unweigerlich gleich kommt: "Oh, Sie sind aber groß!" Ja klar, das fällt auf, das mag ja ganz normal sein. Nicht normal finde ich es aber, wenn wildfremde Leute mich als erstes nach meiner Körpergröße fragen.
Och, im Urlaub kommt sowas immer mal wieder vor, das ist dann halt so, man kennt es doch. Ich mache mir daraus öfters gerne den Spaß zurückzufragen, was die Leute dann schätzen.
Diese Zeiten sind zum Glück längst vorbei, heute passiert mir das kaum noch.
Geht mir ähnlich, manchmal vermisse ich es deshalb sogar schon ;)
Aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Und deshalb kann ich es so gut nachempfinden, wie sich das anfühlen muss, wenn immer und immer wieder erst einmal die Hautfarbe thematisiert wird. Zumal man als farbiger Mensch ja nie sicher sein kann, wie diese Fragen gemeint sind. Bei der Körpergröße ist es ja meist recht neutral, obwohl auch da immer mitschwingt, dass ich mich außerhalb der Norm befinde. Aber farbige Leute müssen ja immer damit rechnen, dass sie es tatsächlich mit einem Rassisten zu tun haben. Ich stelle mir vor, dass das alles unterschwellig zu einer beständigen Angespanntheit führt.
Mag sein, dass Größe und Hautfarbe insofern ein gewisser Unterschied sind. Aber ich sag mal, dass Rassismus früher (z.B. in meiner Jugend vor sagen wir 40 Jahren) in Deutschland praktisch kein Thema war (da war das Necken wegen der Größe viel häufiger a la "Bohnenstange", "Giraffe" oder auch mal "Bibo"). Insofern kann man sich fragen, warum das inzwischen zu einem geworden ist (außer - oder weil? - es einfach viel mehr Betroffene gibt), wobei man schon zwischen wirklich bösartigem, "klassischem" Rassismus unterscheiden sollte und dem "naiven", der eigentlich nicht böse gemeint ist, sondern primär von Betroffenen so aufgefasst wird, sagen wir ähnlich, als wenn wir beiden ständig nach der Größe gefragt werden und davon zu sehr genervt sind.



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Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Jovis
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Mi 20. Okt 2021, 20:14

Burkart hat geschrieben :
Mi 20. Okt 2021, 19:02
Jovis, ich hatte mich so auf eine Antwort von dir gefreut, aber nix, zumindest bisher... :(
Ach, das ist ja mal lieb. 8-) Aber keine Zeit, keine Zeit ... und jetzt müde und hungrig ... Aber kommt noch, versprochen. (Aber nicht mehr heute.)




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Jörn Budesheim
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Christian Geulen GESCHICHTE DES RASSISMUS hat geschrieben : Rückblickend mag der Reiz, den der Rassenbegriff auf die Aufklärer ausübte, erstaunen – in ihrer Sicht aber repräsentierte er einen wichtigen Schritt in der Rationalisierung der menschlichen Natur. Zum Verständnis der rasanten Entfaltung rassistischer Denkweisen und Praktiken in der Moderne ist gerade dieser Zusammenhang von Bedeutung. Weniger weil ‹schon› in der Aufklärung die viel zitierte ‹dunkle› Seite der Moderne deutlich wurde, sondern weil sich hier die ‹helle› Seite des Rassenkonzepts herausbildete: sein Versprechen einer rational-wissenschaftlichen Ordnung von Zugehörigkeit in einer zunehmend unübersichtlichen Welt und inmitten einer Epoche, die aus Sicht der Zeitgenossen wie keine andere hergebrachte Zugehörigkeiten zur Disposition stellte. In diesem Zusammenhang ist die Feststellung wichtig, dass der Rassenbegriff in den Wissenshorizont der Aufklärung zunächst nicht als ein biologischer Begriff, sondern als ein historisches Konzept einging. Besonders popularisiert wurde es anfänglich zudem von einem Autor, der den Adel und seine Privilegien gegen ihre beginnende Kritik gerade zu verteidigen suchte. Henri de Boulainvilliers’ Geschichte des französischen Adels, 1727 veröffentlicht, stellte Adel und Volk als zwei getrennte Rassen dar, die sich im Grunde nie vermischt und deren ewiger Kampf die Geschicke Frankreichs immer schon bestimmt hätten. Obschon als eine Stärkung der Aristokratie gemeint, ließ sich dieses Modell, ohne an Überzeugungskraft zu verlieren, rasch mit umgekehrten Vorzeichen belegen und als eine rassengeschichtliche Orientierung bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen verwenden. Überhaupt hat Boulainvilliers mit der Idee eines ewigen Kampfs zwischen strikt getrennten Großgruppen als der eigentlichen Ursache aktueller Konflikte eine Sichtweise geprägt, die in den modernen Weltdeutungen immer wieder aufgegriffen wurde: Sie beeinflusste das politisch-historische Denken von Montesquieu und Augustine Thierry ebenso wie später das Klassenkampfkonzept von Karl Marx oder heute noch die Idee vom Kampf der Kulturen.

