Was ist (menschliches) Handeln und warum handeln Menschen?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Friederike
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So 1. Okt 2017, 09:15

Alethos hat geschrieben : Dass Handlungen Wirkungen zeitigen, die unsere Mitmenschen beeinflussen und von ihnen gedeutet werden, [...]
... ja, und damit wir unsere Handlungen untereinander deuten und verstehen können, müssen wir zuvor wissen, was es meint oder bedeutet zu handeln. Unabhängig davon, ob dies nun die Auffassung von Dir, @Hermeneuticus, ist - der Hinweis auf die Ähnlichkeit mit der Sprache hat mich darauf gebracht, daß "Handeln" wie "Sprache" funktioniert. Um die Absicht einer Handlung von Person X überhaupt auslegen zu können, einen Sinn im Tun dieser Person X meinen ausmachen zu können, dazu ist es erforderlich, daß wir einen gemeinschaftlich geteilten Handlungsbegriff haben.




Hermeneuticus
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Friederike hat geschrieben :
Sa 30. Sep 2017, 18:51
Ich glaube, ich ahne jetzt, worum es Dir geht. Ähnlich wie bei der Sprache können wir nur deswegen überhaupt verstehen, was die Absicht, das Motiv, das Ziel einer Handlung ist, weil wir zuvor wissen, was "handeln" bedeutet. "Private" Handlungen funktionieren ebenso wenig wie eine "private" Sprache. Es ist das Privatsprachenargument angewendet auf die Handlungstheorie. So in die Richtung ...?
Daran hatte ich zwar nicht gedacht, aber die Richtung stimmt schon. :-) Denn unsere Handlungen bestehen doch so gut wie immer aus geregelten Abläufen, also aus Handlungsschemata, die wir im Zusammenleben mit Unseresgleichen gelernt und übernommen haben. Diese Handlungsschemata wandeln wir zwar individuell und je nach Situation ab, rekombinieren sie und passen sie unseren Bedürfnissen und Launen an, aber doch so, dass sie in der Regel wiedererkennbar bleiben. Ähnliches gilt für die Zwecke, die wir mit den Handlungen erreichen wollen. Sie hängen mit den Handlungsschemata unmittelbar zusammen: Man schlägt einen Nagel in die Wand, um daran etwas aufzuhängen; man pflanzt Blumen in einen Kübel, um damit den Balkon oder die Terrasse zu schmücken; man greift zur Luftpumpe, um den Fahrradreifen aufzupumpen usw. usf. Gewöhnlich vollziehen wir diese Handlungsschemata ohne ausdrückliche Überlegung und Planung. Wir befinden uns eher selten in der Situation eines Restaurant-Gastes, der die Speisekarte aufschlägt, die Wahl aus dem Angebot treffen muss und sich fragt: "Hmm, was soll ich mir bestellen? Worauf habe ich gerade Lust?" Wir sind beim Handeln meist weniger bei uns und unseren Absichten als bei der Sache, die es hier und jetzt zu tun gilt. Wir leben eben nicht als isolierte Wesen in einem Naturzustand, in den wir hineingeworfen wurden wie gestrandete Aliens, sondern in einer vertrauten, von uns selbst gestalteten, organisierten und "rationalisierten" Kultur.

Dem sollte auch unser theoretischer Begriff vom "intentionalen Handeln" Rechnung tragen. Mit dem skizzierten Hume-Modell ist das schwierig. Das scheint eher ein Modell für gestrandete Aliens zu sein, die mit einer unbekannten "Außenwelt" konfrontiert sind und erst lernen müssen, wie sie darin ihre Bedürfnisse befriedigen können.




Hermeneuticus
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So 1. Okt 2017, 12:14

Alethos hat geschrieben :
Sa 30. Sep 2017, 20:55
Die Handlung als Performation, als Faktizität, die von anderen rezipiert und interpretiert werden kann, betrifft ja eine andere Ebene von Handlungen als die hier Diskutierte. Dass Handlungen Wirkungen zeitigen, die unsere Mitmenschen beeinflussen und von ihnen gedeutet werden, das tut der Tatsache keinen Abbruch, dass der Handelnde ein rationales Wesen ist, [das] intentional handelt. Die Intention, verstanden zu werden, führt gelegentlich dazu, Vokabular zu verwenden, das auch verständlich ist. Aber das verstanden werden Wollen ist ein Wollen. Der Sprechakt ist ein intersubjektiver Fakt. Ich würde das gerne trotz des Ineinanders getrennt untersuchen wollen.
Dass Handeln etwas mit dem Wollen, mit Intentionen, subjektiven Wertungen und persönlicher Selbstbestimmung zu tun hat, will ich gar nicht in Abrede stellen. Im Gegenteil. Mir geht es nur um ein realistisches, also ein unserer Lebenswirklichkeit angemessenes Konzept vom Handeln. Das skizzierte Hume-Modell halte ich aus diversen Gründen für unrealistisch, ja weltfremd.

