Was ist (menschliches) Handeln und warum handeln Menschen?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Hermeneuticus
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Do 26. Okt 2017, 13:37

Friederike hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 15:34
Ich stehe an der Supermarkt-Kasse an und die nächste Person, die an die Kasse tritt, stellt sich doch tatsächlich nicht hinter, sondern vor mich. Die Handlung wird als "vordrängeln" bezeichnet und das heißt, daß die Absicht der Person in jedem Fall darin besteht, vor mir an der Kasse abgefertigt zu werden.
Könnte man hier den Ausdruck "Absicht" ohne Bedeutungsverlust durch "Zweck" ersetzen? Ich frage, weil Du sagst, dass beim Vordrängeln die Absicht der Person in jedem Fall darin besteht, früher abgefertigt zu werden. Das heißt doch so viel wie: "Wann immer jemand (= eine beliebige Person X) sich vordrängelt, will sie/er früher abgefertigt werden." Oder noch zugespitzter: Diese Absicht hängt nicht von den Besonderheiten der jeweiligen Person ab, sondern sie ist im Handlungsschema 'Vordrängeln' inbegriffen.

Wegen dieser Allgemeinheit (Typisierung) und allgemeinen Bekanntheit des Vordrängelns braucht man nicht auf die mentalen Episoden der konkreten Person zurückzugreifen, um zu verstehen, was sie will.

Mit Deinen Fragen nach den Motiven oder Beweggründen zielst Du dann allerdings auf etwas Personenspezifisches, Individuelles:
Was ist jetzt mit dem Motiv oder dem Beweggrund, den die Person für diese Handlung hat? Sie kennt mich und kann mich nicht leiden; ihr Parkschein ist in einer Minute abgelaufen; sie nimmt an einer experimentellen Studie teil usw.usf.
Ja, da ist Vielerlei denkbar, das sich in der Handlung des Vordrängelns nicht unmittelbar manifestiert. Und genau deshalb, weil es sich im Handlungsvollzug quasi nicht "abbildet", sind wir geneigt, uns auf mentale Episoden der konkreten Person zu beziehen - ihre "Hintergedanken", ihre Zu- und Abneigungen, ihre Ungeduld usw.

Was ich sagen will, ist also etwa dies: Was das "Äußere" und das "Innere" an einer Handlung ist, liegt nicht allgemein und von vornherein fest. Es gibt also keine allgemeine, "ontologische" Grenzlinie derart, dass Dinge vom Typ x immer zum Draußen gehören, und Dinge vom Typ y immer zum Drinnen. Es hängt vielmehr von den besonderen Umständen der Handlung, von den beteiligten Personen, ihrer Vertrautheit mit den lebensweltlichen Üblichkeiten usw. ab, wo jeweils die Grenze verläuft zwischen dem Offensichtlichen ("Äußeren") und dem Verdeckten ("Inneren"). Und genau darum empfiehlt es sich nicht, Handlungen grundsätzlich als "zusammengesetzt" aus äußerlichen Anteilen (z.B. körperlichen Bewegungen) und inneren Anteilen (z.B. Absichten, Motiven, Beweggründen) zu konzipieren.

Person X kauft ein Brötchen. Die Absicht besteht darin, ein Brötchen zu kaufen. Die Absicht kann von Hunger motiviert sein oder von der Bitte der Nachbarin, ihr ein Brötchen mitzubringen oder davon, daß Person X später ein Picknick machen will. Würdest Du sagen, daß Letzteres gar nicht mehr zu den Handlungen "Vordrängeln" und "Brötchen kaufen" gehört und deswegen an Deiner Argumentation gegen ein eher mentalistisch ausgerichtetes Konzept von "Handlung" vorbeiläuft?
Nein. Ich möchte vielmehr den Begriff der Handlung (und die dazugehörigen weiteren Bestimmungen wie Zweck, Mittel, Handlungserfolg...) im Grundsätzlichen als indifferent, "neutral" hinsichtlich der Unterscheidungen Innen/Außen, Körperliches/Mentales verstehen. Damit werden diese Unterscheidungen nicht grundsätzlich verworfen. Sie stehen einer näheren Bestimmung im konkreten Fall offen, wenn sich das als zweckmäßig oder vielleicht sogar unumgänglich erweisen sollte.




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Alethos
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Do 26. Okt 2017, 19:19

Und woran machst du den inneren Antrieb einer Handlung fest? Die Motive müssen ja irgendwo erkennbar sein.



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Hermeneuticus
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Do 26. Okt 2017, 23:31

Du gehst wohl davon aus, dass der Antrieb zu einer Handlung grundsätzlich etwas "Inneres" sein muss. Aber genau das bezweifele ich eben. Ist z.B. Hunger ein "innerer" oder "äußerer" Antrieb zum Handeln? Lässt sich das ohne Weiteres bestimmen? Hunger ist doch jedenfalls ein organischer Zustand des Mangels. Aber befindet sich der Organismus in einem "Innen"? Oder sollen wir vielleicht so unterscheiden: Der Hunger als organischer Zustand ist etwas Äußerliches, während das Hungergefühl zum Innerlichen gehört? Wäre demnach das, was zum bewussten Erleben gehört (z.B. Gefühle) das Innere, und alles Organische, Physische etwas Äußeres? Nicht sehr überzeugend.