Boulainvilliers’ Rassengeschichte des französischen Adels war einerseits eines der ersten Beispiele für ein modernes Geschichtsverständnis, das gegenwärtige Verhältnisse aus einem übergreifenden Gesamtprozess herleitet. Andererseits blieb seine Absicht, der spätabsolutistischen Aristokratie die Vergangenheit als Vorbild zu präsentieren, noch ganz einem älteren Begriff der Geschichte als lehrhafter Beispielsammlung verpflichtet. Nicht zuletzt aus solchen Vermischungen vormodernen Regeldenkens mit neuartigen Auffassungen der Machbarkeit von Geschichte entwickelte sich jenes Bild der Welt als einer quasimaschinell funktionierenden Ordnung, das in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts lange vorherrschte. Verstand und Vernunft, welche die Aufklärer den hergebrachten religiös-kirchlichen Lehren entgegenstellten, wurden zugleich auf die Natur und auf die Geschichte übertragen. Man unterstellte ihnen eine vernünftige und geradezu menschlich-verständige Einrichtung. Dieses anthropomorphe Weltverständnis drückte sich nicht zuletzt in dem übergreifenden Namen aus, den die Aufklärer bevorzugt für ihr eigenes Weltbild gebrauchten: Naturgeschichte.

Naturgeschichte lässt sich zunächst wörtlich als Bezeichnung eines wissenschaftlichen Denkens verstehen, dem die Differenzierung in Disziplinen, in Biologie und Geschichte, Natur- und Geisteswissenschaft noch bevorstand. Darüber hinaus war die Naturgeschichte eng an das Naturrecht gekoppelt, die Summe all jener, das göttliche Recht ablösender, aber ebenso unveräußerlicher, natürlicher Rechte, die im Zentrum der politischen Theorien und Forderungen der Aufklärung standen. Naturgeschichte wurde als die das Naturrecht begründende und herleitende Wissenschaft verstanden und war umgekehrt in ihrer Annahme von Gesetzen und Regelmechanismen der wissenschaftliche Spiegel des zeitgenössischen Rechtsdenkens. Sie entwarf ein ‹Tableau› der Welt, auf dem alles in der Form eines bereits gesicherten oder aber möglichen Wissens immer schon seinen Ort hatte. So verwandelten sich auf den Weltkarten die unbekannten Gegenden voller Fabelwesen nun in nüchterne «weiße Flecken», und aus den dort lebenden Kannibalen wurden jetzt ‹Naturvölker›. In ihnen sahen die Aufklärer so etwas wie zurückgebliebene Artgenossen, Menschen einer unteren Entwicklungsstufe und zugleich Archetypen der eigenen Vergangenheit. Darin drückte sich die in der Tat universale Integrationsleistung der Aufklärung aus: Die außereuropäischen Fremden und Anderen wurden als Vorstufen der eigenen Vervollkommnung ‹integriert›, noch bevor sie überhaupt als Fremde und Andere auftraten. Die Menschheit als naturgeschichtliche Gattung ging dem Menschen als ein konkretes Gegenüber voraus.

