Todesstrafe

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Stefanie
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Sa 12. Aug 2023, 21:58

Ich entschuldige mich schon mal, dass ich dieses Thema aufmache.
Aber dieser Artikel hat mich wirklich ziemlich erschüttert.

https://www.upday.com/de/47-jahre-in-de ... m=referral

47 Jahre Isolationshaft, in diesen 47 Jahren musste er immer damit rechnen, von jetzt auf gleich hingerichtet zu werden.
Und schlampige Ermittlungen.
Ich weiß gar nicht, wie ich das Verhalten des Staates nennen soll, mir fehlen da die Worte.
Japan ist wie die USA eine Demokratie und ein Rechtsstaat.

Wenn die Befürwortner*Innen der Todesstrafe schon nicht auf alle anderen sachliche Argumente eingehen, müssten sie doch das Argument akzeptieren, dass kein Rechtssystem unfehlbar ist und es auch mal einen Unschuldigen treffen kann. Ist nach meinem Kenntnisstand in den USA schon passiert.

Was ist das, warum viele die Todesstrafe befürworten?
Der Rachegedanke?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Stefanie
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Sa 12. Aug 2023, 22:53

Zwei kurze Artikel zu Philosophen und Todesstrafe

https://www.domradio.de/artikel/die-tod ... desstrafe).




2006_8_51.pdf
(49.44 KiB) 58-mal heruntergeladen



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Jörn Budesheim
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So 13. Aug 2023, 17:11

Habe ich mir runtergeladen und heute Nachmittag im Garten gelesen, ein guter und knapper geschichtlicher Überblick und ein - meines Erachtens überzeugendes - Plädoyer gegen die Todesstrafe. Das Kant und Hegel Befürworter der Todesstrafe waren hat mich überrascht.




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Stefanie
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So 13. Aug 2023, 17:39

Hier ist der fast gesamte Text von Camus gegen die Todesstrafe:

https://www.anarchismus.at/texte-anarch ... odesstrafe

Zeit online hat dazu einen Text, leider nicht frei verfügbar. https://www.zeit.de/1964/42/der-ruf-nach-dem-henker

Es ist die einzige, lange Stellungnahme eines Philosophen zu diesem Thema, die ich bislang gefunden habe.

Warum überzeugen die genannten Argumente die Befürwortner*Innen der Todesstrafe nicht?
Wieso ist der Rache und Vergeltung nicht beizukommen?



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Burkart
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So 13. Aug 2023, 22:58

Stefanie hat geschrieben :
So 13. Aug 2023, 17:39
Wieso ist der Rache und Vergeltung nicht beizukommen?
Warum muss es unbedingt Rache und Vergeltung sein, warum nicht z.B. Gefahrenabschätzung? Es könnte eine entsprechende Extremsituation geben...

Mag sein, dass dies eher theoretisch ist, aber immerhin nicht undenkbar:
Ich stelle mir einen Terroristen vor, der Menschen umgebracht hat und deshalb ins Gefängnis kommt. Dort verkündet er, dass er so bald wie möglich weitere Menschen umzubringen gedenkt, z.B. aus verquerter religiöser Anschauung.
Möge er (hier halt z.B. religiöse) Mitstreiter haben, die ihn aus dem Gefängnis herauspressen wollen, in dem sie sonst alle n Stunden einen beliebigen anderen Menschen töten wollen...
Bei so einem oder noch krasseren Szenarien kann man sich fragen, ob es nicht Extremsituationen gibt, die eine lebenslange Haftstrafe alleine nicht rechtzufertigen scheint.
Sicherlich ein schwieriges Thema...



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Jörn Budesheim
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Burkart hat geschrieben :
So 13. Aug 2023, 22:58
Es könnte eine entsprechende Extremsituation geben...
Beispiel dazu gibt es in dem verlinkten Text von Hans-Ludwig Schreiber, einem deutschen Juristen und Hochschullehrer:

"So kennt das Recht die Notwehr, die Rechtfertigung einer Tötung, die der Abwehr eines Angriffes dient. Es muss nicht einmal ein Angriff auf das Leben sein. In Grenzen notwehrfähig ist auch das Eigentum. Das Polizeirecht kennt den finalen Todesschuss, mit dem der Angreifer getötet werden darf."




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Quk
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Mo 14. Aug 2023, 13:05

Die Todesstrafe ist aber eine Strafe, keine Notwehr.

Wenn man vorbeugend Gefangene ermorden soll, um mutmaßlichen Angriffen vorzubeugen, dann sind wir wieder bei den Inkas und ihren Opfermorden.

Was Schreiber beschreibt, ist die Notwehr im Kampf, nicht die Ermordung von Gefesselten.

Warum wollen viele Leute die Todesstrafe? Aus Hass, Angst, Ekel. Da helfen keine rationalen Argumente, befürchte ich.