Das beginnt schon damit, dass das Handeln an einem isolierten Subjekt "festgemacht" wird. Innerhalb dieses Modells gehören andere Subjekte einfach zur "Außenwelt", also zu den gegebenen Randbedingungen, unter denen der Einzelne seine Bedürfnisse zu befriedigen hat. - Es geht weiter mit der Dichotomie von Begierde und Vernunft. Die Bedürfnisse des Subjekts werden a priori als etwas Vernunftfremdes konzipiert. Und da die Rationalität nicht fähig ist, Zwecke zu setzen oder das Handeln zu motivieren, kommt ihr nur eine nachrangige, instrumentelle Rolle zu. Umgekehrt gelten die Begierden und Vorlieben, in deren Dienst die Vernunft steht, als grundsätzlich "subjektiv", also als um das individuelle Wohl zentriert.

Es ist bezeichnend, ja geradezu typisch, dass gleich zu Anfang dieses Threads seitenlang darüber diskutiert wurde, ob Handlungen immer "egoistisch" seien und ob und wie es überhaupt so etwas wie "Altruismus" geben könne. Das hat seinen Grund in einem Handlungskonzept, das beim isolierten Individuum ansetzt und obendrein die individuellen Bedürfnisse a priori in Opposition zur allgemeinen Vernunft bringt. Darum mein Vorschlag (in Beitrag 4460), von einem Zweckbegriff auszugehen, der hinsichtlich der üblichen Gegensätze von "Innen/Außen", "Subjektives/Allgemeines" und "Rationales/Irrationales" indifferent, also "neutral" ist.




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Alethos
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So 1. Okt 2017, 12:57

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 1. Okt 2017, 12:14
Es ist bezeichnend, ja geradezu typisch, dass gleich zu Anfang dieses Threads seitenlang darüber diskutiert wurde, ob Handlungen immer "egoistisch" seien und ob und wie es überhaupt so etwas wie "Altruismus" geben könne. Das hat seinen Grund in einem Handlungskonzept, das beim isolierten Individuum ansetzt und obendrein die individuellen Bedürfnisse a priori in Opposition zur allgemeinen Vernunft bringt. Darum mein Vorschlag (in Beitrag 4460), von einem Zweckbegriff auszugehen, der hinsichtlich der üblichen Gegensätze von "Innen/Außen", "Subjektives/Allgemeines" und "Rationales/Irrationales" indifferent, also "neutral" ist.
Ich habe überhaupt nichts gegen eine Erweiterung des Handlungsbegriffs.
Aber ich sehe bei meinen Überlegungen nicht, dass ich die Vernunft als Erfüllungsgehilfin von Begierden darstellen würde oder diesen Ansatz verfolgt hätte.
Ich/wir haben das Abwägen von Gründen als explit rationalen Vorgang beschrieben, ohne den eine Handlung sich gar nicht konstituiert. Mehr Vernunft geht nicht :)

Wir haben im Übrigen auch darüber gesprochen, dass wir in komplexeren Handlungsabläufen, z.B. wenn wir sagen: ,Ich schlage den Nagel ein, um das Bild aufzuhängen' die einzelnen Handlungsschritte nicht mehr einzeln denken, weil sich die eingespielten Bewegungsabläufe auf das übergeordnete Handlungsziel in einem Nach- und Ineinander einstellen. Und wir haben Handlungen unterschieden, die die Absicht verfolgen, die Wahl zwischen Option A und Option B zu konkretisieren und solchen, die ein grundsätzlicheres Selbstbild betreffen und in gewisser Weise von einer Ethik geleitet sind. Wenn wir diese Dimension auf die Faktizität reduzieren, wonach die Handlung als reines Mittel zum Zweck gedacht wird, berauben wir uns meines Erachtens der Möglichkeit das vielfältige Warum einer Handlung zu denken.

Komme später auf deine Ausführungen zurück, wenn sich meine Erkältung etwas gelegt hat. Eine Frage vorab: Hast du den Taylor-Text gelesen? Da wird keine Dichotomie gedacht zwischen Ich und Allgemeines oder Innen und Aussen. Die Handlung erfolgt nach Wünschen und diese entstehen durch einen rationalen Prozess des Wertens.



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Mo 2. Okt 2017, 11:53

Was mich am meisten angeregt hat, mein eigenes Leben auf getroffene und unterlassene Handlungsentscheidungen hin genauer unter die Lupe zu nehmen, das ist der Aufsatz von Taylor gewesen. @Alethos, alles das, was Du in Deinem letzten Beitrag nochmals, wie ich finde, prägnant und zutreffend beschrieben hast. Zugleich ist mir aber aufgrund der Einlassungen von Hermeneuticus deutlich geworden, daß sich für ein handlungstheoretisches Modell eine Schieflage ergibt, wenn man sich nur auf den individuumsbezogenen Aspekt fokussiert.
Hermeneuticus hat geschrieben : Es ist bezeichnend, ja geradezu typisch, dass gleich zu Anfang dieses Threads seitenlang darüber diskutiert wurde, ob Handlungen immer "egoistisch" seien und ob und wie es überhaupt so etwas wie "Altruismus" geben könne. Das hat seinen Grund in einem Handlungskonzept, das beim isolierten Individuum ansetzt und obendrein die individuellen Bedürfnisse a priori in Opposition zur allgemeinen Vernunft bringt.
An Hegel anknüpfend, würde ich Deine Aussage so umformulieren, daß man die Gestalten des objektiven Geistes, verstanden als die Gesamtheit der Denk- und Handlungsmöglichkeiten als Bedingung der Möglichkeit individuellen Denkens und Handelns begreift. Das Allgemeine sind die sogenannten Handlungs-Formen oder Handlungs-Schemata.

