Was ist (menschliches) Handeln und warum handeln Menschen?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Alethos
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Di 26. Sep 2017, 19:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 18:24
Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 25. Sep 2017, 10:16
Mein Psychologismus oder Psychismus meint, dass wir immer und primär Psyche sind und auch nie die Perspektive einer Psyche verlassen können.
Interessant finde ich die Formulierung, dass man nie die Perspektive einer Psyche verlassen kann. Denn eine Perspektive ist ja bereits eine Form des Verlassens. Und wer darüber nachdenkt, dass er eine Perspektive auf die Dinge hat, der hat sich bereits in exemplarischer Weise selbst überstiegen und die Psyche verlassen.

Handeln ist eine erstaunliche Form des sich selbst verlassens. Im Handeln bezieht man sich, wie bei jeder Form von Intentionalität, auf etwas, was man nicht selbst ist, und beim Handeln in aller Regel sogar auf etwas, was nicht mal der Fall ist, aber der Fall werden soll :)
Ich erinnere mich vage an eine Zeit, als du deine Behauptung widersprochen hättest. Das waren deine konstruktivistischen Tage. Damals hättest du dich mit Derridas "il n'y a pas dehors texte" sogar zur Aussage bringen lassen (vielleicht), "il n'y a pas dehors Psyche" :). Diese Feststellung, dass wir uns wandeln können, ist im Übrigen nicht wertend, sondern interessant. Ich freue mich auch schon auf meine noch kommenden Wandlungen :)

Die Auffassung, dass wir intentionale Wesen sind, vergessen wir oftmals - gerade auch der Neurophysikalismus vergisst das oft. Wir sind nicht einfach ein Haufen Ich-Gene, wir sind auch nicht einfach ein Haufen neuronale Gewitter, sondern wir sind immer schon auf einander Bezogene. Unsere Selbstbilder sind von Klein auf Du-Bilder. Erst im Zuge der Selbstbewusstwerdung erhalten wir die Gewissheit, dass dieses Ich im Spiegel tatsächlich niemand anderes ist. Wir lernen durch Nachahmung, wir entwickeln uns in einem kooperativen Miteinander, wir sind quasi immer schon ausser uns und finden vielleicht im Alter immer mehr zu uns selbst. Aber unser Gerichtetsein auf andere, das hört nicht auf. Wir sind Beziehungswesen, denke ich, vielmehr als psychomechanische Roboter. Wir sind also aufgrund äusserer Verbundenheit wir-gestimmte Wesen. Und das bedeutet ja dann auch, dass unsere Handlungen auch nicht allein durch uns selbst und in uns selbst angeregt werden, sondern gerade auch im Gegenüber, auf das sie gerichtet sind und auf die Welt, in deren Kontext sie stattfinden.



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Jörn Budesheim
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Mi 27. Sep 2017, 06:28

Alethos hat geschrieben :
Di 26. Sep 2017, 19:16
Ich erinnere mich vage an eine Zeit, als du deine Behauptung widersprochen hättest. Das waren deine konstruktivistischen Tage. Damals hättest du dich mit Derridas "il n'y a pas dehors texte" sogar zur Aussage bringen lassen (vielleicht), "il n'y a pas dehors Psyche" :)
Radikalkonstruktivistisch bitte schön, so viel Zeit muss sein :)




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Friederike
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Mi 27. Sep 2017, 12:45

Alethos hat geschrieben :
Jörn hat geschrieben : Handeln ist eine erstaunliche Form des sich selbst verlassens. Im Handeln bezieht man sich, wie bei jeder Form von Intentionalität, auf etwas, was man nicht selbst ist, und beim Handeln in aller Regel sogar auf etwas, was nicht mal der Fall ist, aber der Fall werden soll :)
[...] sondern wir sind immer schon auf einander Bezogene. Unsere Selbstbilder sind von Klein auf Du-Bilder. Erst im Zuge der Selbstbewusstwerdung erhalten wir die Gewissheit, dass dieses Ich im Spiegel tatsächlich niemand anderes ist. Wir lernen durch Nachahmung, wir entwickeln uns in einem kooperativen Miteinander, wir sind quasi immer schon ausser uns und finden vielleicht im Alter immer mehr zu uns selbst. Aber unser Gerichtetsein auf andere, das hört nicht auf. Wir sind Beziehungswesen, denke ich, vielmehr als psychomechanische Roboter. Wir sind also aufgrund äusserer Verbundenheit wir-gestimmte Wesen. Und das bedeutet ja dann auch, dass unsere Handlungen auch nicht allein durch uns selbst und in uns selbst angeregt werden, sondern gerade auch im Gegenüber, auf das sie gerichtet sind und auf die Welt, in deren Kontext sie stattfinden.
Kennt Ihr das "Still-Face-Experiment"? Falls nicht, dann bitte, schaut es Euch unbedingt an. Es reicht, wenn Ihr es von 0.16 - 2.12 anseht, und den begleitenden Kommentar braucht man auch nicht zu hören. Das Kind ist für uns zweifellos -noch- keine handelnde Person, weil wir es wegen seines Alters sicher nicht als verantwortlich für sein Tun erachten. Darüberhinaus dürfte das Kind noch nicht die Fähigkeit des Reflektierens über Absicht, Motiv und Zweck seines Tuns ausgebildet haben. Trotz dieser rationalen Einwände, das Tun des Kindes als Handlungen zu bezeichnen, intuitiv, meine ich, spricht nichts dagegen zu sagen, das Kind würde handeln. Was ich unglaublich faszinierend finde, das ist, ich drücke es etwas pathetisch aus, wie das Kind durch und in der Beziehung lebt (das "Beziehungswesen"). Deine Beschreibung, @Alethos, der Handlung als Kommunikation ist der 1. Grund, aus dem ich das Experiment hier reinstelle. Der 2. Grund bezieht sich auf die von Dir, @Jörn, implizit angesprochenen Erwartungen. Wie sich die Fähigkeit überhaupt entfaltet, mit dem eigenen Tun eine Situation zu schaffen, die den eigenen Wünschen entspricht.