Ein anderes Beispiel: Ein sechzehnjähriger Schüler fasst den Entschluss, Arzt zu werden. Vom Zeitpunkt dieses Entschlusses an, so könnte man sagen, hat er den Willen, Arzt zu werden. Er tut von da ab alles, was zur Erreichung dieses Ziels nötig ist. Wenn alles gut geht, hat er dann das Ziel zwölf bis vierzehn Jahre später erreicht. - Was wollen wir nun über seinen Willen sagen, der ja irgendwie während dieser ganzen Zeit sein Handeln bestimmt: Ist dieser Wille etwas Inneres oder Äußeres? Eins steht wohl fest: Der junge Mann hat nicht während der ganzen Zeit einen volitionalen mentalen Zustand, den permanenten Gedanken: "Ich will Arzt werden". Aber wenn dieser Wille nicht dauernd Inhalt seines Bewusstseins ist - wo befindet er sich dann? Wäre es plausibel zu sagen, er existiere gar nicht, wenn er nicht Bewusstseinsinhalt ist? Kaum, denn das "äußere" Handeln des jungen Manns entspricht ja nach wie vor seinem Willen... Ist es wirklich sinnvoll, diesen Willen als "inneren" Antrieb zu lokalisieren? - Das finde ich nicht überzeugend.

Im vorletzten Beitrag schreibst Du:
Alethos hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 20:23
Ich denke es vielmehr so, dass der Handlungsvollzug über die Motiviertheit des Handelnden Auskunft gibt, und zwar als hinreichendes Indiz für die intentionale Ausrichtung der Handlung selbst. Wenn eine Person die Autotür öffnet, dann gehe ich davon aus, dass dieser Handlung eine Motivation zugrundeliegt, die in der Handlung vollkommen Ausdruck findet. (...)
Das heisst, die innere Ebene wird an der Art und Weise des äusserlich sichtbaren Vollzugs bewertbar und beurteilbar.
Zwar meinst Du, dass an der "äußeren" Handlung das "Innere" seinen vollkommenen Ausdruck findet. Aber zugleich betrachtest Du das Innere als das Entscheidende, das Antreibende und "Zugrundeliegende". Schematisch formuliert wäre demnach die Handlung ein Vorgang, durch den etwas Inneres ins Außen übergeht. Die Handlung ist "Ausdruck" des Inneren.

Aber wenn dem wirklich so ist, wenn die innere Intention, wie Du sagst, ihren vollkommenen Ausdruck in der Handlung findet, dann entfällt doch gerade die Differenz zwischen Innen und Außen. Oder nicht?




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2017, 06:37

Ich glaube zwar auch nicht, dass Wünsche, Überzeugungen etc ganz und gar etwas Inneres sind, aber schließlich sind es unsere Wünsche und unsere Überzeugungen. Das kann man nicht leugnen. Und sie hören nicht auf, unsere Wünsche und unsere Überzeugungen zu sein, wenn sie nicht im Bewusstsein sind. Wer den Wunsch hat, Arzt zu werden, hat ihn auch dann, wenn der Wunsch nicht präsent ist. Der Wunsch Arzt zu werden, drückt sich auch nicht allzeit im Handeln aus. Der Wunsch wird in diesem Fall ein Teil der Person und der Versuch ihn irgendwo innerhalb dieser Person zu lokalisieren, führt wahrscheinlich einfach zu Nonsens... (Und zwar unabhängig davon, ob man unter "Innen" innerhalb der Körpergrenzen meint oder "innerhalb" des Bewusstseins, was tatsächlich gerne mal verwechselt wird...)

Wenn die fragliche Person auf dem Weg zu einer Vorlesung ist, dann befindet sich der Wunsch Arzt zu werden vermutlich an der Fußsohle... :) Und zwar abwechselnd an der linken und an der rechten je nachdem...




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Alethos
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 26. Okt 2017, 23:31
Du gehst wohl davon aus, dass der Antrieb zu einer Handlung grundsätzlich etwas "Inneres" sein muss. Aber genau das bezweifele ich eben.
Dir erscheint dieses dualistische Modell von innerer Motiviertheit und äusserlich sichtbarer Handlung nicht plausibel. Ok, das kann ich nachvollziehen. Ich möchte auch nicht suggerieren, dass sich Motiviertheit in den Köpfen der Menschen befindet oder dass Gründe etwas rein Privates seien, die sich nie äusserlich "verorten" liessen. Überhaupt kann das Konzept der Verortung von Gründen (übrigens auch von Geist etc.) generell problematisch sein. Woran erkennt man Gründe? Wo läuft die Grenze zwischen Welt und Geist? Gibt es eine solche überhaupt? etc.