Außerdem ist mir jetzt auch klar geworden, daß wir ebenso wie bei der Sprache als einzelne Menschen natürlich gar kein Kriterium dafür haben, an dem wir die Erfüllung oder das Scheitern unserer Absichten messen könnten. Man kann nicht das eigene Gedächtnis nehmen, weil es unmöglich ist, als isolierte Person einem "Tun" eine Bedeutung oder einen Sinn zu verleihen. Die Opposition von Innen und Außen, hier am Beispiel der Erfolgskontrolle, ist insofern nur irreführend. Das Allgemeine ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ein Individuum sich ihres Erfolges oder Mißerfolges vergewissern kann.




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Alethos
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Mo 2. Okt 2017, 20:45

Friederike hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2017, 11:53
An Hegel anknüpfend, würde ich Deine Aussage so umformulieren, daß man die Gestalten des objektiven Geistes, verstanden als die Gesamtheit der Denk- und Handlungsmöglichkeiten als Bedingung der Möglichkeit individuellen Denkens und Handelns begreift. Das Allgemeine sind die sogenannten Handlungs-Formen oder Handlungs-Schemata.
Diesen Satz verstehe ich nicht. Ich denke, er hört sich plausibel an, aber ich kann ihn in einer Lebenswelt nirgends einordnen. Wäre es die möglich, hierzu ein Beispiel zu nachzureichen?

Ich sehe, dass es Schemata gibt, die es erlauben, eine Handlung als solche zu erkennen. Aber welche Rückschlüsse sind möglich auf die Motiviertheit der Handlung?



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Di 3. Okt 2017, 18:01

Alethos hat geschrieben :
Friederike hat geschrieben : An Hegel anknüpfend, würde ich Deine Aussage so umformulieren, daß man die Gestalten des objektiven Geistes, verstanden als die Gesamtheit der Denk- und Handlungsmöglichkeiten als Bedingung der Möglichkeit individuellen Denkens und Handelns begreift. Das Allgemeine sind die sogenannten Handlungs-Formen oder Handlungs-Schemata.
Diesen Satz verstehe ich nicht. Ich denke, er hört sich plausibel an, aber ich kann ihn in einer Lebenswelt nirgends einordnen. Wäre es die möglich, hierzu ein Beispiel zu nachzureichen? Ich sehe, dass es Schemata gibt, die es erlauben, eine Handlung als solche zu erkennen. Aber welche Rückschlüsse sind möglich auf die Motiviertheit der Handlung?
@Alethos, die Aussage von Hermeneuticus:
H. hat geschrieben : [...] das beim isolierten Individuum ansetzt und obendrein die individuellen Bedürfnisse a priori in Opposition zur allgemeinen Vernunft bringt.
die ich oben im Zitat unterstrichen hatte, genauer, der Begriff der allgemeinen Vernunft, der hatte mich zu Hegel und dem "Geist" geführt. Du kannst Hegel aber auch gerne streichen, :lol: weil er für die lebensweltliche Einordnung nicht unverzichtbar ist. Es geht schlicht darum, daß wir erst im Rahmen eines überindividuellen Handlungsbegriffes, der in unserem Verständnis "intentional" (ich greife Deinen Ausdruck auf) gefaßt ist, uns selbst als handelnde Akteure -wie Taylor es entwickelt- beschreiben können. Wenn wir Intentionalität als die Gerichtetheit von Handlungen verstehen, wozu Absichten, Motive, Gründe gehören, dann ist dieser allgemein geteilte überindividuelle Handlungsbegriff die Voraussetzung dafür, daß ein einzelner Akteur/eine einzelne Akteurin von seinen/ihre Motiven oder Absichten sprechen kann.

Aus meiner Sicht ist es eine ganz ähnliche, nein, es ist sogar dieselbe Geschichte, nämlich die des Zuganges zum "Fremdpsychischen". Niemand kann in den Anderen hineinsehen, niemand sieht in sich selber "etwas", und trotzdem wissen wir, was wir meinen, wenn wir von "Verliebtheit", "Trauer" o.ä. reden. Wenn Du mit Deinem Töchterchen (mir kommt grad Dein Gedicht in den Sinn) spielst, dann kann ich zwar nicht en detail wissen. warum genau in diesem Moment Du welches Spiel mit ihr spielst, aber eine generelle Motivation kann ich schon daraus ableiten.




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Alethos hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2017, 20:45
Ich sehe, dass es Schemata gibt, die es erlauben, eine Handlung als solche zu erkennen. Aber welche Rückschlüsse sind möglich auf die Motiviertheit der Handlung?
Nehmen wir ein berühmtes Beispiel: Willy Brandts Kniefall an der Gedenkstätte in Auschwitz 1970. Das Knien ist ein uraltes Handlungsschema, das bei uns heute nur noch in christlichen Gottesdiensten praktiziert wird, aber früher auch als Demutsgeste gegenüber weltlichen Autoritäten verlangt wurde. So weit wir wissen, hatte Brandt den Kniefall aber nicht geplant; es steckte also kein politisches Kalkül dahinter, sondern es war eine spontane Geste. Ist es ein großes Rätsel, was ihn wohl dazu veranlasst haben könnte?