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Jörn Budesheim
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Mi 27. Sep 2017, 14:22

Ja, das ist sehr beeindruckend. Als Vater und Opa aber auch nicht weit jenseits meines Erwartungswertes :-)




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Friederike
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Mi 27. Sep 2017, 18:12

offtopic:
Jörn Budesheim hat geschrieben : Ja, das ist sehr beeindruckend. Als Vater und Opa aber auch nicht weit jenseits meines Erwartungswertes :-)
Mir ist kurz nach der Beitragsabfassung eingefallen, daß ich überhaupt nicht berücksichtigt habe, daß die Szene Euch, die Ihr Kinder habt, sehr wahrscheinlich nicht annähernd so vom Hocker reißen wird wie mich, die ich keine Kinder habe. Es scheint sich zu bestätigen. 8-)




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Jörn Budesheim
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Mi 27. Sep 2017, 18:27

Offtopic: nein, nein ich fand es sehr interessant!




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Alethos
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Do 28. Sep 2017, 23:40

Friederike hat geschrieben :
Mi 27. Sep 2017, 12:45
Kennt Ihr das "Still-Face-Experiment"? Falls nicht, dann bitte, schaut es Euch unbedingt an. Es reicht, wenn Ihr es von 0.16 - 2.12 anseht, und den begleitenden Kommentar braucht man auch nicht zu hören. Das Kind ist für uns zweifellos -noch- keine handelnde Person, weil wir es wegen seines Alters sicher nicht als verantwortlich für sein Tun erachten. Darüberhinaus dürfte das Kind noch nicht die Fähigkeit des Reflektierens über Absicht, Motiv und Zweck seines Tuns ausgebildet haben. Trotz dieser rationalen Einwände, das Tun des Kindes als Handlungen zu bezeichnen, intuitiv, meine ich, spricht nichts dagegen zu sagen, das Kind würde handeln. Was ich unglaublich faszinierend finde, das ist, ich drücke es etwas pathetisch aus, wie das Kind durch und in der Beziehung lebt (das "Beziehungswesen").
Sehr spannend. Danke für das Video. Dieses Experiment trifft es. Obwohl ich Vater bin, kannte ich es so direkt nicht.

Der Sprecher sagt ganz am Schluss, es handle sich für das Kind um eine 'ugly situation'. Und selbst für den erwachsenen Seher, wenigstens für mich, war es ein Stressmoment, diese Disproportion zwischen Mensch und Mensch auszuhalten. Das empathische Gleichgewicht zwischen Du und Du gerät hier eindrücklich ausser Balance. Wenn das Empathische wegerodiert und nur noch die 'kalte Mimik' entgegentritt, dann wird es sehr schnell ungemütlich. Wir können uns gar nicht isolieren vom Gegenüber und seinem Befinden, da wir mitschwingen mit dem Anderen. Das zeigt das Experiment deutlich und ich denke, es geht uns als Erwachsene ähnlich. Das ausgedrückte Wohl des Anderen wird zu einem sicheren Zeichen für das ankommen Wollen im Miteinander. Es ist wirklich eindrücklich zu sehen, wie sehr wir von einander zehren.



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Jörn Budesheim
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Fr 29. Sep 2017, 05:28

Alethos hat geschrieben :
Do 28. Sep 2017, 23:40
Obwohl ich Vater bin, kannte ich es so direkt nicht.
Warum kennt man das so nicht? Naja, weil man sich so natürlich nie verhält. Ich schätze, dass es für die Mutter anstrengend und auch eine ziemliche StressSituation war!

Ich musste vor kurzem bei einem Künstlergespräch vor Publikum ein paar einführende Worte sagen. Und zu Beginn habe ich in diesem Fall solange ich es eben konnte in das Publikum gestarrt und gar nichts gesagt... das hab ich nicht lang geschafft und es war auch nicht einfach.

Wir Menschen sind in vielen verschiedenen Hinsichten so aufeinander ausgerichtet, aber im Alltag fällt uns diese Selbstverständlichkeit gar nicht mehr ohne weiteres auf.

Wie kommen wir jetzt zurück zum Thema Handeln? :) (Oder haben wir uns gar nicht so weit davon entfernt?)




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Friederike
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Fr 29. Sep 2017, 09:55

Jörn Budesheim hat geschrieben : Wie kommen wir jetzt zurück zum Thema Handeln? :) (Oder haben wir uns gar nicht so weit davon entfernt?)
Mir fällt dazu Dein Beitrag vom 24.9./5.35 Uhr (bei mir ohne Beitragsnummer) ein, aus dem ich zitiere (Mark.v.m.):
Jörn hat geschrieben : Hier noch ein weiterer Punkt, der aber eng damit zusammenhängt: Die Thread Frage "was ist Handeln und warum handeln Menschen?" umfasst logischerweise auch kooperative Handlungen. Interessanterweise spielt das bei den Handlungstheorien, von denen ich bisher Kenntnis genommen habe, jedoch zumeist eine untergeordnete Rolle. Generell sind Handlungen ja keine absoluten Einzelvorkommnisse, sondern sie sind nahezu immer in ein Netz von anderen Handlungen eingefügt. Und in der Wirklichkeit, die wir bewohnen, sind nahezu alle Handlung, die wir vollführen, abhängig von Handlungen, die andere vollzogen haben.
Entschuldigen möchte ich mich, daß ich mich aufs Zitieren beschränke und die Sache selbst um keinen einzigen Schritt voranbringe. Interessant finde ich auch Deinen Hinweis, daß die Kooperation in den Handlungstheorien stets unterbelichtet zu sein scheint. Insofern wäre dies durchaus ein Aspekt, den wir vertiefen könnten.




