Mitsprache in der Politik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
sybok
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Sa 15. Okt 2022, 13:16

Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 14. Okt 2022, 21:04
Ich glaube da grundsätzlich nicht daran. Früher dachte ich immer, es ist anthropologische Skepsis, aber das ist nur bedingt der Fall, wie ich heute glaube. Je vielfältiger die Möglichkeiten sind, sich zu unterscheiden, vor allem eben durch materiellen Erfolg, desto stärker werden auch Machtgelüste zutage treten. Und in hochkomplexen Gesellschaften werden immer komplexe Institutionen entstehen, deren Funktionalität kein Machtvakuum zulässt.
Seh ich schon auch so, aber wir denken womöglich halt auch in den etablierten, eigentlich veralteten und verkrusteten, Strukturen: Was unterscheidet uns von der römischen Republik von vor 2000 Jahren? Die Regierung sind die Konsuln, das Parlament der Senat, Parteien wie Republikaner und Demokraten sind Optimaten und Popularen, in vielen Demokratien muss man meines Wissens eine Art Cursus Honorum absolvieren, etc. Das Wahlmänner-System in den USA, so wurde mir gelehrt, stammt aus einer Zeit, in der man zu Pferde herumreiste. Usw.
Zum Beispiel, und das wäre bezüglich Threadthema, auch mein erstes ( ;) ) Anliegen...:

Zufallswahl aus der Bevölkerung für alle Posten in Regierung und Parlamenten.

EDIT:
Ich halte das nämlich, zu einem Teil zumindest, für neoliberale Propaganda, die uns weismachen will, dass es eigentlich keine Alternative zu Kapitalismus, Egoismus und Gefangenendilemma gibt. Das halte ich für Bullshit. Der Mensch mag eine egoistische, machtsüchtige Komponente haben. Aber ein System kann diese Eigenschaften, aber eben auch die Entgegengesetzten, incentivieren.




Timberlake
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Sa 15. Okt 2022, 21:08

sybok hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 13:16

EDIT:
Ich halte das nämlich, zu einem Teil zumindest, für neoliberale Propaganda, die uns weismachen will, dass es eigentlich keine Alternative zu Kapitalismus, Egoismus und Gefangenendilemma gibt. Das halte ich für Bullshit. Der Mensch mag eine egoistische, machtsüchtige Komponente haben. Aber ein System kann diese Eigenschaften, aber eben auch die Entgegengesetzten, incentivieren.
In dem ich einmal davon ausgehe , dass mit der neoliberale Propaganda mein "Beitrag" zum Kapitalismus gemeint ist und hier von einem System die Rede ist, sei mir an dieser Stelle mal wieder erlaubt , auf die Luhmannsche Systemtheorie aufmerksam zu machen ....
  • Autopoiesis
    Eine weitere wesentliche Voraussetzung für das Vorhandensein eines Systems ist die Fähigkeit, sich selbst (wieder-)herzustellen, also die Autopoiesis. Der Merksatz im Luhmannschen Sinne lautet: Wenn es sich nicht selbst macht, ist es kein System. Dabei bezog sich Luhmann auf das Konzept der chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela. Diese wendeten das Konzept der Autopoiesis auf organische Prozesse an und meinten damit, dass Systeme sich mit Hilfe ihrer eigenen Elemente selbst herstellen. Lebewesen sind die ursprünglichen Beispiele für autopoietische Systeme. Für den Beobachter ereignet sich Leben von selbst, ohne dass ein äußerer herstellender Prozess eingreift. Luhmann überträgt dieses Konzept nicht nur auf biologische Systeme, sondern auch auf psychische Systeme und insbesondere soziale Systeme. Auch diese reproduzieren sich selbst mit Hilfe ihrer systemeigenen Operationen.
Schon mal dran gedacht , dass sich der Kapitalismus , als System , so wie hier beschrieben selbst macht ?

Wenn es also hier in diesem Thread um die Mitsprache in der Politik geht, so dürfte demnach diese Mitsprache spätestens dann ein Ende finden , wenn sie meint, dem Kapitalismus etwas systemisch entgegen setzten zu können.