Unsere Motivationen (und Zwecke) hängen - ich möchte sagen: in der Regel - mit den Handlungsschemata zusammen, die wir aktualisieren. Das ist deshalb nicht überraschend, weil wir diese Schemata in den praktischen und kommunikativen Kontexten erworben haben, in denen sie passend und erforderlich sind. Und wir haben diese Schemata nicht nur erworben, um uns in die Üblichkeiten des sozialen Umfelds einzuordnen, sondern genauso so sehr, um uns, unsere Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren bzw. sie eigenständig zu befriedigen. Mit der Gabel zu essen und aus dem eigenen Becher zu trinken, sind nicht bloß Benimm-Formen, sie machen das Kind auch selbstständiger; denn nun muss es nicht mehr gefüttert werden, es kann sich selbst bedienen und hat sein eigenes Gefäß (darauf legen Kinder bekanntlich großen Wert). - Die Handlungsschemata kommen also mit ihren Zwecken, die zunächst ebenfalls schematisch sein mögen. Aber nach und nach lernen wir dann auch, die Schemata abzuwandeln, sie in neuen Kontexten auszuprobieren, anders zu kombinieren und ihnen so eine bestimmtere, persönlichere Bedeutung zu verleihen. (Denken wir nur an die unzähligen Variationsmöglichkeiten und Nuancen, die das Handlungsschema des Grüßens zulässt; es lässt sich je nach gesellschaftlichem Kontext, je nach Person, je nach Stimmung... beliebig abwandeln und bleibt doch fast immer "durchsichtig" für die Einstellungen der Personen zueinander.)

Was ich sagen will: Auch wenn die Rede von "Schemata" vielleicht etwas abschreckend wirken und die Assoziation des Unpersönlichen oder "bloß Äußerlichen" wecken mag, sind die erworbenen Handlungsschemata doch primär Mittel, unsere persönliche Selbständigkeit zu realisieren und unseren Willen kommunikativ zu artikulieren, also verständlich zu machen.




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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 29. Sep 2017, 15:31
Ich finde eben den Umstand, dass durch die Handlung ein "Faktum" in die Welt gesetzt wird, hinter das auch die handelnde Person nicht mehr zurück kann, besonders hervorhebenswert. Gegenüber der "Härte" dieses Faktums sind die vormaligen Wünsche, Vorlieben und Gründe der handelnden Person zweitrangig.
Als Ödipus den Bettler erschlagen hat, war das ein Vatermord? ;)




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Alethos
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 3. Okt 2017, 19:15
Alethos hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2017, 20:45
Ich sehe, dass es Schemata gibt, die es erlauben, eine Handlung als solche zu erkennen. Aber welche Rückschlüsse sind möglich auf die Motiviertheit der Handlung?
Nehmen wir ein berühmtes Beispiel: Willy Brandts Kniefall an der Gedenkstätte in Auschwitz 1970. Das Knien ist ein uraltes Handlungsschema, das bei uns heute nur noch in christlichen Gottesdiensten praktiziert wird, aber früher auch als Demutsgeste gegenüber weltlichen Autoritäten verlangt wurde. So weit wir wissen, hatte Brandt den Kniefall aber nicht geplant; es steckte also kein politisches Kalkül dahinter, sondern es war eine spontane Geste. Ist es ein großes Rätsel, was ihn wohl dazu veranlasst haben könnte?
Nein, das ist es wohl nicht und anhand des Beispiels verstehe ich ungefähr, was du/ihr (@Friederike, Hermeneuticus) sagen wollt. Vielleicht liegt es an meiner Erkältung oder daran, dass ich darüber (noch) nicht viel gelesen habe, denn ich verstehe es wirklich nur ungefähr.

Mein Versuch eines Verstehens:
Die Handlungsschemata beinhalten einen präformierten Handlungssinn, sie geben Zeugnis über eine deshalb wahrscheinliche Handlungsbedeutung (und Zweckgerichtetheit), weil sich die Schemata in einer sozialen Praxis eingespielt haben. Das 'Um-zu' der individuellen Handlung läuft sozusagen vor dem Horizont, oder besser, im Rahmen eines überindividuellen Handlungszwecks, durch welchen die Handlung als mit diesem Zweck verknüpft verstanden werden kann. Der Kniefall ist als Zeichen der Demut, der Hingabe, der Niedergeworfenheit sozusagen handlungsinformativ, weil es eine Werdung, einen geschichtlichen Kontext des Kniefalls gibt, der die Handlung verstehbar macht.

Die Aktualisierung dieses Schemas (Kniefall) durch das Individuum geschieht in der Performanz seiner individuellen Handlung. Das Individuum drückt seinen Wunsch, sein Bedürfnis, seinen persönlichen Willen aus, indem er auf diesen Bedeutungskontext zurückgreift und es auf seine Zwecke hin anwendet - vielleicht mehr noch - der Zweck ist fest an das Handlungsschema gekoppelt. Erst durch es erhält die Handlung ihre individuelle Gerichtetheit.

