Post- und Antihumanismus

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Do 21. Sep 2023, 14:17

Nick Nickless hat geschrieben :
Mi 20. Sep 2023, 10:35
Das ist Humanismus.
Im Zentrum des Humanismus steht für mich die Würde des Menschen. Die Würde und der Wert jedes Menschen werden anerkannt. Zum Kern des Humanismus gehören deshalb die Menschenrechte und damit die Freiheit jedes Einzelnen. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung. Die Verhältnisse müssen so gestaltet sein, dass jeder Mensch sein Leben selbstbestimmt führen kann.




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Stefanie
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Do 21. Sep 2023, 20:56

Das sehe ich genauso.

Mit diesem Humanismus
"Anders als dem TH ist dem Posthumanismus (PH) nicht mehr primär an "dem" Menschen gelegen, sondern er hinterfragt die tradierten, zumeist humanistischen Dichotomien wie etwa Frau/Mann, Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt, die zur Entstehung unseres gegenwärtigen Menschen- und Weltbilds maßgeblich beigetragen haben. Der PH möchte »den« Menschen überwinden, indem er mit konventionellen Kategorien und dem mit ihnen einhergehenden Denken bricht."

Kann ich noch was mit anfangen. Etwas zu hinterfragen, konventionelle Kategorien zu überdenken kein Problem. Nach meinem Eindruck passiert dies auch. Diversität, Verhältnis des Menschen zur Umwelt, Natur.
Das darf aber nicht dazu führen, dass das was Jörn geschrieben hat, vergessen wird.

Diese Variante
"Allerdings ist dem tPH nicht an einer Infragestellung tradierter Kategorien oder an einer Kritik des (humanistischen) Menschenbildes gelegen, sondern primär an der Erschaffung einer artifiziellen Alterität, die die menschliche Spezies ablösen und damit »den« Menschen überwinden soll. Auf dem Weg dorthin soll zwar auch der Mensch von den technologischen Errungenschaften profitieren, er werde modifiziert und so zu einer weitaus besseren Version seiner selbst - insbesondere durch die Verschmelzung mit sogenannten Nanobots, worauf später das Mind Uploading folgt, das »Hochladen« des menschlichen Geistes auf einen Computer (...). Jedoch stellen diese Entwicklungen, die von einigen Transhumanist*innen als Grund dafür angeführt werden, den tPH als dem transhumanistischen Paradigma zugehörig zu betrachten (...), eher automatische Schritte auf einem Weg dar, auf dem es nicht an erster Stelle um den Menschen, gar um einen Menschen x.0, geht, sondern vorrangig um die Kreation einer maschinellen »Superspezies« ..." In einer weiteren Stufe prognostizieren Techno-Utopisten wie Hans Moravec, Ray Kurzweil und andere die Verschmelzung von Mensch und Maschine: Cyborgs (cybernetic organisms) könnten die nächste Stufe der Evolution bilden und uns zu heute noch unvorstellbaren Gipfeln der Intelligenz und Lebenserwartung führen. Diese Utopien reichen bis hin zur phantastischen Vorstellung, den eigenen Geist in Form von reiner Information auf andere Substrate zu über73tragen (»mind transfer«, »mind uploading«)

Ist einfach gruselig. Wie in einem schlechten Sciene Fiktion Film. Es ist nicht die Lösung, zu versuchen, die Fehler der Menschen komplett auszumerzen. Das kann dazu führen, dass ein Lebewesen, dessen Schaltkreise einen Defekt haben, aussortiert werden. Das ist das Gegenteil von Humanismus und ein Rückschritt. Die Diktatur des Perfekten, furchbar. Ausserdem ist es Größenwahn.
Da nehme ich doch lieber die altersbedingten Zipperlein.
Und es existiert kein Gott und auch keine Engel.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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Fr 22. Sep 2023, 08:23

Stefanie hat geschrieben :
Do 21. Sep 2023, 20:56
Kann ich noch was mit anfangen. Etwas zu hinterfragen, konventionelle Kategorien zu überdenken kein Problem.
Die Kategorien, die da zur Disposition stehen, würde ich gar nicht mit dem Humanismus in Verbindung bringen. Eher würde ich sagen, der Umstand dass (solche) Dinge zur Disposition stehen können, ist ein Teil des Humanismus, weil er eben auch für Freiheit steht.




Nick Nickless
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So 24. Sep 2023, 11:26

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 21. Sep 2023, 14:17
Im Zentrum des Humanismus steht für mich die Würde des Menschen. Die Würde und der Wert jedes Menschen werden anerkannt. Zum Kern des Humanismus gehören deshalb die Menschenrechte und damit die Freiheit jedes Einzelnen. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung. Die Verhältnisse müssen so gestaltet sein, dass jeder Mensch sein Leben selbstbestimmt führen kann.
Jens, es bleibt dir ja völlig unbenommen, »Humanismus« zu nennen, was du willst; es liegt mir fern, um Worte streiten zu wollen. Man kann auch gerne einen engeren, klassischen von einem weiteren Begriff des Humanismus unterscheiden. Aber bei all dem sollten wesentliche Unterschiede, Veränderungen und Zusammenhänge, letztlich des Begriffs des Menschen, doch nicht einfach wegabstrahiert und so verschleiert werden; wenn denn der Humanismus ein Kind der Aufklärung ist.