Henk
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Sa 19. Nov 2022, 12:45

sybok hat geschrieben :
Sa 15. Okt 2022, 13:16
Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 14. Okt 2022, 21:04
Ich glaube da grundsätzlich nicht daran. Früher dachte ich immer, es ist anthropologische Skepsis, aber das ist nur bedingt der Fall, wie ich heute glaube. Je vielfältiger die Möglichkeiten sind, sich zu unterscheiden, vor allem eben durch materiellen Erfolg, desto stärker werden auch Machtgelüste zutage treten. Und in hochkomplexen Gesellschaften werden immer komplexe Institutionen entstehen, deren Funktionalität kein Machtvakuum zulässt.
Seh ich schon auch so, aber wir denken womöglich halt auch in den etablierten, eigentlich veralteten und verkrusteten, Strukturen: Was unterscheidet uns von der römischen Republik von vor 2000 Jahren? Die Regierung sind die Konsuln, das Parlament der Senat, Parteien wie Republikaner und Demokraten sind Optimaten und Popularen, in vielen Demokratien muss man meines Wissens eine Art Cursus Honorum absolvieren, etc. Das Wahlmänner-System in den USA, so wurde mir gelehrt, stammt aus einer Zeit, in der man zu Pferde herumreiste. Usw.
Zum Beispiel, und das wäre bezüglich Threadthema, auch mein erstes ( ;) ) Anliegen...:

Zufallswahl aus der Bevölkerung für alle Posten in Regierung und Parlamenten.

EDIT:
Ich halte das nämlich, zu einem Teil zumindest, für neoliberale Propaganda, die uns weismachen will, dass es eigentlich keine Alternative zu Kapitalismus, Egoismus und Gefangenendilemma gibt. Das halte ich für Bullshit. Der Mensch mag eine egoistische, machtsüchtige Komponente haben. Aber ein System kann diese Eigenschaften, aber eben auch die Entgegengesetzten, incentivieren.

Und wer steuert, beherrscht, kontrolliert das Umerziehungs- "System" auf Grund welcher von wem festgelegter Kriterien?




sybok
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So 20. Nov 2022, 08:40

Henk hat geschrieben :
Sa 19. Nov 2022, 12:45
Und wer steuert, beherrscht, kontrolliert das Umerziehungs- "System" auf Grund welcher von wem festgelegter Kriterien?
Welches "Umerziehungs-System", das Anreizsystem? Die Politik, die Gesellschaft. Warum achten wir beispielsweise Banker und bezahlen sie entsprechend, wenn doch beispielsweise eine Kindergärtnerin oder Pflegerin wahrscheinlich im eigentlichen Sinn von "Leistung" mehr oder mindestens gleich viel leisten (und auch weitaus "systemrelevanter" sind)? Warum werden sie als intelligent betrachtet, als Leute die "ihr Fach verstehen", obwohl sie uns die Finanzkrise beschert haben? Usw.




Burkart
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So 20. Nov 2022, 09:51

sybok hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 08:40
Henk hat geschrieben :
Sa 19. Nov 2022, 12:45
Und wer steuert, beherrscht, kontrolliert das Umerziehungs- "System" auf Grund welcher von wem festgelegter Kriterien?
Welches "Umerziehungs-System", das Anreizsystem? Die Politik, die Gesellschaft. Warum achten wir beispielsweise Banker und bezahlen sie entsprechend, wenn doch beispielsweise eine Kindergärtnerin oder Pflegerin wahrscheinlich im eigentlichen Sinn von "Leistung" mehr oder mindestens gleich viel leisten (und auch weitaus "systemrelevanter" sind)? Warum werden sie als intelligent betrachtet, als Leute die "ihr Fach verstehen", obwohl sie uns die Finanzkrise beschert haben? Usw.
Ich fürchte, dass wir hier einen Unterschied zwischen realer Leistung, Intelligenz, Respekt u.ä. und dem kapitalistischen System machen müssen, dass letztlich für die Gehälter primär verantwortlich ist. Nur wenn wir letzteres abschaffen bzw. "besiegen", können wir menschlich gesehen faire Gehälter erwarten.