Zunächst müsste ich wissen, ob ich auf dem richtigen Weg bin :), um dann diesen folgenden Gedanken anzuschliessen (den ich erst nach eurer Zustimmung weiterdenken sollte).

Eure Zustimmung vorausgesetzt :):
Wenn wir solche bedeutungsgeladenen Handlungsschemata besprechen, z.B. in der Form von Begrüssungsakten oder des beschriebenen Kniefalls, dann habe ich bedeutete Handlungen vor Augen, nicht einfach alltägliche, man möchte sagen, unbedeutende Handlungen, sondern wirkmächtige, symbolträchtige oder aber stark ritualisierte. Das Öffnen einer Autotüre nach dem Parkieren ist keine solche Handlung. Auch hier verfolgt die Handlung ein 'Um-zu', nämlich ein Aussteigen, aber ich erkenne kein Schema oder eine überindividuelle Handlung, daran sich der individuelle Zweck ermessen liesse. Wie fügen sich solche beiläufigen Handlungen in das Schema-Konzept ein?



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Mi 4. Okt 2017, 16:50

Alethos hat geschrieben : Wenn wir solche bedeutungsgeladenen Handlungsschemata besprechen, z.B. in der Form von Begrüssungsakten oder des beschriebenen Kniefalls, dann habe ich bedeutete Handlungen vor Augen, nicht einfach alltägliche, man möchte sagen, unbedeutende Handlungen, sondern wirkmächtige, symbolträchtige oder aber stark ritualisierte. Das Öffnen einer Autotüre nach dem Parkieren ist keine solche Handlung. Auch hier verfolgt die Handlung ein 'Um-zu', nämlich ein Aussteigen, aber ich erkenne kein Schema oder eine überindividuelle Handlung, daran sich der individuelle Zweck ermessen liesse. Wie fügen sich solche beiläufigen Handlungen in das Schema-Konzept ein?
Hm, ich bin etwas perplex, weil ich denke, daß es doch gerade diese Sorte von alltäglichen Handlungen ist, die wir gelernt haben schematisch zu vollziehen. Die Redewendung "nach Schema F handeln" faßt diesen Umstand sprachlich. Auf das von Dir genannte Beispiel angewendet, würde ich sagen, daß sich eine besondere individuelle Handlungsabsicht darin zeigen würde, wenn die handelnde Person nach dem Einparken nicht sofort die Autotür öffnet, sondern im Wagen sitzen bleibt. Wenn sie also vom dem kollektiv üblichen Handlungsschema abweicht. Verwirrt bin ich deswegen, weil ich mir auf einmal unsicher bin, ob ich hier nicht den Ausdruck von einem eingeübten Handlungs-Ablauf mit dem Begriff des Handlungs-Schemas verwechsle bzw. vermische. @Hermeneuticus, springst Du bitte ein?!

Unter einem Handlungsschema verstehe ich Grundlegenderes als unter einem Handlungsablauf. Abläufe würde ich als einen Aspekt der Schemata ansehen. Handlungsschemata beinhalten die Struktur dessen, was unter "Handlung" verstanden wird.




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Alethos
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Mi 4. Okt 2017, 19:03

Ja, und ich bin verwirrt, weil im Beispiel von Hermeneuticus doch eine gar nicht alltägliche Szene (Kniefall) genannt wird. Bei solchen Gesten erkenne ich ein Schema, denn, wie gesagt, die Geste hat eine Werdung. Auch der Begrüssungsakt ist ein ritualisierter Akt, bei dem ich ein Schema erkennen kann. Aber wenn wir allen alltäglichen Handlungen ein Schema F anhaften wollen, dann sehe ich keinen Raum für Individualität als eben nur im diesem Schema Zuwiderlaufen. Die Aktualisierung eines Schemas, die lediglich ein Schema F bestätigt, das empfinde ich als doch sehr beengend. Nicht schemenhaft, sondern roboterhaft :)



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Jörn Budesheim
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Mi 4. Okt 2017, 19:10

Da gerade neu erfundene Handlungen keiner Regel folgen können, gibt's mit dem Regel befolgen und den Handlung irgendwie ein Problem... meine ich - vorbehaltlich einer Klärung der Frage, was denn mit Regel eigentlich gemeint ist.




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Friederike
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So 8. Okt 2017, 12:04

Aus dem "Kaffeestübchen":
novon hat geschrieben : Im Wort wurzelt Kommunikation, im Begriff dagegen Handeln.
Diese knappe Anmerkung von Dir hat auf der Stelle meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. @novon, könntest, würdest Du ein erläuterndes Wörtchen dazu sagen?