Für den klassischen Humanismus, wie er in zahllosen, bereit ausgearbeiteten Dokumenten dargestellt ist, von Erasmus bis Th. Mann, von den Alten ganz zu schweigen, gibt es ohne sittlich-praktische Vernunft (worüber du dich völlig ausschweigst) weder Freiheit, noch Individualität, noch Würde, noch Wert, noch Recht des Menschen. Einfach mitten in die Hauptwerke greifen, z. B.:

»›Wo der sittliche Mut zu Entscheidungen und Unterscheidungen, wie der zwischen Betrug und Wirklichkeit, sich zersetzt, da ist es mit dem Leben überhaupt, dem Urteile, dem Werte, der bessernden Tat zu Ende, und der Verwesungsprozess moralischer Skepsis beginnt sein schauerliches Werk.‹ Der Mensch sei das Maß der Dinge, sagte er (Settembrini, der Humanist) noch. Sein Recht, über Gut und Böse, Wahrheit und Lügenschein erkennend (!) zu befinden sei unveräußerlich, und wehe dem, der ihn im Glauben an dieses schöpferische Recht zu beirren sich unterfange! Es sei ihm besser, einen Mühlstein um den Hals, im tiefsten Brunnen ertränkt zu werden.« (Zauberberg)

Ohne vernünftige Erkenntnis und sittliche Unterscheidung gibt es keine Humanität, da geht es mit allem zu Ende; wo solches als bloßes Vorurteil verpönt wird, da gibt es nur Bestialität, Barbarei, Tyrannei, Krieg, Tod und Verwesung. Wenn man die Vernunft (womit nicht die technischen Klugheitsregeln gemeint sind!) verpönt und aus dem sozialen Leben verbannen will, dann tritt man die Wurzel aller Humanität mit Füßen, eben das, worin die Menschen sich selbst und untereinander verständigen können, die Wurzel aller Sprache, Staatlichkeit, Kunst und Kultur. Punkt. So steht es geschrieben, überall.

Dagegen der moderne Pseudo- oder Anti-Humanismus, der Gabrielismus, wie immer man das nennen mag, will ungerührt, ohne den mindesten Zusammenhang zu sehen, in höchsten Tönen von Freiheit, Wert, Würde und Menschenrecht reden, während er gleichzeitig die sittliche Unterscheidung hasst wie der Teufel das Weihwasser, als Vergehen gegen die menschliche Freiheit, gegen die Humanität. Humanität = Freiheit, - OHNE DIE SITTLICHE UNTERSCHEIDUNG, also die Freiheit des Bösen und der Lüge im obigen Sinne.

Dass diese Dinge überhaupt in Vokabeln wie Post- und Transhumanismus populär reflektiert werden, liegt eben daran, dass wir uns im Übergang zum Zeitalter des Vitalismus befinden. Dieser verzichtet dann ganz auf jede Art von Vernunftauszeichnung irgendeines Wesens, auf jede Art von Universalität, sowohl auf die moralisch-praktisch-bestimmte Vernunft wie auch auf die abstrakt-unbestimmte, inhaltsfeindliche des Globalismus. (Du bist also durchaus auf dem richtigen Weg, Jens, nur ein Punkt stört noch.) Hier kennt man dann nur noch das Leben und den jedem Lebendigen eigenen Willen zur Selbsterhaltung und -steigerung, dessen Kampf ums Dasein sich in rivalisierenden Individuen und Arten vollzieht; wobei eine Art davon eben die stärkste und mächtigste ist, deren Abgrenzung schwankend ist und nicht mit der des bisherigen »Menschen« zusammenfallen muss. Das animal rationale legt also auch noch den formell-universalistischen Schein der ratio, die ihm zum pain in the ass geworden ist, ab. Und auch der Vitalismus, als dritte Variante, als echter Transhumanismus, wird sich ebenso den wahren, sogar den echt konservativen »Humanismus« nennen, da man ja ganz unbedingt an den Wert, die Würde und das Recht dieser höchsten Art, ihrer Steigerung, an den »Triumph des (nein, nicht des göttlichen oder sittlichen) Willens« glaubt; die Power, an der der Einzelne im Rahmen der Art teilhat, wird man seine »Freiheit«, und die Winkelzüge von deren Selbsterhaltung/-steigerung wird man »Vernunft« und »Ordnung«, und alles ihr Entgegenstehende »Inhumanität« nennen; nicht viel anders als heute auch. Und schon bald wird niemand mehr auf die Idee kommen, dass in grauer Vorzeit einmal mit diesen Worten etwas durchaus anderes gemeint war, geschweige denn dem eine Träne nachweinen. Denn wo die Vernunft, das Vernehmen des Göttlichen, keinen Wert mehr hat, da hört und sieht auch keiner mehr genau hin (und deswegen bemerkt den »Gang Gottes auf Erden« auch keiner mehr).