Christian Geulen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau.




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Jörn Budesheim
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Do 21. Okt 2021, 06:45

Christian Geulen GESCHICHTE DES RASSISMUS hat geschrieben : ‹Rasse› zwischen Geschichte und Biologie Was den Rassenbegriff für Philosophen wie Voltaire oder Kant ebenso faszinierend machte wie für diejenigen, die an der Naturgeschichte im engeren Sinne interessiert waren, wie etwa Johann Friedrich Blumenbach oder Christoph Meiners, das war sein Versprechen, eine natürliche, und das hieß vor allem: von den Lehren der Kirche unabhängige Ordnung der Welt und der in ihr lebenden Menschen zu erschließen und beschreibbar zu machen. Anfänglich war das vor allem für die Systematiker unter den Naturphilosophen relevant, die mit viel Aufwand immer ausgefeiltere Modelle und Nomenklaturen der Menschheit und ihrer verschiedenen Untergruppen entwarfen. Darunter hat man sich nicht nur simple Aufteilungen in weiße, schwarze, gelbe und rote Rassen oder willkürliche Hierarchien der Höher- und Minderwertigkeit vorzustellen. Vielmehr bot sich der Rassenbegriff aufgrund seiner multiplen Bedeutung an, klimatisch-geografische, historisch-politische und natürlich-körperliche Aspekte miteinander zu verbinden und aus ihrer Verschränkung die Eigenschaften der Rassen auch rational zu erklären. Dabei waren diese Systematiken zugleich Medien der rassentheoretischen Selbstzelebrierung. In unzähligen geografischen Berechnungen, körperlichen Vermessungen und historischen Darstellungen wurden die weißen Europäer als die ästhetisch wie moralisch allen anderen überlegene Rasse präsentiert. Wesentlicher Bezugspunkt dieses normativen Gefälles in den meisten aufgeklärten Rassentheorien aber war der Stolz auf die eigene Erkenntnisleistung und erst in zweiter Linie der Anspruch auf Beherrschung der weniger entwickelten Rassen. An der Existenz einer Naturordnung, innerhalb derer die europäischen Rassen an der Spitze standen, zweifelte niemand. An der Frage des sich daraus ergebenden Umgangs mit den außereuropäischen Völkern aber, etwa mit Blick auf die Sklaverei, schieden sich die Geister. Doch wichtiger als die Auseinandersetzung darüber war den meisten Wissenschaftlern die möglichst umfassende Sammlung, Sichtung und Systematisierung rassengeschichtlicher Befunde und Belege, insofern das Hauptziel der Wissenschaft in dieser Epoche – als Reflex des Universalismus – ein enzyklopädisch vollständiges Weltwissen war.

[Vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in der Tat kaum jemanden, der an der Existenz verschiedener Menschenrassen gezweifelt hätte. Heute dagegen streiten sich Naturwissenschaftler kaum noch darüber, ob die Unterscheidung zwischen Rassen beim Menschen sinnvoll ist. Die allermeisten vermeiden diesen Begriff und genetisch haben sich Menschenrassen auch nicht nachweisen lassen...]
Alice Hasters, was weiße Menschen über Rassismus nicht hören wollen... hat geschrieben : Das kommt natürlich nicht von ungefähr. Bei der Erfindung der Menschenrassen spielte Schönheit von Anfang an eine Rolle. Gerade deutsche Forschende taten sich mit Theorien hervor, die die Hierarchie der »Rassen« mit Schönheit begründeten. Da war zum Beispiel Christoph Meiners, der im 18. Jahrhundert an der Universität in Göttingen unterrichtete. Unter anderem den »Grundriss der Geschichte der Menschheit«. Darin unterteilte Meiners Rassen in »schön« und »häßlich«. Sein Prinzip war: Je weißer, desto schöner. So schrieb er: »Diese Merkmale sind zwar nicht die einzigen, wodurch die weißen und schönen und die dunkelfarbigen und häßlichen Nationen sich von einander auszeichnen. Allein eben diese vereinigten Charaktere sind schon untrüglich, und hinreichend, die beiden Völkerstämme stets zu unterscheiden.« Er verknüpfte also nicht nur (weiße) Hautfarbe mit Schönheit, sondern vertrat die Meinung, dass schöne und hässliche Menschen auch unterschiedliche Charakterzüge hatten. Ähnlichen Mist hat auch Meiners’ Kollege Johann Friedrich Blumenbach aufgeschrieben, der um die gleiche Zeit ebenfalls in Göttingen lehrte. Das ist der Typ, der Menschen die Farben zuordnete, die heute noch im Sprachgebrauch geläufig sind: Weiß, Gelb, Rot, Braun, Schwarz. Blumenbach hatte einen Schädel-Fetisch. Er war völlig hin und weg von der Schönheit der Georgier*innen. Genauer gesagt, von der Schönheit des Schädels einer Georgierin, den er besaß. Blumenbach sammelte seinerzeit mehr als 200 Schädel von Menschen aus der ganzen Welt. Damit war er allerdings nicht allein. Die Phrenologie und Kraniometrie, Pseudowissenschaften made in Germany, widmeten sich der Untersuchung von Schädelformen mit der Absicht, sie mit bestimmten Charakterzügen verknüpfen zu können. Der georgische Schädel (der von einer Frau kam, die vermutlich als Sexgefangene in Moskau gehalten wurde) war Blumenbachs Lieblingsschädel, weil er seiner Ansicht nach der schönste war. Für Blumenbach war das Grund genug zu behaupten, dass die Menschheit in Georgien entsprungen sein musste. Die kruden Theorien aus der Phrenologie beeinflussen unser Denken bis heute. Anschaulich wird das am »Puppenexperiment«. Ein Kind hat dabei zwei Puppen zur Auswahl, die genau gleich aussehen, abgesehen von der Hautfarbe. Eine Puppe ist weiß, die andere Schwarz. Den Kindern werden eine Reihe Fragen gestellt: Welche Puppe ist die schöne? Welche Puppe ist die böse? Welche Puppe ist die hässliche? Die nette? Die gemeine? Das Resultat: Überwiegend ordneten die Kinder der weißen Puppe die positiven und der Schwarzen die negativen Attribute zu, unabhängig von der eigenen Hautfarbe. Auch Schwarze Kinder fanden die dunkelhäutige Puppe hässlich, gemein und böse — dabei wussten sie genau, dass sie selbst die gleiche Hautfarbe hatten. Dieses Experiment wurde von zwei afroamerikanischen Psycholog*innen in den 1940er-Jahren entwickelt. Vor allem in den USA wurde es mehrere Male wiederholt. 2010 zeigte CNN eine Abwandlung des Experiments mit ähnlichen Ergebnissen. Formen von Diskriminierung werden also nicht nur von denjenigen verinnerlicht und unbewusst als Wahrheit angenommen, die von ihnen profitieren, sondern auch von denjenigen, die darunter leiden. Im Englischen gibt es einen Begriff dafür: Internalized Oppression — verinnerlichte Unterdrückung.