Meiner Ansicht nach verdient der Mensch viel Geld laut dem Kapitalismus, der letztlich von vielen Menschen profitieren kann. Bei Bänkern sind das die viele Kunden der Banken, also die relativ wenigen Bänker relativ zu den zig-Millionen Kunden in Deutschland (als Beispiel). Keine Ahnung, wie viele Bänker es gibt... sagen wir rechnerisch mal 800.000 bei sagen wir 80.000.000 deutschen Kunden. Dann käme ein Bänker auf 100 Kunden.
Ein zweiter Aspekt ist die Nähe zum Geld, der bei Bänkern extrem nah ist, sodass sich das Arbeitsmittel Geld leicht in Gehalt umwandeln lässt und kein großer "Arbeitsaufwand" dazu nötig ist, im Gegensatz z.B. zu Handwerkern, die erst einiges körperlich leisten müssen.

Die Kindergärtnerinnen und Pflegerinnen haben im Gegensatz zum Banker einerseits körperlich zu tun, andererseits mit weniger Kunden (eine Kindergärtnerin z.B. kann sich nicht im 100 Kinder kümmern). Auch ist der Abstand zu Geld größer, weil das ja erst über die Betreuungs- (oder Pflege-)Leistung erzeugt werden muss. Dabei mögen dann Heimträger möglicherweise besser verdienen, weil sie wieder quasi mehr Kunden unter sich haben; bei Altenheimen scheinen mir einige Betreiber wirklich gut abzusahnen....

Ach ja, Spitzen-Fußballer profitieren extrem von der Masse ihrer Endkunden, weil es Millionen von Zuschauern gibt, sei es direkt, aber auch indiekt über Werbung.

Also wie gesagt: Man kann nicht gleiche oder zumindest faire Gehälter erwarten, ohne das kapitalistische System abzuschaffen oder zumindest sehr zu reformieren (und das im Zweifelsfalle weltweit).
Aber wer glaubt schon, dass die Profiteure des Systems es wirklich wollen bzw. hinnehmen würden... an der Erbschaftssteuer, die vom Verfassungsgericht schon seit Jahren als verfassungswidrig kritisiert wird, aber es sich real in der Politik (samt Lobbys vor allem aus der Wirtschaft) nichts ändert, kann das z.B. gut sehen.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
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Stefanie
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So 20. Nov 2022, 12:12

Es wäre ja schon mals was, wenn die Bezeichnung überdacht würden.

Wer ist "Bänker"?
Die Bankangstellte, der Bankangstelle am Schalter, der oder diejenige, die die Geldautomaten befüllen. Der Berater oder die Beraterin, oder die in den Chefetagen? Die in den Verwaltungen, die dafür sorgen, dass Geld transferiert werden kann? Nicht systemrelevant, wenn Geldtransfers, auch auf unsere Konten wie das Gehalt, nicht mehr durchgeführt werden können?

Kindergärtnerinnen und Pflegerinnen. Das nenne ich mal ein umgekehrten Ausschluss einer Gruppe. Es gibt auch Männer, die diese Berufe ausüben.
Mal davon abgesehen, dass die Verwendung von Kindergärtnerin, Kindergärtner nicht mehr "in" ist.
Wie wäre es mit erzieherischen oder pädagogischen Fachkräften, oder pflegerische Fachkräfte.



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Burkart
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So 20. Nov 2022, 12:31

Stefanie: Ist dir nicht klar, warum es uns geht, auch ohne andere (ggf. genauere) Bezeichnungen/Wörter?