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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
So 13. Aug 2023, 17:39
Hier ist der fast gesamte Text von Camus gegen die Todesstrafe: https://www.anarchismus.at/texte-anarch ... odesstrafe
Camus' Text kritisiert die Todesstrafe als unwirksam, unmoralisch und rachsüchtig. Er argumentiert, dass die Todesstrafe kein abschreckendes Beispiel sei und die Natur des Menschen nicht ändern könne. Statistiken zeigen, dass die Todesstrafe nicht mit der Kriminalitätsrate korreliert. Vergeltung, die auf Rache basiert, sollte nicht im Gesetz verankert werden - eine Art Sein-Sollen-Fehlschluss. Die beiden folgenden Zitate fand ich besonders treffend.

"Die Vergeltung gehört in den Bereich der Natur und des Triebs, nicht in den des Gesetzes. Das Gesetz kann seinem Wesen nach nicht den gleichen Regeln gehorchen wie die Natur. Wenn der Mord in der Natur des Menschen liegt, ist das Gesetz nicht dazu da, diese Natur nachzuahmen. Es ist dazu da, sie zu bessern. Die Vergeltung aber beschränkt sich darauf, eine bloße Regung der Natur zu bestätigen und ihr Rechtskraft zu verleihen."

Die Hinrichtung ist grausam: "Im Allgemeinen wird der Mensch, lange bevor er stirbt, durch das Warten auf die Hinrichtung vernichtet. Ein doppelter Tod wird ihm auferlegt, und der erste ist schlimmer als der zweite; er aber hat nur einmal getötet. Mit diesem Hochgericht verglichen, wirkt selbst die Vergeltung wie ein zivilisiertes Gesetz."


Und es besteht immer die Gefahr, Unschuldige zu töten. Die Justiz sollte demütig sein und Fehler korrigieren können.




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Jörn Budesheim
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Mo 14. Aug 2023, 13:25

Quk hat geschrieben :
Mo 14. Aug 2023, 13:05
Die Todesstrafe ist aber eine Strafe, keine Notwehr.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Burkarts Text richtig verstanden habe, deswegen hab ich dieses Beispiel herausgesucht. Vielleicht kann er klären, was er gemeint hat.




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Quk
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Mo 14. Aug 2023, 13:34

Ich vermute, Burkart sieht in seinem Beispiel die Todesstrafe nicht als Strafe, sondern als die Ermordung eines nicht zum Tode verurteilten Gefangenen, weil durch diesen Mord vielleicht irgendein Angriff auf irgendetwas verhindert werden könnte.

"Tötet ihn, dann schauen wir, ob die ihren Angriff abblasen ..."

Welche Richterin sieht im Voraus, dass da irgendwann so eine Situation sein wird, um jetzt deshalb die "Todesstrafe" als Vorwand zu verhängen?
Oder anders herum, welche Richterin kommt an dem Tag, an dem ein Angriff droht, erneut zum Vorschein und wandelt deshalb die bisherige Strafe in eine vorgegaukelte "Todesstrafe" um?

Mir scheint, das passt alles nicht zusammen.




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Stefanie
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Mo 14. Aug 2023, 14:10

Die von Burkhart beschriebene Situation ist nie und nimmer eine Notwehrsituation. Auch dann, wenn vielleicht ein Angriff droht, bezieht sich das Notwehrrecht niemals auf den Menschen in dem Gefängnis. Er ist nicht der Angreifer.
Solche präventiven staatlichen Morde, in dem auch mal sicherheitshalber Angehörige gleich mit getötet werden, ist das Verhalten eines totalitären Herrschaftssystem und hat nichts mit einem demokratischen Rechtsstaat zu tun. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob das China auch macht, wobei denen wäre es zu zutrauen.

Ich befürchte auch, dass rationale Argumente irgendwie nicht weiterhelfen.

Aber was sagt das über einen Gesellschaft aus, die es sogar in Kauf nimmt, dass jemand hingerichtet wird, dessen Schuld nicht eindeutig ist, oder in denen sich nach Jahren in der Todeszellen herausstellt, er oder sie waren es nicht. Über 100 Menschen sind seit den 70 ziger Jahren in den USA hingerichtet worden und es stellte sich heraus, dass diese unschuldig waren.
Selbst dieser Umstand, dass die "Falschen" hingerichtet worden, scheint nichts zu ändern. Das muss doch bei Angehörigen der Opfer keine Befriedigung auslösen, wenn die "Falschen" hingerichtet wurden.



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Jörn Budesheim
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Mo 14. Aug 2023, 14:11

Ich habe den Beitrag von Herrn Burkart jetzt noch einmal gelesen, aber ich verstehe die Argumentation immer noch nicht. (Ich verstehe vage das Beispiel, aber nicht die Argumentation.)