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Jörn Budesheim
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Fr 29. Sep 2017, 10:27

Vielleicht sollte man den Bereich, den man in den Blick nimmt, noch erweitern. Am Ende gelingt es uns, den Naturthread und den Handlungsthread zu verbinden! Dazu noch mal die beiden widerstrebenden "Definitionen" von Natur:

In der ursprünglichen Bedeutung bedeutet der Begriff: das Werden eines organisch Wachsenden. (Handbuch philosophischer Grundbegriffe.)

Im Lexikon der Philosophie finden wir: mit dem naturwissenschaftlichen Durchbruch und der Entstehung eines neuen Weltbildes wird Natur als eine zwecklose raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper betrachtet welche universal gültigen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Und etwas später den Naturbegriff des 20 Jahrhunderts beruht im wesentlichen auf dem des 17 Jahrhunderts.

Vielleicht ist Natur der Raum, in dem wir als "Gattungswesen" handeln. (Das Leben ist als "Gattung" seiner Struktur nach "Selbstbewusstsein", Georg W. Bertram über Hegel.) So wenig wie wir unseren Geist bloß aus unserem Inneren heraus begreifen können und er aus diesem schieren Inneren heraus entsteht, sondern nur in Bezug auf anderes (insbesondere andere Geistwesen, man denke an das Mutter-Kind-Video), so wenig können wir das Handeln (was ja ein Teil unserer Geistexistenz ist) allein aus uns heraus verstehen, sondern nur in Bezug auf ein Ganzes (welches noch näher gefasst werden müsste, ich nenne es provisorisch "Natur").

Da ist (weder logisch noch sonstwie) zuerst dieses (monadische) Ich, dass dann irgendwie in einer "zwecklosen raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper" zurechtzukommen versucht. Sondern es entsteht als es selbst erst durch diesen Zusammenhang, in dem es sich von sich selbst und von anderen unterscheiden lernt. Inbesondere ist dies ein Raum, der nicht bloß kausale Kausalität kennt (wir kochen keine Steinsuppe!), sondern auch rationale Kausalität (und viel anderes) ... also ein Raum, der (wenn auch in Grenzen) sinnhaft geordnet ist, so dass unsere "Warumfragen" nicht einfach an ihm abprallen, weil das der Raum ist uns selbst "umfasst".




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Fr 29. Sep 2017, 14:11

Eine kurze Bemerkung, die sich mir beim Nachlesen des Diskussionsverlaufs aufdrängte:

Es scheint mir angebracht, Handlungen und ihre Strukturen zunächst möglichst wertfrei zu bestimmen. Ob eine Handlung die Welt verbessert oder irgendwelchen Personen - einschließlich des Akteurs selbst - von Nutzen ist, sind m.E. sekundäre Überlegungen. Näher liegt die Feststellung, dass jede Handlung einen Zweck verfolgt - wobei mit "Zweck" einfach jener Sachverhalt gemeint ist, der durch die Handlung hergestellt, aufrecht erhalten oder verhindert werden soll.
Dann kann man immer noch fragen, warum die handelnde Person ausgerechnet diesen Zweck verfolgte, ob es ein wertvoller/nützlicher oder schlechter/schädlicher Sachverhalt ist usw. Aber auf diese Weise sind Handlungen und ihre Gehalte erst einmal "objektiv" erfasst, nämlich unterschieden von den Motiven, Präferenzen und Wertungen der handelnden Person. Und diese Unterscheidungsmöglichkeit scheint mir sehr angebracht zu sein. Denn vollzogene Handlungen geschehen in der "wirklichen Welt", sie lösen sich damit von der Vorstellungswelt des Akteurs, seinen Wünschen, Hoffnungen, Vorlieben usw. Sie bewirken Veränderungen, die nicht mehr zurückgenommen werden können, und stellen sich damit immer auch der Beurteilung durch andere. Wegen dieser (mehr oder weniger ausgeprägten) Verselbständigung lassen sich Handlungen und ihre Gehalte nicht auf die Motive, Vorlieben, Absichten der handelnden Personen reduzieren (d.h. nicht restlos aus ihnen verstehen, erklären oder ableiten).




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Jörn Budesheim
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Fr 29. Sep 2017, 14:53

Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 14:11
Ob eine Handlung die Welt verbessert oder irgendwelchen Personen - einschließlich des Akteurs selbst - von Nutzen ist, sind m.E. sekundäre Überlegungen. Näher liegt die Feststellung, dass jede Handlung einen Zweck verfolgt - wobei mit "Zweck" einfach jener Sachverhalt gemeint ist, der durch die Handlung hergestellt, aufrecht erhalten oder verhindert werden soll.
Ich hatte es so verstanden, dass jede Handlung die Welt aus Sicht des Handelnden verbessern soll. Damit soll erklärt werden, warum der Handelnde einen bestimmten Zweck verfolgt. Inwiefern ist dieser Umstand nach deiner Einschätzung sekundär (falls ich dich richtig verstanden habe)?