Soweit ich Dich verstehe, meinst Du mit Kommunikation -verbales- "sprechen" und faßt "handeln" deswegen nicht unter Kommunikation, wie auch andersherum Du "sprechen" nicht unter "handeln" faßt. Dies nehme ich als Voraussetzung. Davon ausgehend stimme ich Deiner ersten Aussage zu. Was mich nun interessiert, weil ich es nämlich nicht verstehe bzw. ich grüble, was Du meinen könntest, inwiefern und warum das Handeln im Begriff wurzelt? Da wäre also einmal die Frage nach dem "Begriff" im Unterschied zum "Wort". Von Definition und "terminus technicus" sehe ich ab, weil Du Dich, so scheint es mir, nicht speziell auf Wissenschaft(en) jedweder Art beziehst, sondern hauptsächlich das Alltagsleben, und es Dir innerhalb dessen generell um die Unterscheidung von Kommunikation und Handeln geht.

Mir ist sofort die pragmatistische Einstellung in den Sinn gekommen, die allerdings, platt und reichlich simplifiziert formuliert, die Begriffsentstehung eher aus dem Handeln erklärt und insofern im Gegensatz zu Deiner Aussage steht. Obwohl es sich mir als Inkompatibel darstellt, bleibt es intuitiv eine vage Vermutung: "Wurzelt" im Pragmatismus Deine Überlegung? Das aber nur nebenbei.




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novon
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So 8. Okt 2017, 23:23

Friederike hat geschrieben :
So 8. Okt 2017, 12:04
Aus dem "Kaffeestübchen":
novon hat geschrieben : Im Wort wurzelt Kommunikation, im Begriff dagegen Handeln.
Diese knappe Anmerkung von Dir hat auf der Stelle meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. @novon, könntest, würdest Du ein erläuterndes Wörtchen dazu sagen?

Soweit ich Dich verstehe, meinst Du mit Kommunikation -verbales- "sprechen" und faßt "handeln" deswegen nicht unter Kommunikation, wie auch andersherum Du "sprechen" nicht unter "handeln" faßt. Dies nehme ich als Voraussetzung. Davon ausgehend stimme ich Deiner ersten Aussage zu. Was mich nun interessiert, weil ich es nämlich nicht verstehe bzw. ich grüble, was Du meinen könntest, inwiefern und warum das Handeln im Begriff wurzelt? Da wäre also einmal die Frage nach dem "Begriff" im Unterschied zum "Wort". Von Definition und "terminus technicus" sehe ich ab, weil Du Dich, so scheint es mir, nicht speziell auf Wissenschaft(en) jedweder Art beziehst, sondern hauptsächlich das Alltagsleben, und es Dir innerhalb dessen generell um die Unterscheidung von Kommunikation und Handeln geht.

Mir ist sofort die pragmatistische Einstellung in den Sinn gekommen, die allerdings, platt und reichlich simplifiziert formuliert, die Begriffsentstehung eher aus dem Handeln erklärt und insofern im Gegensatz zu Deiner Aussage steht. Obwohl es sich mir als Inkompatibel darstellt, bleibt es intuitiv eine vage Vermutung: "Wurzelt" im Pragmatismus Deine Überlegung? Das aber nur nebenbei.
Kommunikation bezeichnet den Austausch von Information. Handlungen stellen lediglich insoweit Kommunikation dar, dass sie als solche rezipiert werden. Handlungen, die von niemandem außer dem Handelnden wahrgenommen werden, fallen aus dem Schema Kommunikation immanent heraus. (Grob.)
Wesentlich wäre mir (hier) zunächst mal die Differenzierung von Wort und Begriff. Wörter bezeichnen, Begriffe begreifen.




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Alethos
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Di 10. Okt 2017, 22:23

Friederike hat geschrieben :
So 8. Okt 2017, 12:04
Aus dem "Kaffeestübchen":
novon hat geschrieben : Im Wort wurzelt Kommunikation, im Begriff dagegen Handeln.
Diese knappe Anmerkung von Dir hat auf der Stelle meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Auch meine.

Es liegt nahe zu sagen, dass ein Begriff begreift. Insofern lässt er sich als Handlung beschreiben. Der Begriff greift hinüber zum Gegenstand und greift ihn, begreift ihn.

Aber der Begriff zeigt auch eine Geschichte, eine Werdung sowie sein Eingebettetsein in der Welt. Der Begriff meint doch nie nur das Naheliegende, den Gegenstand, den er bezeichnet, er ist kein passives Etikett für ein singuläres Ding, das man ihm anheftet, um es wiederzuerkennen. Der Begriff meint immer auch seinen Kontext, seine Mitbegriffe, seine Negationen und Affirmationen. Begriffe wirken auf uns und wir auf sie. Begriffe sind so gesehen dynamisch. Mit Blick auf dieses Eingebettetsein von Begriffen in Begriffskontexte (Welt) zeigen sie doch auch eine Art von Tätigsein?