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Stefanie
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Mo 14. Aug 2023, 14:24

Er beschreibt zwei Situationen:
Der im Haft sitzende Terrorist und Anführer von einer Organisation droht weitere Menschen zu töten.
Und zweitens soll der in haftsitzende Mensch von seiner Organisation herausgepresst werden, wenn ihr ihn nicht freilasst, töten wir Unschuldige.
Und in diesen Situation können man ja daran denken, den in haftsitzenden Menschen hinzurichten, als lebenslang hinter Gitter einzusperren, damit nicht für seine Freilassung Menschen getötet werden.

(Dass die Menschen doch getötet werden, wird übersehen, dann wird nämlich Vergeltung ausgeübt wegen der Tötung ihres Anführers. Passiert ja fast alle 5 Minuten in der Welt.)

Aber Burkart muss dazu was sagen.



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Jörn Budesheim
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Mo 14. Aug 2023, 14:41

Stefanie hat geschrieben :
Mo 14. Aug 2023, 14:24
Der im Haft sitzende Terrorist und Anführer von einer Organisation droht weitere Menschen zu töten.
Und zweitens soll der in haftsitzende Mensch von seiner Organisation herausgepresst werden, wenn ihr ihn nicht freilasst, töten wir Unschuldige.
Und in diesen Situation können man ja daran denken, den in haftsitzenden Menschen hinzurichten, als lebenslang hinter Gitter einzusperren, damit nicht für seine Freilassung Menschen getötet werden.
Ja, so ähnlich habe ich es auch verstanden. (Ich finde es ziemlich krass abwegig.) Was ich nicht sehe, ist das Argument, was das begründen soll. Und wie soll die Regel lauten?




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Stefanie
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Mo 14. Aug 2023, 14:49

Das angebliche "Argument" ist, es werden Menschenleben gerettet, die sonst getötet werden, wenn die Organisation zur Freipressung des Anführers Menschen tötet. Und wenn der Anführer tot ist, kann er ja auch nicht freigepresst werden.



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Burkart
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Mo 14. Aug 2023, 19:33

Mir ging es nur darum, dass es extreme rationale Gründe geben könnte, die eine Todesstrafe rechtfertigen könnte, die nicht auf Rache o.ä. beruhen; eine einfache Regel für solche Gründe mag nicht leicht zu finden sein.



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Stefanie
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Di 15. Aug 2023, 18:36

Vielleicht lassen sich die Befürwortner*Innen besser überzeugen, wenn man weiß, wie sie ticken.
Aus einem Interview mit einem deutschen Juristen, der u.a, im Strafrecht in den USA als Professor tätig ist.
https://www.fr.de/politik/todesstrafe-h ... 46554.html

In den USA ist es nach meiner Wahrnehmung vor allem die Vorstellung, dass jeder Mensch für alles, was er tut, selbst verantwortlich ist und dass er deshalb auch alle Konsequenzen zu tragen hat
...weil Sozialisation und Umweltprägung nicht zählen .
Genau. Jeder ist seines eigenen Glückes und Unglückes Schmied. Und wenn du ein Verbrechen begangen hast, auf das die Todesstrafe steht, dann bettle nicht um dein Leben, denn du hast es selbst verwirkt. Das hat starke Bezüge zur Straftheorie Immanuel Kants, der von den Befürwortern gern sinngemäß mit dem Satz zitiert wird: „Hat er gemordet, so muss er sterben.“

Und wie ist es in anderen Weltregionen?

In Asien, wo noch relativ viele Länder die Todesstrafe einsetzen, ist es wohl eher umgekehrt. Da ist das Menschenbild stärker patriarchal geprägt beziehungsweise auf das Verhältnis von Staat als Gemeinschaft und Täter bezogen. Vielleicht kann man es so ausdrücken: Weil du dich an der Gesellschaft vergangen hast, hast du dich selbst ausgeschlossen und verdienst den Tod; die Gesellschaft schuldet dir nichts mehr. Daran sieht man, dass es bei der Todesstrafe um völlig unterschiedliche Begründungsmuster geht – was schon viel aussagt, weil die sich eigentlich nicht miteinander vereinbaren lassen.

Ein Motiv ist Rache, das hat sich seit Jahrtausenden nicht verändert. Oder vielleicht nur insoweit, als es früher stärker um das Rachebedürfnis des Opfers oder der Angehörigen ging und heute eher um das vorgebliche Rachebedürfnis der Gesellschaft – was noch sehr viel schwerer zu begründen ist, als das individuelle Rachebedürfnis.

Woher kommt diese perverse Lust?

Man will sich vergewissern, dass man selbst Teil der Gesellschaft ist und zu den Aufrechten gehört. Das gelingt erfahrungsgemäß am besten, wenn man einzelne Gruppen aus der Gesellschaft ausgrenzt. Mit diesem Mechanismus arbeiten ja auch Diktaturen erfolgreich. Und wenn man als sogenannter „Redneck“ in den USA ganz unten angekommen ist, keinen Job und kein Geld hat, kann man immer noch sagen: Ich gehöre zur Gesellschaft und diese Menschen nicht.



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