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Fr 29. Sep 2017, 15:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 14:53
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 14:11
Ob eine Handlung die Welt verbessert oder irgendwelchen Personen - einschließlich des Akteurs selbst - von Nutzen ist, sind m.E. sekundäre Überlegungen. Näher liegt die Feststellung, dass jede Handlung einen Zweck verfolgt - wobei mit "Zweck" einfach jener Sachverhalt gemeint ist, der durch die Handlung hergestellt, aufrecht erhalten oder verhindert werden soll.
Ich hatte es so verstanden, dass jede Handlung die Welt aus Sicht des Handelnden verbessern soll. Damit soll erklärt werden, warum der Handelnde einen bestimmten Zweck verfolgt. Inwiefern ist dieser Umstand nach deiner Einschätzung sekundär (falls ich dich richtig verstanden habe)?
Habe ich doch im Weiteren gesagt: Handlungen und ihr Gehalt verselbständigen sich immer - mehr oder weniger - gegenüber dem Horizont oder der Vorstellungswelt der handelnden Person mit ihren subjektiven Vorlieben, Absichten, Wünschen, Hoffnungen. Wenn man Handlungen primär von diesen subjektiven Motiven her versteht (sie also "psychologisiert"), bleibt der "objektive" Charakter des Handelns womöglich unterbelichtet. Ich finde eben den Umstand, dass durch die Handlung ein "Faktum" in die Welt gesetzt wird, hinter das auch die handelnde Person nicht mehr zurück kann, besonders hervorhebenswert. Gegenüber der "Härte" dieses Faktums sind die vormaligen Wünsche, Vorlieben und Gründe der handelnden Person zweitrangig. Es kommt ja nicht nur sehr oft vor, dass die vollzogene Handlung sich von diesen Vorstellungen ablöst, sondern auch, dass sich dadurch das Bewusstsein der handelnden Person nachhaltig verändert. Der Akteur ist nach seiner Handlung nicht mehr ganz derselbe. Zwar ist natürlich die subjektive Motivationslage für das Verstehen von Handlungen nicht unbedeutend, aber sie bestimmt die Bedeutung einer Handlung bei weitem nicht hinreichend.

Hier nur ein Beispiel:
Ab 1883 wurden in Deutschland durch Reichskanzler Bismarck zuerst die gesetzliche Krankenversicherung, dann die Unfallversicherung und schließlich die Rentenversicherung eingeführt. Sie waren überwiegend auf die Arbeiterschaft ausgerichtet.

„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte“
– Otto von Bismarck: Gesammelte Werke (Friedrichsruher Ausgabe) 1924/1935, Band 9, S. 195/196

Damit sollte einerseits sozialen Unruhen und dem Sozialismus begegnet werden, andererseits sollte bereits bestehenden, freiwilligen Sozialversicherungen der Gewerkschaften und der kirchlichen Arbeiterverbände die wirtschaftliche Grundlage entzogen werden.

(Quelle: Wiki-Artikel "Sozialversicherungen")
Offensichtlich "transzendierte" die Einrichtung der Sozialversicherungen Bismarcks parteilichen politischen Absichten. Für ihn schien das Wohlergehen der Arbeiterschaft nur ein Mittel in der politischen Auseinandersetzung zu sein. Ihm lag hauptsächlich daran, den autoritären Staat zu sichern. Im Grunde war also die soziale Wohltat eine repressive, paternalistische Maßnahme; es sollte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, als hätten die Arbeiter und ihre nicht-staatlichen Organisationen sich etwas aus eigener Kraft erkämpft. - Aber die "historische" Bedeutung dieser Maßnahme wird doch durch Bismarcks Absichten bei weitem nicht abgedeckt.




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Friederike
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Fr 29. Sep 2017, 15:37

Jörn Budesheim hat geschrieben : Vielleicht sollte man den Bereich, den man in den Blick nimmt, noch erweitern. Am Ende gelingt es uns, den Naturthread und den Handlungsthread zu verbinden! [...]Vielleicht ist Natur der Raum, in dem wir als "Gattungswesen" handeln. (Das Leben ist als "Gattung" seiner Struktur nach "Selbstbewusstsein", Georg W. Bertram über Hegel.) So wenig wie wir unseren Geist bloß aus unserem Inneren heraus begreifen können und er aus diesem schieren Inneren heraus entsteht, sondern nur in Bezug auf anderes (insbesondere andere Geistwesen, man denke an das Mutter-Kind-Video), so wenig können wir das Handeln (was ja ein Teil unserer Geistexistenz ist) allein aus uns heraus verstehen, sondern nur in Bezug auf ein Ganzes (welches noch näher gefasst werden müsste, ich nenne es provisorisch "Natur").

