Generalverdacht

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Quk
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Mi 7. Feb 2024, 11:31

Ich schließe mein Fahrrad ab, damit es niemand klaut. Ist das ein Generalverdacht gegen die Dorfbevölkerung?

Die Kassiererin lehnt sich über das Warentransportband und schaut in den Einkaufswagen der Kundin hinunter, ob sie etwas schmuggelt. Ist das ein Generalverdacht gegen alle Supermarktkunden?

Am Konzerteingang schaut die Security in die Taschen der Fans. Generalverdacht gegen das Publikum?

Am Flughafen werden die Passagiere durchleuchtet. Generalverdacht gegen alle Fluggäste?


Es sieht so aus, als wäre Generalverdacht an sich nicht verwerflich. Grausig wird er erst, wenn er selektiv gegen einen bestimmten Teil der anwesenen Menschen geht, etwa gegen Schwarze, oder Weiße, oder Alte, oder Junge, oder Frauen, oder Männer etc.

Manchmal aber wird der Begriff des Generalverdachts auch als Universalargument verwendet in Angelegenheiten, in denen selbiger Verdacht sich gegen eine bunte Mischung richtet. Beispiel "Vorratsdatenspeicherung". Wenn man gegen sie argumentieren will, sollte man da nicht besser auf den Begriff des Generalverdachts verzichten und eine andere Argumentation ausarbeiten? -- Mich würde hier jetzt nicht das Pro und Contra der Vorratsdatenspeicherung im speziellen interessieren -- das sei nur ein Beispiel --, sondern das Pro und Contra der Generalverdachts-Argumentation im allgemeinen.




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Stefanie
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Do 8. Feb 2024, 22:03

Die genannten Beispiele waren für mich keine Fälle eines Generalverdachts. Ich hatte immer nur die grausigen Fälle im Kopf.

Zum nicht verwerflichen Generalverdacht

Pro:
Verhinderung von Gewalttaten
Befriedigung des Sicherheitsbedürfnis
Verringerung von finanziellen Schäden wie beim Ladendiebstahl.

Contra:
Beeinträchtigung einiger Freiheiten
Grosser Aufwand, auch finanziell, der irgendwie auf Preise umgelegt wird
Falscher Aufwand, als ob das in den Einkaufswagen gucken einen Ladendieb abhält



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Burkart
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Do 8. Feb 2024, 22:34

Ein Verdacht ist für mich eine konkrete Befürchtung hinsichtlich einer oder mehrerer Personen; es stehen doch nicht z.B. pauschal alle Käufer unter Verdacht, etwas nicht bezahlen zu wollen.
Obige Beispiele sind eher Sicherheitsmaßnahmen zum Verhindern von etwas oder auch zur Abschreckung, damit etwas nicht getan wird.
Insofern ist das für mich kein (General-)Verdacht - aber vielleicht versteht ihr den Begriff ja anders.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Quk
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Fr 9. Feb 2024, 09:54

Burkart hat geschrieben :
Do 8. Feb 2024, 22:34
... es stehen doch nicht z.B. pauschal alle Käufer unter Verdacht, etwas nicht bezahlen zu wollen.
Wenn jeder Mensch an der Kasse kontrolliert wird, dann ist auch jeder Kontrollierte verdächtig, würde ich sagen. Sonst müsste man nicht jeden kontrollieren.

(Ich habe nichts gegen diese Kontrolle.)

Anderes Beispiel:
Ich schließe meine Wohnungstür ab. Als Vorbeugung gegen wen? Das kann man prinzipiell wohl auch einen Generalverdacht nennen. Allerdings richtet sich der hier tatsächlich nicht gegen bekannte Menschen, denen ich vertraue. Sondern nur gegen Unbekannte. Hier kann man zwar sagen, das richte sich nicht gegen alle Menschen. Aber es richtet sich gegen alle Unbekannten. Somit bleibt das Wort "alle" im Spiel. Die nette Nachbarin weiß, dass ich nicht sie in Verdacht habe.

Das Wissen darum, dass man selber nicht wirklich verdächtigt wird, scheint die Angelegenheit zu entspannen. Wenn ich irgendwo als anyonyme Person kontrolliert werde, habe ich ein gemischtes Gefühl aus Verdächtigtwerden und Einsicht in die Notwendigkeit, welche nicht persönlich gemeint ist. Kurz gesagt: Es geht wohl um ein psychisches Phänomen. Das wiederum variiert sicherlich mit der Intensität der Kontrolle. Wenn ich an der Kasse meine Hosentaschen leeren müsste, käme das Gefühl der Erniedrigung hinzu.