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Jörn Budesheim
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Christian Geulen hat geschrieben : Im 18. Jahrhundert aber hatte der Rassenbegriff außerhalb der Geschichtsschreibung einen primär wissenschaftlichen und nur sekundär einen politisch-ideologischen Gehalt. Doch findet man in dieser Zeit bezeichnenderweise kaum ernsthafte Versuche seiner genauen Bestimmung. Er war eine Leerformel, die beliebig mit körperlichen oder auch kulturellen, mit geografischen oder geschichtlichen Aspekten gefüllt werden konnte, die man alle als «Rassenmerkmale» betrachtete und zu einem Panorama der verschiedenen menschlichen Rassen zusammensetzte. Einer der Ersten, dem diese Begriffsverwirrung auffiel, war Immanuel Kant. In einem frühen Text zur Rassenfrage hatte er noch den französischen Klimatheoretikern beigepflichtet, welche die verschiedenen Rassenmerkmale auf Umwelteinflüsse zurückführten. Das implizierte einerseits die universalistische Vorstellung einer Urrasse, aus der sich alle gegenwärtigen Rassenunterschiede durch Wanderung in andere Klimazonen entwickelt hätten, andererseits die Annahme einer harmonischen Entsprechung von Körperbau und Umwelt. In einem späteren, nachkritischen (also nach seiner «Kritik der reinen Vernunft» verfassten) Text verwarf Kant die Klimatheorie wieder und postulierte, dass als Rassenmerkmale im strengen Sinne nur diejenigen gelten können, die sich umweltunabhängig vererben. Damit trug er der schlichten Tatsache Rechnung, dass sich bestimmte körperliche Eigenschaften auch beim dauerhaften Wechsel in eine andere klimatische Umwelt in der Tat über Generationen weitervererben. Ausgerechnet dieser Text ist Kant später wegen seines angeblichen Plädoyers für die Ungleichheit der Menschen als rassistische Entgleisung ausgelegt worden. Dabei war es vor allem der Versuch, die engen Grenzen des Rassenbegriffs aufzuzeigen, ihn überhaupt einmal zu definieren und vor seiner irrationalen Ausweitung zu warnen.




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Sowohl "Christian Geulen GESCHICHTE DES RASSISMUS" als auch "Alice Hasters, was weiße Menschen über Rassismus nicht hören wollen ..." sind sehr lesenswert, wie ich finde, auch wenn sie vom Ansatz her kaum unterschiedlicher sein könnten. Zwar spart Alice Hasters nicht mit geschichtlichen Zusammenhängen, aber in der Hauptsache schreibt sie aus der Erfahrung einer Betroffenen. Die Geschichte und "Begriffs-Geschichte" erhellt insbesondere die vielfältigen "Funktionen" des "Rassebegriffs", der sich übrigens im dauernden Wandel befand.

Hier ein sehr langes und ausführliches Interview mit Geulen > https://www.deutschlandfunkkultur.de/vo ... _id=452004




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Do 21. Okt 2021, 14:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 21. Okt 2021, 06:45
Christian Geulen GESCHICHTE DES RASSISMUS hat geschrieben : [...] Die allermeisten vermeiden diesen Begriff und genetisch haben sich Menschenrassen auch nicht nachweisen lassen ... ]

... und ließe es sich "genetisch nachweisen"? Damit möchte ich sagen, daß man die Naturwissenschaften (wie Biologie oder Zoologie) am besten außer acht läßt, wenn es darum geht, die Menschen zu beschreiben und wichtiger noch, Richtlinien für ihr Handeln und Verhalten zu finden. Das ist zwar nur ein Nachsatz (Geulen), aber mir ist er trotzdem schon zu viel. Der Nachsatz heißt doch nicht anderes, als daß man die Entdeckungen der Genetik (hier z.B. bei der Frage nach "Rasse") berücksichtigen sollte.




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Jörn Budesheim
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Do 21. Okt 2021, 15:23

Meines Erachtens heißt es ungefähr folgendes: Falls jemand geltend macht, dass das Konzept "Rasse" eine biologische Wurzel hat, dann kann man ihm oder ihr entgegenhalten, dass das naturwissenschaftlich nicht gedeckt ist.




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Do 21. Okt 2021, 16:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 21. Okt 2021, 15:23
Meines Erachtens heißt es ungefähr folgendes: Falls jemand geltend macht, dass das Konzept "Rasse" eine biologische Wurzel hat, dann kann man ihm oder ihr entgegenhalten, dass das naturwissenschaftlich nicht gedeckt ist.
Ja, hm, ich denke in dieser Hinsicht ziemlich rigoros; d.h. mit dieser Entgegnung würde man sich bereits darauf einlassen, daß die Biologie bei einem derartigen Begriff eine "Rolle spielt", man begäbe sich mit dieser Entgegnung in einen Argumentationsbereich, in dem die Biologie "etwas" zu sagen hat.