Da ist (weder logisch noch sonstwie) zuerst dieses (monadische) Ich, dass dann irgendwie in einer "zwecklosen raumzeitliche Welt ausgedehnter, materieller Körper" zurechtzukommen versucht. Sondern es entsteht als es selbst erst durch diesen Zusammenhang, in dem es sich von sich selbst und von anderen unterscheiden lernt. Inbesondere ist dies ein Raum, der nicht bloß kausale Kausalität kennt (wir kochen keine Steinsuppe!), sondern auch rationale Kausalität (und viel anderes) ... also ein Raum, der (wenn auch in Grenzen) sinnhaft geordnet ist, so dass unsere "Warumfragen" nicht einfach an ihm abprallen, weil das der Raum ist uns selbst "umfasst".
Deine Überlegungen führen mich directement zum Begriff der "Zweiten Natur" (Hegel + McDowell): Wie wir aus dem logischen Raum der Naturgesetze mit ihrer Kausalitätsbeziehung über die kommunikative Handlung in den logischen Raum der Gründe eingeführt werden. Anders noch, der logische Raum der Natur ist nicht gleichzusetzen mit dem logischen Raum der Naturgesetze, weil "Natur" die -menschliche- "zweite Natur" einschließt, den Raum der Handlung. Menschen erwerben diese zweite Natur dadurch, daß ihre zum Teil angeborenen Potentiale, im Verlauf ihres Erwachsenwerdens, ihrer "Bildung" (McDowell gebraucht das deutsche Wort "Bildung") aktualisiert und entfaltet werden. Ich meine mich zu erinnern, da0 McDowell die Entwicklung der "zweiten Natur" auch als Einführung in eine "Kultur" bezeichnet.
Was mir jetzt noch ein wenig dubios vorkommt, das ist der Umstand der Anwendung eines überaus schwammigen Handlungsbegriffes. Hm nein, eigentlich doch nicht. Menschen sind "Personen", die "handeln", d.h. sie verantworten ihr Tun, und sie erlernen dies im Rahmen des kooperativen Handelns.

Der Satz, den ich im Zitat unterstrichen habe, lohnt, meine ich, noch näher ausgeführt zu werden. Das ist hauptsächlich eine Erinnerung für mich, weil ich im Augenblick nicht dazu komme.




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Friederike
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Fr 29. Sep 2017, 18:59

@Hermeneuticus, der Aspekt der Verselbständigung einer Handlung, auf den Du aufmerksam machst, ist mir in seiner Relevanz, -trotz Deines anschaulichen Beispiels, und obwohl mir Deine Begründung(en) plausibel sind- nicht klar. Warum willst Du den "objektiven" Sachverhalt in den Vordergrund rücken bzw. damit beginnen? Ich stimme zwar jeder Deiner Aussagen zu, nur scheint mir der wesentliche Punkt an "Handlungen" der, daß sie auf Wünschen und Absichten eines Akteurs beruhen und in der Regel, d.h. im Alltagsleben, immer aber auch wertende Antworten oder Reaktionen anderer Akteurinnen hervorrufen (abgesehen selbstverständlich von Handlungen, die ich alleine vollziehe und von denen niemand außer mir Kenntnis hat). Sie verselbständigen sich, sofern sie kooperativ sind, nicht in einen luftleeren, bzw. wertfreien Raum. Ich kann es leider noch nicht so ganz auf den Punkt bringen, worauf ich hinauswill ... mir kommt es vor, als würde man mit dem Hintanstellen der wertenden Aspekte den "Handlungen" etwas wegnehmen, was sie in entscheidender Weise charakterisiert.




Hermeneuticus
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Friederike hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 18:59
Warum willst Du den "objektiven" Sachverhalt in den Vordergrund rücken bzw. damit beginnen? Ich stimme zwar jeder Deiner Aussagen zu, nur scheint mir der wesentliche Punkt an "Handlungen" der, daß sie auf Wünschen und Absichten eines Akteurs beruhen und in der Regel, d.h. im Alltagsleben, immer aber auch wertende Antworten oder Reaktionen anderer Akteurinnen hervorrufen (abgesehen selbstverständlich von Handlungen, die ich alleine vollziehe und von denen niemand außer mir Kenntnis hat). Sie verselbständigen sich, sofern sie kooperativ sind, nicht in einen luftleeren, bzw. wertfreien Raum. Ich kann es leider noch nicht so ganz auf den Punkt bringen, worauf ich hinauswill ... mir kommt es vor, als würde man mit dem Hintanstellen der wertenden Aspekte den "Handlungen" etwas wegnehmen, was sie in entscheidender Weise charakterisiert.
Ich bestreite doch gar nicht, dass Handlungen durch Wünsche oder Absichten motiviert sind und dass sie im sozialen Umfeld stets der Wertung unterliegen. Mir liegt es fern, davon etwas "wegzunehmen". Ich möchte nur klarmachen, dass eine Handlung immer ein "Faktum", eine "Tatsache" in der Welt ist bzw. eine solche herbeiführt. Diese Tatsache besteht, wenn sie einmal in der Welt ist, unabhängig von den Motiven und Absichten des Akteurs. Und diese allgemein zugängliche "Tatsächlichkeit" ist es auch, die eine Bewertung der Handlung überhaupt möglich macht.

Die relative Unabhängigkeit der Handlung von den Wünschen und Absichten der handelnden Person erweist sich schon daran, dass die Handlung gelingen oder scheitern kann bzw. dass sie erfolgreich oder erfolglos sein kann. Niemand beabsichtigt wohl gescheiterte oder erfolglose Handlungen. Trotzdem muss sich der Akteur auch die gescheiterte Handlung zuschreiben lassen, die er so nicht gewollt hat. Allein das zeigt schon, dass Handlungen grundsätzlich mehr sind und mehr bedeuten als die Wünsche und Absichten der handelnden Person. Handlungen sind also nicht völlig von den "subjektiven" Absichten, Wünschen, Präferenzen her zu verstehen oder zu erklären.