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Jörn Budesheim
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Fr 9. Feb 2024, 10:08

Ich sehe es so: Wenn alle kontrolliert werden, gibt es keinen Generalverdacht, wenn nur eine bestimmte Gruppe kontrolliert wird, gibt es einen Generalverdacht, nämlich gegen Mitglieder dieser Gruppe. Wenn nur Menschen mit schwarzen Haaren kontrolliert werden und alle anderen nicht, dann gibt es einen Generalverdacht gegen Menschen mit schwarzen Haaren. Ansonsten ist es einfach eine allgemeine Maßnahme.




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Stefanie
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Fr 9. Feb 2024, 11:24

Ich war bei dem Beispiel mit der Taschenkontrolle bei Konzerten kurz bei einem Generalverdacht. Die Gruppe der Konzertbesucher von Rock/Pop etc. Konzerten in Hallen und Festivals ist ja abgrenzbar. Ich habe etwas recherchiert und festgestellt, dass mittlerweile auch Schauspielhäuser und Opernhäuser dazu übergehen, Taschenkontrollen vorzunehmen. Es trifft also alle Menschen, die Musik live erleben wollen.

Es ist doch so, dass Sicherheitsmaßnahmen immer dann eingeführt oder verstärkt werden, wenn einige wenige Menschen Situationen zu kriminellen Zwecken ausnutzen. Wegen diesen Wenigen müssen dann alle Anderen diese Maßnahmen über sich ergehen lassen.

Die Sicherheitskontrollen in Gerichten nach dem Amoklauf am AG Euskirchen. Was mich persönlich mehr als nur nervt, denn Gerichte sollten nicht zu Festungen gemacht werden und weil Rechtsanwält*innen nicht durch die Kontrollen müssen. Als Organ der Rechtspflege wird man wohl nicht zum Attentäter, so die Logik. Hier wird schon differenziert, so dass schon so ein Generalverdacht gegen Besucher*innen von Gerichten vorhanden ist. Meinen Unmut gegen diese Kontrollen mache ich übrigens je nach meiner Laune und vor allem nach der Laune des dort eingesetzten Personal auch mal deutlich. Mal witzig und einmal auch deutlich verärgert.

Hinsichtlich des wirklichen Generalverdachts bzgl. bestimmter Gruppen gibt es keine einzigen sachlichen Grund für irgendwelchen Maßnahmen. Das beruht alles nur auf Vorurteilen



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Quk
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Fr 9. Feb 2024, 11:45

Guter Punkt bezüglich "unverdächtiges Hauspersonal".

Vor einigen Jahren gab es diesen Amokfall eines deutschen Copiloten (kein Islamist, kein RAF, kein Nazi). Der hatte zwar keine Bombe dabei; er benutzte stattdessen den Airbus, den er steuerte, als Bombe, sozusagen. Der Mann war wohl ein Narzist, wie vermutlich die meisten Selbstmordattentäter. Wegen seiner Augenprobleme hatte man ihm mitgeteilt, dass er demnächst seine Pilotenlizenz verlieren würde. Daraufhin wollte er sich umbringen, mitsamt den Passagieren, denn wenn er nicht darf, sollen andere auch nicht dürfen. Als der Kapitän auf dem Klo war, verschloss dieser Copilot die Cockpittür und steuerte den Airbus in einen spanischen Berg. Jedenfalls, zeigt das wieder, dass auch das "hauseigene" Personal aus potenziell gefährlichen Menschen bestehen kann. Tatsächlich werden am Flughafen auch die Piloten und Flugbegleiter gescannt. Da ist man wohl schon konsequenter als in Gerichtshäusern. Leider hilft das nicht, wenn für das potenzielle Verbrechen keine speziellen Gegenstände benötigt werden. Aber meistens werden sie wohl benötigt.




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Jörn Budesheim
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Fr 9. Feb 2024, 12:50

Wenn ich mein Fahrrad abschließe, dann wegen eines Generalverdachts gegen alle Fahrraddiebe, aber nicht meine Nachbarn, die ganze Stadt oder was auch immer :)




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Quk
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Fr 9. Feb 2024, 13:26

Klingt plausibel :-)

Ist das auch "nur" auslegbare Rhetorik oder Deine echte, wahre Vorstellung der Lage?