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Do 21. Okt 2021, 16:32

Ich möchte es noch einmal anders sagen: Aus biologischen Merkmalen (wie Gene, Morphologie, Gehirn, Hormonen u.ä.) irgendwelche Aussagen über das So-Sein von Menschen, Unterschieden oder Änhnlichkeiten zwischen Menschen abzuleiten und zur Begründung von sozialen Gegebenheiten oder Zielen heranzuziehen, lehne ich ab.

(Seit der Beschäftigung im Rahmen der Frauenbewegung, in dem die -vermeintlich- naturwissenschaftlichen Erkenntnisse (über Frauen und Männer und die "Primaten") aufgearbeitet wurden, bin ich ein für allemal bedient. Es ist also ein sehr persönlicher Anteil in meiner Ablehnung).




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Friederike hat geschrieben :
Do 21. Okt 2021, 16:16
... man begäbe sich mit dieser Entgegnung in einen Argumentationsbereich, in dem die Biologie "etwas" zu sagen hat.
Das ist nicht zwingend. Man kann ein Argument schließlich auf verschiedene Arten infrage stellen. Zum Beispiel in dem man die Wahrheit der Prämisse bezweifelt. Oder indem man die Schlussart infrage stellt. Man kann jeweils das eine tun, ohne das andere zu lassen.




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Do 21. Okt 2021, 17:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 21. Okt 2021, 16:59
Das ist nicht zwingend. Man kann ein Argument schließlich auf verschiedene Arten infrage stellen. Zum Beispiel in dem man die Wahrheit der Prämisse bezweifelt. Oder indem man die Schlussart infrage stellt. Man kann jeweils das eine tun, ohne das andere zu lassen.
? Das verstehe ich nicht, zumindest nicht in der Verbindung mit dieser Äußerung:
Jörn hat geschrieben : Meines Erachtens heißt es ungefähr folgendes: Falls jemand geltend macht, dass das Konzept "Rasse" eine biologische Wurzel hat, dann kann man ihm oder ihr entgegenhalten, dass das naturwissenschaftlich nicht gedeckt ist.
In letzterer stellst Du doch die Naturwissenschaft selbst als Argument nicht infrage?
Das erste Zitat hingegen verstehe ich so, daß man die Heranziehung der Naturwissenschaft zur Begründung von XY bezweifeln könnte, das wäre die Prämisse?

Wir kommen zwar etwas vom Thema ab, aber ich würde Deine Aussagen -beide zusammengenommen- gerne verstehen.




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Jörn Budesheim
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Do 21. Okt 2021, 17:59

Bei einem Argument kann man die Wahrheit der Prämissen infragestellen oder die Gültigkeit des Argumentes, sprich: die Form.

Ein Beispiel: der Rassist sagt, blauäugige Kinder dürfen keine Schulbildung erhalten, weil blaue Augen Anzeichen einer minderwertigen Rassenzugehörigkeit sind.

Bei dem Argument kann man sowohl die Prämisse zurückweisen, weil es wissenschaftlich betrachtet keine Rassen gibt und man kann die logische Form zurückweisen, weil es sich ggf. um einen Sein-Sollen-Fehlschluss handelt.




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Jovis
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Do 21. Okt 2021, 18:04