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sybok
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So 20. Nov 2022, 12:58

Stefanie hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 12:12
Kindergärtnerinnen und Pflegerinnen. Das nenne ich mal ein umgekehrten Ausschluss einer Gruppe. Es gibt auch Männer, die diese Berufe ausüben.
Mal davon abgesehen, dass die Verwendung von Kindergärtnerin, Kindergärtner nicht mehr "in" ist.
Wie wäre es mit erzieherischen oder pädagogischen Fachkräften, oder pflegerische Fachkräfte.
Huch, das hätte ich echt nicht bemerkt, Danke für den Hinweis!
Der Sinn solcher Umbenennungen andererseits erschliesst sich mir aber nicht, das halte ich für ein elendes "Form über Fakt". Da bleibe ich dann halt wohl hinterwäldlerisch.




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Lucian Wing
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So 20. Nov 2022, 13:31

Stefanie hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 12:12

Mal davon abgesehen, dass die Verwendung von Kindergärtnerin, Kindergärtner nicht mehr "in" ist.
Wie wäre es mit erzieherischen oder pädagogischen Fachkräften, oder pflegerische Fachkräfte.
Ich glaube, das ist schon noch "in". Halt nicht mehr bei den sprachregelungswütigen Eliten, aber unter den Menschen, die sich ohne Kameras und Mikrophone unterhalten, schon noch.

Im Prinzip setzt sich der ganze Neusprech nur durch, weil es Medien gibt. Sonst würden sich Umgangssprache (der Normalos) und Elitensprache so entwickeln, wie sich beispielsweise in England nach der Eroberung durch die Normannen die Sprache entwickelt hat. Es gab eine Sprache der Oberen und eine Sprache der Unteren. Letztere waren gewitzt genug, dann ihre Schweine weiterhin pigs zu nennen, aber wenn sie tot waren, hieß das Schwein dann pork (also nach dem normannischen Begriff). Und ebenso ging es beim Rotwild und bei den Kühen. Das waren noch Zeiten, als man der Obrigkeit, die du hier vertrittst, etwas entgegensetzen konnte.

Ich seh's kommen. Irgendwann segeln wir unter der Flagge des Nicht-Binären auf den Gewässern der Mütter*Innen und legen dann im Hafen der geborenhabenden und nicht-geborenhabenden Erziehenden an. Was natürlich diejenigen ausschließt, die entweder Leihkörper verwendet haben oder den sicher auch bald möglichen Ausbrütungsofenden. :|



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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Jörn Budesheim
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So 20. Nov 2022, 13:36

Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 13:31
Im Prinzip setzt sich der ganze Neusprech nur durch, weil es Medien gibt.
Ich nutze das unter anderem, weil es darüber wissenschaftliche Studien gibt, die nahelegen, es zu tun. Diese Studien kenne ich natürlich tatsächlich aus den Medien.




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Lucian Wing
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So 20. Nov 2022, 13:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 13:36
Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 13:31
Im Prinzip setzt sich der ganze Neusprech nur durch, weil es Medien gibt.
Ich nutze das unter anderem, weil es darüber wissenschaftliche Studien gibt, die nahelegen, es zu tun. Diese Studien kenne ich natürlich tatsächlich aus den Medien.
Magst du mal welche verlinken?



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Stefanie
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So 20. Nov 2022, 13:57

Ich glaube, das ist schon noch "in". Halt nicht mehr bei den sprachregelungswütigen Eliten, aber unter den Menschen, die sich ohne Kameras und Mikrophone unterhalten, schon noch.
Nein.
Meine Kolleginnen und Kollegen, die als Kindergärtner oder Kindergärtnerinnen bezeichnet werden, sind damit nicht glücklich. Sie fühlen sich und ihre Tätigkeit nicht ernst genommen.
Die Tätigkeit in einer Kita ist heute weit mehr, als nur auf Kinder aufzupassen. Kitas sind Bestandteil der frühkindlichen Förderung, sie sollen soziale Kompetenzen vermitteln, den Spracherwerb fördern und und. Wenn man diese Tätigkeit aufwerten will, sie über "Bänker" setzen will, sollte dies auch sprachlich tun. Es ist eine Frage der Wertschätzung. Bänker ist in meinem Ohr auch abwertend.
Der Tarifvertrag öffentlicher Dienst, der für diesen Bereich Anwendung findet, heißt SuE, Sozial- und Erziehubgsdienst und nicht KindergärtnerInnen Bezahlung.