Danach hat dann der *-Humanismus fertig.

Das ist Humanismus. Wenn es denn nicht bloß um Wünsch-dir-was geht.




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Jörn Budesheim
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So 24. Sep 2023, 12:16

Vielen Dank für die ausführliche Antwort. Zuerst ein paar Kleinigkeiten, bevor ich später ggf. etwas ausführlicher auf den Text eingehe.

Mein Name ist nicht Jens, sondern Jörn.

Ich hatte nicht vor, einen gelehrten Text über den Humanismus zu schreiben, etwa indem ich zwischen dem Humanismus der griechischen und römischen Antike, dem Renaissance-Humanismus, dem von der Aufklärung begleiteten Neuhumanismus und dem Humanismus der Moderne unterscheide. Mein Ziel war es, wie ich den Text auch gekennzeichnet habe, ein persönliches Statement abzugeben, in dem ich in knappen Worten darlegen wollte, was ich selbst für den Kern halte.

Den Begriff der Vernunft, der in der ersten Fassung des Textes noch enthalten war, habe ich wieder gestrichen, da er meines Erachtens im Begriff der Freiheit des Menschen enthalten ist und mir für diesen Text Kürze und Verständlichkeit wichtiger waren als Detailanalysen.

Die Ethik ist nicht weggelassen, im Gegenteil, der Text handelt fast ausschließlich davon.

Mich würde interessieren, was Du Dir unter einem (Markus?) Gabrielismus im Zusammenhang mit dem Thema hier vorstellst.




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Stefanie
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So 24. Sep 2023, 16:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 22. Sep 2023, 08:23
Stefanie hat geschrieben :
Do 21. Sep 2023, 20:56
Kann ich noch was mit anfangen. Etwas zu hinterfragen, konventionelle Kategorien zu überdenken kein Problem.
Die Kategorien, die da zur Disposition stehen, würde ich gar nicht mit dem Humanismus in Verbindung bringen. Eher würde ich sagen, der Umstand dass (solche) Dinge zur Disposition stehen können, ist ein Teil des Humanismus, weil er eben auch für Freiheit steht.
Mir geht es darum, dass unsere Vorstellungen von Humanismus viele Jahrhunderte nur für die weißen Europäer galten. Für die Indigenen Völker in Afrika im Zeitalter des Imperialismus galt das ja nicht. Nur als Beispiel.
Der Inhalt des zweiten Satzes gefällt mir.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Mo 25. Sep 2023, 13:30

Hallo Nick Nickless,

ich habe mal versucht, deinen Text zu paraphrasieren, um zu sehen, ob ich dich richtig verstanden habe:
  • Im klassischen Humanismus ist deiner Meinung nach die moralische und praktische Vernunft entscheidend. Ohne sie gibt es keine Freiheit, keine Individualität, keine Würde, keinen Wert und keine Rechte für den Menschen. Wenn wir die Vernunft vernachlässigen und aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen, gefährden wir die Grundlagen der Humanität. Das bedeutet für dich, dass unsere Gesellschaft ohne vernünftiges Denken und moralische Einsicht in Bestialität, Barbarei, Tyrannei, Krieg und Tod abgleiten könnte.

    Im Gegensatz dazu steht für dich der moderne Pseudohumanismus, den du auch Gabrielismus nennst. Dieser Pseudohumanismus betont Freiheit, Wert, Würde und Menschenrechte, vernachlässigt aber gleichzeitig unsere moralische Unterscheidungsfähigkeit, was für dich problematisch ist.

    Der Übergang zum Zeitalter des Vitalismus (auf das wir deiner Meinung nach zusteuern) bedeutet eine Abkehr von der traditionellen Vernunftorientierung. Hier stehen das Leben und der Wille zur Selbsterhaltung im Mittelpunkt. Es geht nicht mehr um die abstrakte Vernunft, sondern um den natürlichen Lebenswillen.

    Wenn die Vernunft an Wert verliert, schenken die Menschen ihr weniger Aufmerksamkeit. Damit geht auch die Bedeutung von "Gottes Gang auf Erden", wie du es nennst, verloren.
Erstaunlich finde ich folgendes: Zuerst bemängelst du nur, dass ich die Vernunft nicht erwähne, wenig später liest es sich schon so, als wollte ich die Universalität der Vernunft leugnen. Nichts könnte mir ferner liegen, und ich glaube nicht, dass mein Text so gelesen werden kann. Ich bin wie Du der Meinung, dass Moral und Vernunft für den Humanismus von großer Bedeutung sind. Wie könnte ich sonst von Freiheit und Menschenrechten sprechen? In diesem Punkt stimme ich nämlich nicht mit dir überein. Wer von Freiheit, Wert, Würde und Menschenrechten spricht, spricht gleichzeitig von Vernunft und Moral. Wenn ich deinen Text richtig verstanden habe, pochst du selbst auf diesen Zusammenhang: Im klassischen Humanismus ist deiner Meinung nach die moralische und praktische Vernunft entscheidend. Ohne sie gibt es keine Freiheit, keine Individualität, keine Würde, keinen Wert und keine Rechte für den Menschen.




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