Nicht dass ich noch viel zu sagen hätte, aber versprochen ist versprochen. :-)
Burkart hat geschrieben :
Mo 18. Okt 2021, 23:58
MIt 206 cm dürfte ich dazugehören ;) Und wieviel hast du? Wenn die Frage denn erlaubt ist? :D
Na ja, ausnahmsweise. :-) Aber mit meinen 1,80 m befinde ich mich im Vergleich zu dir ja noch eher im Mittelmaß. In meiner Jugend war ich in meinem Umkreis aber tatsächlich eine Ausnahme, und wenn dann so ein unsicherer Teenager auch noch jedes zweite Mal zu hören bekommt: "... na, da wirst du es aber schwer haben einen Mann zu finden ...", dann ist das schon reichlich anstrengend.
Jovis hat geschrieben :
Mo 18. Okt 2021, 10:25
Burkart hat geschrieben :
So 17. Okt 2021, 19:40
Diese Zeiten sind zum Glück längst vorbei, heute passiert mir das kaum noch.
Geht mir ähnlich, manchmal vermisse ich es deshalb sogar schon ;)
Ist ja interessant, dass du diese Erfahrung auch gemacht hast (aber nein, ich vermisse das ganz und gar nicht).
Woran mag das liegen? Da kommt wohl einiges zusammen: Ich bin inzwischen sehr viel älter, werde nicht mehr einfach so angequatscht; der Typ Mann „jovial-unverschämt“ scheint seltener zu werden; die Durchschnittsgröße der Bevölkerung ist gestiegen, eine Frau mit 1,80 m fällt nicht mehr so auf …
Mag sein, dass Größe und Hautfarbe insofern ein gewisser Unterschied sind. Aber ich sag mal, dass Rassismus früher (z.B. in meiner Jugend vor sagen wir 40 Jahren) in Deutschland praktisch kein Thema war […]
Das werden die Betroffenen wohl anders in Erinnerung haben. In meinem Umfeld gab es früher keine farbigen Leute – nicht einen einzigen. Kein Wunder, dass ich von Rassismus nichts mitgekriegt habe. Aber im Zuge der jetzigen Debatte werden ja auch die 50er und 60er Jahre thematisiert, und was da manchmal zu Tage kommt, kann einem die Haare zu Berge stehen lassen. (Als ein Beispiel von vielen dieser taz-Artikel: https://taz.de/Rassismus-der-Nachkriegszeit/!5222496/ )
[…] Insofern kann man sich fragen, warum das inzwischen zu einem geworden ist (außer - oder weil? - es einfach viel mehr Betroffene gibt)
Das ist gewiss einer der Gründe. Vielleicht gibt das sogar Anlass zur Hoffnung? Vielleicht müssen wir durch diese offene Debatte hindurch, um danach einen neuen Zustand der Normalität im Miteinander zu erreichen? Ganz wie im privaten Bereich: Über ein Problem zu sprechen ist allemal besser als es unter den Teppich zu kehren.
wobei man schon zwischen wirklich bösartigem, "klassischem" Rassismus unterscheiden sollte und dem "naiven", der eigentlich nicht böse gemeint ist, sondern primär von Betroffenen so aufgefasst wird, sagen wir ähnlich, als wenn wir beiden ständig nach der Größe gefragt werden und davon zu sehr genervt sind.
Ja, da besteht gewiss ein Unterschied. Aber ich empfinde auch den „naiven Rassismus“ nicht als so harmlos, und schon gar nicht denke ich, dass hier „primär“ eine Überempfindlichkeit der Betroffenen vorliegt. Damit würde man es sich zu einfach machen. (#metoo lässt grüßen.)
Aber jetzt fehlt mir die Zeit, um diesen letzten Punkt weiter auszuführen, ich muss wieder los.




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Do 21. Okt 2021, 18:59

Ah ja, Danke @Jörn, ich habe es verstanden!




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Taz hat geschrieben : Letztendlich zeige der Umgang mit diesen Kindern, dass Rassismus keineswegs mit 1945 endete, sondern in der Nachkriegszeit deutlich präsent war.
Taz hat geschrieben : Im gleichen Jahr erschien der Film „Toxi“ des Regisseurs R.A. Stemmle über das Mädchen Toxi.
Jovis hat geschrieben :
Do 21. Okt 2021, 18:04
In meinem Umfeld gab es früher keine farbigen Leute ...
Das war bei mir nicht anders. Aber viele der Dinge, die den Rassismus weitertragen, vorbereiten, zementieren etc waren sicherlich dennoch da: Texte, Bilder, Geschichten, Filme, Sarotti-Schokolade, Mohren Apotheken, etc. pp. Wenn man also Georg (aus dem taz-Artikel) begegnete, dann geschah das vor diesem rassistischen Hintergrund. (Die internalisierten Rassenlehren aus der Nazizeit, die ja nicht über Nacht verschwunden waren, waren natürlich noch prägend.)