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Lucian Wing
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So 20. Nov 2022, 14:05

Im Übrigen bin ich relativ "materialistisch" orientiert, wenn es um das geht, was bei Rorty "öffentliche Solidarität" heißt. Deshalb glaube ich auch, dass pädagogische Fachkräfte weiterhin ebenso mies bezahlt werden wie weibliche oder männliche Kindergärtner. Die Einführung bürokratisch-moralischer Begriffe durch diejenigen, die bei guter Bezahlung neue Sprachregelungen als Arbeitsnachweis von oben her durchzusetzen in der Lage sind, wird an den materiellen Bedingungen nichts ändern. Mein Eindruck ist, es gibt noch immer viel zu viele solcher gut bezahlter Posten, während man im praktischen Bereich in allen Sparten aus dem letzten Loch pfeift. Vielleicht sollte man in Deutschland mal Stellen im Wassermanagement statt im Sprachregelungsmanagement einrichten.



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Lucian Wing
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So 20. Nov 2022, 14:11

Stefanie hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 13:57

Der Tarifvertrag öffentlicher Dienst, der für diesen Bereich Anwendung findet, heißt SuE, Sozial- und Erziehubgsdienst und nicht KindergärtnerInnen Bezahlung.
Gegen die Benennung des Tarifvertrags ist ja nichts einzuwenden. Aber es fragt sich halt, ob man Bürokratensprache verbindlich als Volkssprache akzeptieren muss. Bürokraten erfinden unglaubliche Wörter für simple Dinge. Ich nenne zum Beispiel des Hausmeister weiter Hausmeister, weil jeder weiß, was ich damit meine. Ich gebe damit kein moralisches Statement über die Person ab, wenn ich keine Lust habe, ihn Facility Manager oder was weiß ich zu nennen.



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Jörn Budesheim
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Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 13:46
Magst du mal welche verlinken?


Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es in diesem Video einiges dazu, ich meine, ich hätte es hier im Forum vor längerem schon mal gepostet.

Hier ein Beispiel, ich bin mir nicht sicher, ob es auch in dem Video vorkommt: Proband:innen werden gefragt, welche Musiker sie besonders lieben. Eine Vergleichsgruppe bekommt die "gleiche" Frage jedoch gegendert. Die Antworten unterscheiden sich signifikant. Wird gegendert, werden erheblich mehr Musikerinnen genannt als beim sogenannten generischen Maskulin. Dass die Sprache einen sehr großen Einfluss auf unser Denken haben kann, ist meines Erachtens doch ziemlich offensichtlich.

Hier könnte man sagen, das ist wirklich Mitsprache im wortwörtlichen Sinn :)

(Ich würde im übrigen auch dann gendern, wenn es nicht naturwissenschaftlich fundiert wäre, einfach weil ich es schöner finde.)




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Stefanie
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So 20. Nov 2022, 14:41

Auf den Berufsurkunden steht seit Jahrzehnten staatlich anerkannte Erzieherin bzw. Erzieher.
Die Bezahlung ist die eine Seite, die andere Seite ist die Wertschätzung, für die Tätigkeiten, die sie in den Kitas leisten. Dazu gehört auch, ihren beruflichen Abschluss und ihre Beruf beim richtigen Namen zu nennen.



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Lucian Wing
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So 20. Nov 2022, 14:58

Stefanie hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 14:41
Auf den Berufsurkunden steht seit Jahrzehnten staatlich anerkannte Erzieherin bzw. Erzieher.
Die Bezahlung ist die eine Seite, die andere Seite ist die Wertschätzung, für die Tätigkeiten, die sie in den Kitas leisten. Dazu gehört auch, ihren beruflichen Abschluss und ihre Beruf beim richtigen Namen zu nennen.
Nein, der Volksmund muss sich nicht an Urkunden orientieren. Warum? Mit welchem Recht will denn wer das einfordern? Der Hausmeister ist auch als Facility Manager eingestellt, aber gibt's eine Vorschrift, die den anderen sagen kann, wie ich mich im sprachlichen Umgang auf ihn beziehe? Willst du wirklich Bürokraten ein Recht einräumen, ihre Bezeichnungen umgangssprachlich verpflichtend zu machen?