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novon
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Di 10. Okt 2017, 23:57

Alethos hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 22:23
Friederike hat geschrieben :
So 8. Okt 2017, 12:04
Aus dem "Kaffeestübchen":
novon hat geschrieben : Im Wort wurzelt Kommunikation, im Begriff dagegen Handeln.
Diese knappe Anmerkung von Dir hat auf der Stelle meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Auch meine.
Find ich gut... ;)
Alethos hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 22:23
Es liegt nahe zu sagen, dass ein Begriff begreift. Insofern lässt er sich als Handlung beschreiben. Der Begriff greift hinüber zum Gegenstand und greift ihn, begreift ihn.
Hmm... Kurz und knapp: Im Wort wird besagt, im Begriff vorbehaltlich Reales angeeignet. Wort entäußert, Begriff erfasst. (Nicht allerdings, das Wort nicht Begriffenes entäußern könnte.)
Alethos hat geschrieben :
Di 10. Okt 2017, 22:23
Aber der Begriff zeigt auch eine Geschichte, eine Werdung sowie sein Eingebettetsein in der Welt. Der Begriff meint doch nie nur das Naheliegende, den Gegenstand, den er bezeichnet, er ist kein passives Etikett für ein singuläres Ding, das man ihm anheftet, um es wiederzuerkennen. Der Begriff meint immer auch seinen Kontext, seine Mitbegriffe, seine Negationen und Affirmationen. Begriffe wirken auf uns und wir auf sie. Begriffe sind so gesehen dynamisch. Mit Blick auf dieses Eingebettetsein von Begriffen in Begriffskontexte (Welt) zeigen sie doch auch eine Art von Tätigsein?
Lass ich soweit mal unkommentiert... Worte bezeichnen, Begriffe erfassen.




Hermeneuticus
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Mi 25. Okt 2017, 13:20

Ich möchte noch einmal zurückkommen auf das Problem von "Innen und Außen", das vor allem @Alethos umtreibt:
Alethos hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2017, 20:45
Ich sehe, dass es Schemata gibt, die es erlauben, eine Handlung als solche zu erkennen. Aber welche Rückschlüsse sind möglich auf die Motiviertheit der Handlung?
Du scheinst eine Handlung als etwas zu verstehen, das grundsätzlich aus zweierlei zusammengesetzt ist: Da ist einerseits die "äußere", sinnlich wahrnehmbare Körperbewegung und andererseits die "innere", da sinnlich nicht wahrnehmbare Intention des Akteurs. Eine Handlung liegt nur vor, wenn beides zusammenkommt.

Wegen dieser Zusammengesetztheit von Handlungen kann es passieren, dass eine Person eine Körperbewegung macht, die aussieht wie die Aktualisierung eines bekannten Handlungsschemas S. Aber da die Person sich nicht nach einem bewussten Abwägungsprozess dazu entschieden hat, diese Bewegung zu vollziehen, und keine Vorstellung von ihrem Ziel hat, erfüllt die schematische Bewegung nicht das zweite, hinreichende Kriterium für eine intentionale Handlung. Es liegt also nur eine bedeutungslose Körperbewegung nach Schema S vor.

Diese Zusammensetzung der Handlung aus Körperlichem und Mentalem macht zugleich das Verstehen von Handlungen zu einem systematischem Problem: Da die mentalen Episoden der Akteure unseren Blicken entzogen sind, bleiben uns immer nur ihre äußeren Körperbewegungen als bloße Indizien für den wahren Sinn, die wahre Absichten, die "dahinter" stecken. Man könnte sogar zu der skeptizistischen Weltsicht gelangen, dass uns die Handlungen unserer Mitmenschen im Grunde rätselhaft blieben, dass wir sie nie restlos verstehen könnten, weil wir eben keinen Einblick in ihr Inneres hätten. Wir können zwar manchmal unsere Mitmenschen nach ihren Intentionen fragen - aber dürfen wir davon ausgehen, dass sie immer die Wahrheit sagen?


Mit diesem Handlungsmodell kann etwas nicht stimmen. Jedenfalls lässt sich schon einmal so viel sagen: Wenn es sich mit unseren Handlungen wirklich so verhielte, wie das Modell nahelegt, würde unser tägliches Zusammenleben nicht so funktionieren, wie es de facto funktioniert. Wir könnten niemals sicher sein, ob das, was wir unsere Mitmenschen tun sehen, wirklich intentionale Handlungen sind. Wir müssten uns vor jeder Reaktion auf ihr Tun erst umständlich vergewissern, ob es von Absicht begleitet war, und kämen damit an kein Ende.
Aber es lassen sich noch weitere Gründe anführen, die gegen dieses zusammengesetzte Handlungsmodell sprechen. Welche?




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Friederike
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Mi 25. Okt 2017, 15:34

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 13:20
Mit diesem Handlungsmodell kann etwas nicht stimmen. Jedenfalls lässt sich schon einmal so viel sagen: Wenn es sich mit unseren Handlungen wirklich so verhielte, wie das Modell nahelegt, würde unser tägliches Zusammenleben nicht so funktionieren, wie es de facto funktioniert. Wir könnten niemals sicher sein, ob das, was wir unsere Mitmenschen tun sehen, wirklich intentionale Handlungen sind. Wir müssten uns vor jeder Reaktion auf ihr Tun erst umständlich vergewissern, ob es von Absicht begleitet war, und kämen damit an kein Ende. Aber es lassen sich noch weitere Gründe anführen, die gegen dieses zusammengesetzte Handlungsmodell sprechen. Welche?
Ich hab' keine Lust selber zu denken. :lol: Aber was anderes. Ich stehe an der Supermarkt-Kasse an und die nächste Person, die an die Kasse tritt, stellt sich doch tatsächlich nicht hinter, sondern vor mich. Die Handlung wird als "vordrängeln" bezeichnet und das heißt, daß die Absicht der Person in jedem Fall darin besteht, vor mir an der Kasse abgefertigt zu werden. Was ist jetzt mit dem Motiv oder dem Beweggrund, den die Person für diese Handlung hat? Sie kennt mich und kann mich nicht leiden; ihr Parkschein ist in einer Minute abgelaufen; sie nimmt an einer experimentellen Studie teil usw.usf. Person X kauft ein Brötchen. Die Absicht besteht darin, ein Brötchen zu kaufen. Die Absicht kann von Hunger motiviert sein oder von der Bitte der Nachbarin, ihr ein Brötchen mitzubringen oder davon, daß Person X später ein Picknick machen will. Würdest Du sagen, daß Letzteres gar nicht mehr zu den Handlungen "Vordrängeln" und "Brötchen kaufen" gehört und deswegen an Deiner Argumentation gegen ein eher mentalistisch ausgerichtetes Konzept von "Handlung" vorbeiläuft?