Aus diesen Gründen halte ich es für wichtig, solche Situationen nicht so zu behandeln als ginge es ihnen wesentlich um die Begegnung zwischen zwei oder mehr Menschen auf Augenhöhe. Die rassistische Großwetterlage ist immer in irgendeiner Weise ein Teil davon. Solange sie bloß implizit und nicht reflektiert ist, kommen wir bei dem Thema auch nicht weiter... Denn nur die Dinge, über die man sich selbst Rechenschaft ablegen kann, kann man bei sich auch ändern, oder?

Daher ist es so wichtig, all das, was den Rassismus weiter transportiert und lebendig hält, auf den Tisch zu legen und namhaft zu machen. Und dazu gehören eben auch (aber natürlich nicht nur) vorgebliche Kleinigkeiten wie die Frage nach der Herkunft.




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Jovis hat geschrieben :
Do 21. Okt 2021, 18:04
(#metoo lässt grüßen.)
Im Zusammenhang "Rassismus und Aufklärung" wird in dem Interview vom Deutschlandfunk dazu ein interessantes Kunstwerk erwähnt:
Deutschlandfunk Kultur hat geschrieben : [...] eine Installation mit drei Spiegeln, die mir gut gefallen hat. Auf jedem der Spiegel erscheint dann ein Schriftzug. Auf dem ersten Spiegel steht: „Wenn eine schwarze Frau morgens aufwacht und in den Spiegel schaut, sieht sie eine schwarze Frau.“ Auf dem zweiten Spiegel steht: „Wenn eine weiße Frau morgens aufwacht und in den Spiegel schaut, sieht sieh eine Frau.“ Und auf dem dritten Spiegel steht: „Wenn ein weißer Mann morgens aufwacht und in den Spiegel schaut, sieht er einen Menschen.“

Da sind wir bei dem, was Sie vorhin sagten, das dominante kulturelle Modell seit dem 19. Jahrhundert ist weiß, männlich, heterosexuell (davon war jetzt nicht die Rede). ...




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Fr 22. Okt 2021, 07:36

Die anderen Stellen hier im Forum diskutieren wir die Begriffe "Macht" und "Lebenswelt". Vielleicht wäre es mal spannend, die Begriffe hier zu platzieren und sie mit einem ganz bestimmten Inhalt zu füllen?!

Von Habermas (wenn ich mich richtig erinnere) kommt der Ausdruck, dass die Lebenswelt eine Art vorkonsensualisierter Raum ist. Es herrscht dann in den dominanten Gruppen gewissermaßen schon mal Einigkeit darüber, dass "Mischlingsbabys" (siehe TAZ) in irgendeiner Form ein Problem darstellen. So etwas entsteht ja nicht durch Erfahrungen und Nachdenken, sondern weil bestimmte Narrative, wie man heute sagt, Macht von einem ergriffen haben.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 22. Okt 2021, 06:56
Texte, Bilder, Geschichten, Filme, Sarotti-Schokolade, Mohren Apotheken, etc. pp.
Ich erinnere mich an ein Interview, was ich vor ein paar Jahren gesehen habe - mit Mohammed Ali - der die Frage gestellt hat, wie es sein kann, dass ein weißer Mann, nämlich Tarzan nach Afrika kommt und dann plötzlich zum König des Urwaldes wird? Ich habe mich das als Kind natürlich nie gefragt ... In denselben Interview fragt er, wenn ich mich richtig entsinne, warum es im Himmel nur weiße Engel und keine schwarzen Engel gibt?

(Erinnert sich jemand von euch an die Fernsehserie Daktari?)




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