An sprachlichen Handlungen ist das wohl leicht einzusehen. Grundlage des Verstehens ist das Gesagte, nicht das, was der Sprecher vielleicht meinte oder sagen wollte. Denn der Gesprächspartner kann nicht in den Kopf des Sprechers schauen, um das Gesagte von dort her zu interpretieren. Es verhält sich genau umgekehrt: Der Gesprächspartner kann allenfalls vom tatsächlich Gesagten darauf schließen, was der Sprecher gemeint haben mag. Aber dazu muss er das Gesagte erst einmal verstanden haben - irgendwie. Wenn die privaten Vorstellungen (das "Gemeinte") das Primäre, also die Grundlage von sprachlicher Bedeutung wären, käme eine Verständigung niemals in Gang.

Auch vor Gericht, wo es um die rechtliche Bewertung von Handlungen geht, wird immer zuerst der objektive Sachverhalt bzw. der "Tathergang" festgestellt. Erst danach kann zur Wertung übergegangen werden - wobei dann die Frage nach den subjektiven Tatmotiven auch eine wichtige Rolle spielt. Dabei verlässt man sich aber nicht völlig auf die Aussagen des Beklagten - zumal er ja auch die Aussage verweigern darf -, sondern man schließt von den Umständen der Tat auf den Vorsatz oder die Schuldfähigkeit des Täters. - So wird es z.B. demnächst im Fall Beate Zschäpe sein. Die Angeklagte hat sich nicht zu den ihr vorgeworfenen Taten geäußert, aber man kann wohl zweifelsfrei feststellen, dass sie sich mindestens der Beihilfe zum mehrfachen Mord schuldig gemacht hat. Auch über ihre Motive dürfte es kaum Zweifel geben.

Ein weiteres Beispiel: Ein parkender Autofahrer öffnet schwungvoll die Wagentür und reißt einen Radfahrer um. Man darf vermuten, dass der Autofahrer nur beabsichtigte, die Tür zu öffnen und auszusteigen, mehr nicht. Aber das objektive Geschehen, d.h. der durch die Handlung bewirkte Sachverhalt, ist etwas anderes. Und für diesen objektiven Sachverhalt hat der Autofahrer sich zu verantworten, nicht für seine harmlosen, guten Absichten.




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Fr 29. Sep 2017, 23:13

Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 21:29
Ein weiteres Beispiel: Ein parkender Autofahrer öffnet schwungvoll die Wagentür und reißt einen Radfahrer um. Man darf vermuten, dass der Autofahrer nur beabsichtigte, die Tür zu öffnen und auszusteigen, mehr nicht. Aber das objektive Geschehen, d.h. der durch die Handlung bewirkte Sachverhalt, ist etwas anderes. Und für diesen objektiven Sachverhalt hat der Autofahrer sich zu verantworten, nicht für seine harmlosen, guten Absichten.
Nun ja, es ist richtig, dass die Handlung auch an ihren Wirkungen gemessen wird und nicht allein an den Absichten. Diese Tatsache hat wohl schon mancher Mann erfahren, der einer Frau ein Kompliment zu machen beabsichtigte, das - gänzlich missverstanden - vielleicht sogar als Beleidigung empfunden wurde. Dieses eher harmlose Verfehlen der Wirkung kann selten mildernde Umstände für sich geltend machen, wenn die Sache einmal verbockt ist :) In der juristischen Sphäre jedenfalls kann aber eine deutliche Differenz von Absicht und Wirkung dazu führen, dass auf Fahrlässigkeit plädiert werden kann. Aber dann sprechen wir von äusseren Bewertungen dieser Wirkungen, d.h. von einer Welt da draussen, die urteilt.

Der bewirkte Zustand oder die Faktizität ist, einmal in die Welt entlassen, vielleicht nicht mehr aufzuhalten, da sie eine Kausalkette in Bewegung gebracht hat, für die ich nur vielleicht etwas kann. Auch hierfür kennt das Recht den Ausdruck des Kausalzusammenhangs. Die Handlung und die Wirkung müssen erkennbar ursächlich miteinander zusammenhängen, damit ich verantwortlich gemacht werden kann. Ich kann aber nicht belangt werden für den Tornado, der meine diskrete Flatulenz im Badezimmer verursacht hat, denn auch die Motivation muss in die Bewertung des Kausalzusammenhangs genommen werden. Also ja, im Grunde könnte ich von einem Gericht in Florida auf Schadenersatz verklagt werden, wenn ich mit der Absicht furzte, eine katastrophale Entwicklung in Gang zu bringen :)

Aber der Punkt ist der: Diese Bewertungen von durch Handlungen hergestellter Faktizität erfolgen in diesen Fällen durch ein Aussen. Bei der Motivation der Handlung durch eine schwache oder starke Wertung handelt es sich jedoch um einen inneren Vorgang, der die Handlung in Gang bringt. Der rationale Prozess des Handelns als eben dieses Abwägen von Gründen vollzieht sich als selbstverantwortliche Initiative und als solche autoreflexiv. Die Faktizität, die aus der Handlung resultiert, ist daher gar nicht die primäre Motivation, sondern gibt der Intentionalität nur eine äussere Form. Die Faktizität ist so gesehen nicht das primär Motivierende, obwohl sich die Tat auf die Welt und die Menschen bezieht und einen bestimmten Zustand herzustellen beabsichtigt. Die Intentionalität impliziert das Schaffenwollen einer bestimmten Faktizität. Dieses Wollen, weil ist aber dasjenige, das den Handelnden im Grunde antreibt. Dieses Wollen bezieht dich zwar auf ein Aussen, wo es Fakten schaffen und Wirkungen herstellen will, Wirkung ist der Zweck der Handlung. Aber für den Zweck kann man den Handelnden allgemein gesehen, d.h. abgesehen von der konkreten Wirkung, nicht allein verantwortlich machen.