Aber wie wollte man je einen Grund für eine Handlung angeben, wenn nicht gerade ein immanentes Beteiligtsein des Handelnden an seiner Handlung vorläge? Ich meine hier nicht eine theoretische Beteiligung, dass er sozusagen ein Teil seiner Handlung sei, sondern dass er ganz massgeblich an einer Handlung beteiligt ist, weil er damit gewisse Sollzustände erreichen will. Der Wille zur Handlung ist ja nicht einfach ein Abstraktum, das sich von der Handlung und vom Handelnden abziehen liesse?
Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 26. Okt 2017, 23:31
Alethos hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 20:23
Ich denke es vielmehr so, dass der Handlungsvollzug über die Motiviertheit des Handelnden Auskunft gibt, und zwar als hinreichendes Indiz für die intentionale Ausrichtung der Handlung selbst. Wenn eine Person die Autotür öffnet, dann gehe ich davon aus, dass dieser Handlung eine Motivation zugrundeliegt, die in der Handlung vollkommen Ausdruck findet. (...)
Das heisst, die innere Ebene wird an der Art und Weise des äusserlich sichtbaren Vollzugs bewertbar und beurteilbar.
Zwar meinst Du, dass an der "äußeren" Handlung das "Innere" seinen vollkommenen Ausdruck findet. Aber zugleich betrachtest Du das Innere als das Entscheidende, das Antreibende und "Zugrundeliegende". Schematisch formuliert wäre demnach die Handlung ein Vorgang, durch den etwas Inneres ins Außen übergeht. Die Handlung ist "Ausdruck" des Inneren.

Aber wenn dem wirklich so ist, wenn die innere Intention, wie Du sagst, ihren vollkommenen Ausdruck in der Handlung findet, dann entfällt doch gerade die Differenz zwischen Innen und Außen. Oder nicht?
Ich weiss nicht, ob ich diesen Schritt mitzumachen bereit bin. Einerseits sehe ich, dass die Dichotomie zwischen Innen und Aussen keine strenge sein kann. Ich meine, dass die sichtbare Handlung für den Betrachter genug Informationen beinhaltet, die es ihm erlauben, die Zweckgerichtetheit einer Handlung nachzuvollziehen. Das heisst aber doch nicht, dass man diese Differenz zwischen Ich und Welt einfach so auflösen kann?



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Friederike
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Sa 28. Okt 2017, 18:38

Hermeneuticus hat geschrieben : Was ich sagen will, ist also etwa dies: Was das "Äußere" und das "Innere" an einer Handlung ist, liegt nicht allgemein und von vornherein fest. Es gibt also keine allgemeine, "ontologische" Grenzlinie derart, dass Dinge vom Typ x immer zum Draußen gehören, und Dinge vom Typ y immer zum Drinnen. Es hängt vielmehr von den besonderen Umständen der Handlung, von den beteiligten Personen, ihrer Vertrautheit mit den lebensweltlichen Üblichkeiten usw. ab, wo jeweils die Grenze verläuft zwischen dem Offensichtlichen ("Äußeren") und dem Verdeckten ("Inneren"). Und genau darum empfiehlt es sich nicht, Handlungen grundsätzlich als "zusammengesetzt" aus äußerlichen Anteilen (z.B. körperlichen Bewegungen) und inneren Anteilen (z.B. Absichten, Motiven, Beweggründen) zu konzipieren.

Ja! Es ist von Dir bestimmt bereits mehrfach gesagt worden, wahrscheinlich haben Alethos und ich es auch, wenngleich vielleicht eher implizit, schon gesagt - ich halte es nach der etlichsten Umdrehung fest als unumstößliche Erkenntnis: Wenn wir von diese Trennung grundsätzlich annähmen, dann grenzte es an ein Wunder, daß wir unser Handeln für gewöhnlich wechselseitig verstehen.
Hermeneuticus hat geschrieben : Nein. Ich möchte vielmehr den Begriff der Handlung (und die dazugehörigen weiteren Bestimmungen wie Zweck, Mittel, Handlungserfolg...) im Grundsätzlichen als indifferent, "neutral" hinsichtlich der Unterscheidungen Innen/Außen, Körperliches/Mentales verstehen. Damit werden diese Unterscheidungen nicht grundsätzlich verworfen. Sie stehen einer näheren Bestimmung im konkreten Fall offen, wenn sich das als zweckmäßig oder vielleicht sogar unumgänglich erweisen sollte.
Und dies bringt mich auf die Frage: Wißt Ihr eigentlich -noch-, was wir wissen wollen? :lol: Ich meine, könntet Ihr sagen, was speziell Ihr wissen wollt und was Euch am "Handeln" interessiert? Oder wollen wir eine ganze Theorie über das Handeln entwerfen? Ich muß jetzt erst einmal neu überlegen, über welche Aspekte des Handelns ich mehr herausfinden will.




Timelaios
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Di 6. Okt 2020, 11:17

Wie wärs mit einem dbzgl Schopenhauer-Exkurs, oder gibts den bei Euch schon ??




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Jörn Budesheim
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Di 6. Okt 2020, 13:23

Nein, Schopenhauer läuft hier bisher unter "ferner liefen" :-)




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