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Alethos
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Mi 25. Okt 2017, 20:23

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 13:20
Alethos hat geschrieben :
Mo 2. Okt 2017, 20:45
Ich sehe, dass es Schemata gibt, die es erlauben, eine Handlung als solche zu erkennen. Aber welche Rückschlüsse sind möglich auf die Motiviertheit der Handlung?
Du scheinst eine Handlung als etwas zu verstehen, das grundsätzlich aus zweierlei zusammengesetzt ist: Da ist einerseits die "äußere", sinnlich wahrnehmbare Körperbewegung und andererseits die "innere", da sinnlich nicht wahrnehmbare Intention des Akteurs. Eine Handlung liegt nur vor, wenn beides zusammenkommt.
Ich gebe dir recht, dass ich zwei Ebenen unterscheide, die äussere, sichtbare des Handlungsvollzugs und die intentionale der Motiviertheit, die in den Beweggründen des Handelnden liegt. Aber ich sehe hier keine kumulative Bedingung, d.h. also nicht, dass man sowohl die Motive kennen als auch den Bewegungsvollzug verstehen müsse, damit wir die Handlung als solche deuten können. Zurecht sagst du, könne man nicht ins Innere des Handelnden sehen, um dort die Beweggründe zu befragen. Aber das brauchen wir ja auch nicht.

Ich denke es vielmehr so, dass der Handlungsvollzug über die Motiviertheit des Handelnden Auskunft gibt, und zwar als hinreichendes Indiz für die intentionale Ausrichtung der Handlung selbst. Wenn eine Person die Autotür öffnet, dann gehe ich davon aus, dass dieser Handlung eine Motivation zugrundeliegt, die in der Handlung vollkommen Ausdruck findet. Ich gebe zu, dass wir nicht auf eine bestimmte Motivation schliessen können, weil auch ein anderer Beweggrund zugrundeliegen kann. Aber es wäre doch unangebracht, die Handlung per se als reine Bewegung zu klassifizieren, die unwillkürlich geschieht. Es gibt gewisse Kriterien, anhand derer wir ja bemessen, was diese Person bezweckt, d.h. die Handlung gibt uns mehr oder weniger verlässliche Informationen über die Intentionalität mit: Wenn jemand stürzt, so gehen wir in der Regel davon aus, dass die Unkontrolliertheit des Bewegungsvorgangs resp. die Abruptheit verlässliche Anzeichen für einen unwillkürlichen Vorgang sind. Das würden wir nicht als Handlung betiteln. Das heisst, eine Handlung erkennen wir sehr wohl an einer gewissen Stringenz des Bewegungsvorgangs, auch an einer kontrollierten, seriellen Abfolge von Bewegungsabläufen, die eine Gerichtetheit der Handlung auf einen Zielzustand, Zielort hin erkennbar werden lassen. Das heisst, die innere Ebene wird an der Art und Weise des äusserlich sichtbaren Vollzugs bewertbar und beurteilbar.

Vor Gericht wird ja gleicherweise vorgegangen, dass dem Handelnden die Verantwortung für seine Handlung nicht deshalb zugeschrieben wird, weil er nur am Bewegungsablauf seiner Tat beteiligt war, sondern weil er aufgrund seiner kognitiven und motorischen Fähigkeiten in der Lage gewesen sein müsste, diese und keine andere Handlung zu vollziehen. Und auch da wird nicht immer eindeutig erkennbar sein, ob eine Handlung mit Vorsatz oder ohne resp. aus diesem Motiv oder aus einem anderen heraus geschehen ist. Es muss ausreichen, die Person danach zu bemessen, was sie getan hat und ob man von ihr hätte erwarten dürfen, auch anders zu handeln, d.h. es wird vorausgesetzt, dass die handelnde Person über ihre Handlungen die Kontrolle behalten kann oder man wenigstens hätte erwarten können, dass sie die Kontrolle behält. Erst dann wird eine Verantwortung juristisch feststellbar.
Ich denke, dass wir Zuschreibung von Verantwortung für eine Handlung nach definierbaren Kriterien sehr wohl vornehmen können, weil wir implizieren, dass zu handeln bedeutet, der Autor von Handlungen zu sein.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

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