Dass dies philosophisch richtig ist, aber bei Sprechakten und auch beim Recht so nicht gilt, hat mit der Intersubjektivität zu tun, die sie betrifft. Das Subjektive einer Intention tangiert das Äussere nur durch die Wirkungen, d.h. für den intersubjektiven Kontext ist eine Intention gar nicht anders bewertbar, sichtbar, erkennbar als nur an der Wirkung. Sie ist auf Verlässlichkeit eingerichtet.. Auch wenn der beste Vorsatz gegolten hat, so zeigt sich dieser der Welt, z.B. dem Richter und dem Gesprächspartner, doch immer nur als Vermutung. Auf Vermutung darf aber ein Rechtssystem nicht primär basieren, weil es sonst nicht mehr verlässlich ist. Intersubjektivität heisst Verlässlichkeit. Wenn Rechtsprechung mehrheitlich auf Vermutungen basierte und nicht nach festen Kriterien, klaren Tatbeständen, gesprochen würde, verlöre es den intersubjektiven Wert der Verlässlichkeit. In etwas abgemildeter Form gilt dies ja auch für unsere Kommunikationen: Ein ausgesprochener Satz ist nur deshalb verständlich, weil er überhaupt geäussert wurde, ja, aber auch, weil er nach Regeln erfolgt, die nicht vermutete sind, sondern möglichst klare und eindeutige und verlässliche.

Die Bewertungen also, von denen wir mit Blick auf Handlungen in erster Linie hier sprechen, sind Handlungsmotivationen und nicht Handlungswirkungen. Sollte demnach eine Wirkung fehlgehen, wird es nämlich wiederum nur eine Handlung sein, die sie zum besseren wendet. Und daran erkennt man die starke Wertung: am Edelmut, an der Grosszügigkeit, am Guten, das sie stets verfolgt.



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Friederike
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Sa 30. Sep 2017, 18:51

Hermeneuticus hat geschrieben : Diese Tatsache besteht, wenn sie einmal in der Welt ist, unabhängig von den Motiven und Absichten des Akteurs. Und diese allgemein zugängliche "Tatsächlichkeit" ist es auch, die eine Bewertung der Handlung überhaupt möglich macht.

An sprachlichen Handlungen ist das wohl leicht einzusehen. Grundlage des Verstehens ist das Gesagte, nicht das, was der Sprecher vielleicht meinte oder sagen wollte. Denn der Gesprächspartner kann nicht in den Kopf des Sprechers schauen, um das Gesagte von dort her zu interpretieren. Es verhält sich genau umgekehrt: Der Gesprächspartner kann allenfalls vom tatsächlich Gesagten darauf schließen, was der Sprecher gemeint haben mag. Aber dazu muss er das Gesagte erst einmal verstanden haben - irgendwie. Wenn die privaten Vorstellungen (das "Gemeinte") das Primäre, also die Grundlage von sprachlicher Bedeutung wären, käme eine Verständigung niemals in Gang.
Ich glaube, ich ahne jetzt, worum es Dir geht. Ähnlich wie bei der Sprache können wir nur deswegen überhaupt verstehen, was die Absicht, das Motiv, das Ziel einer Handlung ist, weil wir zuvor wissen, was "handeln" bedeutet. "Private" Handlungen funktionieren ebenso wenig wie eine "private" Sprache. Es ist das Privatsprachenargument angewendet auf die Handlungstheorie. So in die Richtung ...?




Hermeneuticus
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Sa 30. Sep 2017, 18:53

Alethos hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 23:13
Aber der Punkt ist der: Diese Bewertungen von durch Handlungen hergestellter Faktizität erfolgen in diesen Fällen durch ein Aussen. Bei der Motivation der Handlung durch eine schwache oder starke Wertung handelt es sich jedoch um einen inneren Vorgang, der die Handlung in Gang bringt. Der rationale Prozess des Handelns als eben dieses Abwägen von Gründen vollzieht sich als selbstverantwortliche Initiative und als solche autoreflexiv. Die Faktizität, die aus der Handlung resultiert, ist daher gar nicht die primäre Motivation, sondern gibt der Intentionalität nur eine äussere Form. Die Faktizität ist so gesehen nicht das primär Motivierende, obwohl sich die Tat auf die Welt und die Menschen bezieht und einen bestimmten Zustand herzustellen beabsichtigt. Die Intentionalität impliziert das Schaffenwollen einer bestimmten Faktizität. Dieses Wollen, weil ist aber dasjenige, das den Handelnden im Grunde antreibt. Dieses Wollen bezieht dich zwar auf ein Aussen, wo es Fakten schaffen und Wirkungen herstellen will, Wirkung ist der Zweck der Handlung. Aber für den Zweck kann man den Handelnden allgemein gesehen, d.h. abgesehen von der konkreten Wirkung, nicht allein verantwortlich machen.