Mir ist solches Sprachverständnis komplett schleierhaft. Alle Sprache wird neuerdings idealerweise nach moralischen Kriterien von oben her diktiert. Ich sehe manche Intention, die ich für richtig halte. Aber ich sehe auch die daraus resultierende Verlogenheit, die Selbstbeweihräucherung und die Selbsttäuschung, wo man wohlfeile Moral hochhält und sich die materielle Folgenlosgkeit schönredet. Wichtig ist nicht, wie sich die Beutruungskräfte nennen (lassen), sondern was auf dem Papier steht und aufs Konto fließt. Wenn der Volksmund "Kindergärtnerin" sagt (also damit das klar ist: ich verwende den Begriff nicht mehr, außer wenn ich über meine Kindheit und das Personal im Kindergarten spreche), dann gibt's keinen Euro weniger, und Bürokratensprache bringt keinen Euro mehr. Die Effekte zwischen einer korrekten Sprache einerseits und der Selbstberuhigung, wonach eine Benennenung praktische, materielle Probleme lösen würde, heben sich einander aus meiner Sicht auf.

Ich habe nichts gegen genauere Begriffe. Aber alles gegen diejenigen, die jeden Sprachmüll von oben her durchdrücken wollen und selbst null Ahnung von Sprache mitbringen. (Was jetzt auf die Bürokraten gemünzt ist)



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Stefanie
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So 20. Nov 2022, 15:36

Mir ist vollkommen schleierhaft, wie jemand nicht anerkennen kann, dass sich auch Sprache verändert, dass sich Inhalte von beruflichen Tätigkeiten ändern, und wir im 21. Jahrhundert sind.
Wahrscheinlich wird auch noch Fräulein für unverheiratete Frauen verwendet, wenn viele schon Menschen, vornehmlich Frauen, weiterhin als Kindergärtinnen bezeichnet, weil Erzieherin ist von der Bürokratie durchgedrückter Sprachmüll.
Auf dem Papier steht Erzieherin. Und es ist neben den Gehalt wichtig, wie ein Beruf genannt wird, wertschätzend oder abwertend.

Übrigens die Vergütung für den Bereich der Kitas ist in den letzten 25 Jahren deutlich gestiegen.



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Jörn Budesheim
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So 20. Nov 2022, 15:53

Lucian Wing hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 14:58
Alle Sprache wird neuerdings idealerweise nach moralischen Kriterien von oben her diktiert.
Erstens: Es wird es keineswegs diktiert, die große Mehrheit, ca zwei Drittel (vielleicht sogar mehr ich bin mir nicht sicher, ob ich die Zahlen jetzt richtig im Kopf habe) gendert gar nicht. Das würde ganz anders aussehen, wenn es von oben her diktiert würde.

Zweitens: Gendern ist (in extrem vielfältigen Ausprägungen) aus einer Bewegung von unten heraus entstanden. Das habe ich vor kurzem in einem Artikel gelesen, den ich jetzt leider nicht mehr parat habe. Erst Mittlerweile ist es bei manchen Institutionen angekommen.

Drittens: sollte man die Sprache deiner Ansicht nach eher gemäß unmoralischer Kriterien formen?




sybok
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So 20. Nov 2022, 16:27

Stefanie hat geschrieben :
So 20. Nov 2022, 15:36
Wahrscheinlich wird auch noch Fräulein für unverheiratete Frauen verwendet, wenn viele schon Menschen, vornehmlich Frauen, weiterhin als Kindergärtinnen bezeichnet, weil Erzieherin ist von der Bürokratie durchgedrückter Sprachmüll.
Und gerade hattest du mich noch dafür gerügt, ausschliesslich von der weiblichen Form gesprochen zu haben. Da drängt sich mir leider die Vermutung auf, dass es jetzt in Ordnung ist, wo es um eine Opferrolle geht.




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