Dass dies philosophisch richtig ist, aber bei Sprechakten und auch beim Recht so nicht gilt, hat mit der Intersubjektivität zu tun, die sie betrifft. Das Subjektive einer Intention tangiert das Äussere nur durch die Wirkungen, d.h. für den intersubjektiven Kontext ist eine Intention gar nicht anders bewertbar, sichtbar, erkennbar als nur an der Wirkung.
(...)
Die Bewertungen also, von denen wir mit Blick auf Handlungen in erster Linie hier sprechen, sind Handlungsmotivationen und nicht Handlungswirkungen.
(...)
In Deinen Darlegungen zeichnet sich ein bestimmtes Bild von der Handlung und ihrer Struktur ab, mit dem ich nicht ganz einverstanden bin. Es ist ein bekanntes, ja geradezu "klassisches" Bild, das aus der mechanistisch geprägten Neuzeit stammt und in der Philosophie auch als das "Hume-Modell" bekannt ist. Es erfreut sich vor allem in der angelsächsischen Philosophie bis heute einer gewissen Beliebtheit. Aber es ist nur ein Modell, eine Vorstellung davon, wie Handlungen beschaffen sind, hinter der eine mechanistische Metaphysik und ein dazu passender Körper-Geist-Dualismus hervorlugen.

Grundlegend ist darin das Konzept der Kausalität im Sinne der causa efficiens: Der Handlungsablauf wird als kausales Geschehen betrachtet, als eine körperliche Bewegung, die von einer Ursache angestoßen oder "angetrieben" werden muss. Die Bewegung ist - als Bewegung eines Körpers - eine "äußerliche", sinnlich wahrnehmbare. Aber ihr Antrieb wird, anders als bei Planeten oder Billardkugeln, als ein "innerer" vorgestellt, etwa wie bei einem Uhrwerk. Kant bezeichnet denn auch die die Handlung anstoßenden Kräfte oder "Motive" stets als "Triebfedern". Das ist natürlich nur eine metaphorische, bildliche Redeweise, aber mir geht es ja gerade um das Bild, das man sich damals von der Handlung und vom handelnden Subjekt so zurechtlegte. - Die "äußerliche" Handlung wird diesem Bild zufolge - als "Wirkung" - von einer "inneren" Ursachen angetrieben. Und diese ist - klarer Fall - das Begehren ("desire") oder Wollen des handelnden Subjekts. Es fällt nicht besonders schwer, auch diesen "Trieb" noch im Körper des Subjekts unterzubringen, denn wir alle wissen ja aus Erfahrung, dass wir mitunter von körperlichen Begierden befallen werden, gegen die wir uns nicht wehren können. Hunger, Durst und Sexual"trieb" sind in der Tat mächtige Bedürfnisse, denen wir ausgeliefert sind.

Aber nun fehlt zum Handeln natürlich noch etwas, das Handlungen von x-beliebigen kausalen Abläufen unterscheidet, nämlich die Vernunft. Die müssen wir also im Apparat noch unterbringen. Wir setzen zunächst einmal voraus, dass die rationale Überlegung als solche keine motivierende Kraft hat. Sie kann also keine Handlung anstoßen und auch keine Zwecke setzen. Das kann nur das Begehren, das jeweils auf diese oder jene Gegenstände (= Güter, Werte) gerichtet ist. Der Vernunft sind also das Begehren mitsamt seinen wertenden "Präferenzen" immer schon vorgegeben. Vorgegeben sind ihr natürlich auch die äußeren Umstände, unter denen das von innen kommende Begehren sich zu realisieren hat. Das Einzige, was der Rationalität somit zu tun übrig bleibt, ist das Kalkül, wie die innerlich gegebenen Begierden unter den äußerlich gegebenen Umständen jeweils am besten, d.h. am "effizientesten", zu befriedigen seien.

Das ist ein recht grobes Schema, das ich hier noch ein wenig karikiert habe, aber vermutlich erfreut es sich auch gerade wegen seiner beinahe lächerlichen Plumpheit so großer Beliebtheit und Verbreitung. Es hat sich geradezu zu einer "Volkstheorie" entwickelt, die man sich unbewusst zuzieht, ohne je ein Buch von Hobbes, Hume oder Kant gelesen zu haben. Und so überrascht es nicht, dass man ihren begrifflichen Eckpfeilern in so ziemlich jeder Diskussion übers Handeln begegnet.

Im Moment möchte ich noch nichts zur Kritik dieses Modells sagen, sondern verrate nur, dass es nicht "alternativlos" ist. Es gibt auch andere Modelle. ;)




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Alethos
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Sa 30. Sep 2017, 20:55

Hermeneuticus, es ist natürlich vor dem Hintergrund deiner scharfzüngigen Kritik nicht sehr einfach, den Pfad der Tugenden nicht zu verlassen :) Jedenfalls vielen Dank, dass du mir die Fähigkeit zutraust dank deines wegweisenden Schlusses, die Wahrheit selbst zu finden. :)
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 21:29

Ich bestreite doch gar nicht, dass Handlungen durch Wünsche oder Absichten motiviert sind und dass sie im sozialen Umfeld stets der Wertung unterliegen.
Mir ging es nur darum zu verdeutlichen, dass es im Thread sowenig wie im Taylor-Text um soziale Wertungen geht, sondern um subjektive.

Die Handlung als Performation, als Faktizität, die von anderen rezipiert und interpretiert werden kann, betrifft ja eine andere Ebene von Handlungen als die hier Diskutierte. Dass Handlungen Wirkungen zeitigen, die unsere Mitmenschen beeinflussen und von ihnen gedeutet werden, das tut der Tatsache keinen Abbruch, dass der Handelnde ein rationales Wesen ist, der intentional handelt. Die Intention, verstanden zu werden, führt gelegentlich dazu, Vokabular zu verwenden, das auch verständlich ist. Aber das verstanden werden Wollen ist ein Wollen. Der Sprechakt ist ein intersubjektiver Fakt. Ich würde das gerne trotz des Ineinanders getrennt untersuchen wollen.

Vielleicht hast du ja genauere Quellen?



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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