Das meine ich nicht ironisch: Die chinesische Führung, die ihre Bürger auf der Straße permanent scannt, kann dieses Argument auch verwenden. "Liebe Bürger auf den Straßen. Hier spricht die Führung. Wir verdächtigen nur die Führungsgegner unter euch." -- Hm, ja, klingt plausibel. Ohne Ironie.




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Jörn Budesheim
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Fr 9. Feb 2024, 14:03

Dort wird ja jeder gescannt, das ist ein ganz anderer Vorgang. Wenn ich aus Angst vor Fahrraddieben mein Fahrrad abschließe, mache ich ja nichts dergleichen.




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Quk
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Fr 9. Feb 2024, 14:37

Die Gemeinsamkeit dieser Vorgänge liegt nicht darin, dass beide einen Verdacht voraussetzen? (In diesem Faden steht die Verdachtsfrage im Vordergrund.)




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Jörn Budesheim
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Es ist ein Unterschied, ob ich mein Fahrrad wegen der Fahrraddiebe abschließe oder ob ich mein Fahrrad abschließe und anfange, alle Leute in meiner Umgebung auszuspionieren, weil sie Fahrraddiebe sein könnten.




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Quk
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Fr 9. Feb 2024, 15:16

Zugestimmt.

Dieser Unterschied beruht wohl auf der Intensität der Schutzvorkehrung. (Ich wollte ursprünglich herausfinden, ob es prinzipielle Unterschiede gibt.)

Ich bin auch inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass die Grausigkeit des Verdachthegens (nicht nur des Generalverdachthegens) eine skalierbare Größe ist, und die geht eben analog einher mit der Intensität der Schutzvorkehrung. Die optimale Lösung liegt also nicht in einem optimalen Grundprinzip, sondern in einem Skalierungswert irgendwo in der optimalen Mitte passend für die jeweilige Aufgabe. Wenn die Schutzvorkehrung zu groß ist, wird es lächerlich für den Schützer oder erniedrigend für den Verdächtigten. Die Skalierung verläuft vielleicht etwa so:

0 - Endloses Vertrauen
1 - Lokale Hinweisschilder
2 - Lokale Warnschilder
3 - Selbstverteidigende Abrieglung
4 - Lokale Bewachung
5 - Lokale Bewaffnung
6 - Überregionale Bewachung temporär
7 - Überregionale Bewachung permanent
8 - Überregionale Bewaffnung
9 - Präventiver Angriff

Oder so ähnlich.

Fahrradabschließen wäre Stufe 3, Supermarktkasse Stufe 4, Flughafen Stufe 5, Vorratsdatenspeicherung Stufe 6, China Stufe 7, ...




Timberlake
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Fr 9. Feb 2024, 15:41

Quk hat geschrieben :
Fr 9. Feb 2024, 15:16


Ich bin auch inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass die Grausigkeit des Verdachthegens (nicht nur des Generalverdachthegens) eine skalierbare Größe ist, und die geht eben analog einher mit der Intensität der Schutzvorkehrung.


.. oder "digital" mit trainierten Daten ...

taz.de hat geschrieben :
Programmierter Rassismus

In KI-Systemen schlummern immer noch rassistische Vorurteile. Der Grund: Auch künstliche Intelligenz wird von Menschen gemacht.

Wer in Großbritannien ein Visum beantragt, dessen Daten wurden bis vor Kurzem von einem Algorithmus gescreent. Die Software weist jedem Antragsteller, der für einen Studien- oder touristischen Aufenthalt in das Land einreisen will, ein grünes, gelbes oder rotes Risiko-Rating zu. Das automatisierte Verfahren wurde vom zuständigen Home Office Anfang August ausgesetzt.

Der Grund: Der Algorithmus war rassistisch. Die Behörde soll eine geheime Liste mit „verdächtigen Nationalitäten“ geführt haben, die automatisch ein rotes Risiko-Rating erhielten. Von einem „speedy boarding for white people“, einem Schnellverfahren für weiße Leute, sprach hinterher die Bürgerrechtsorganisation Foxglove. Während Weiße vom algorithmischen Grenzer durchgewinkt wurden, mussten sich Schwarze offenbar noch einer Sicherheitskontrolle unterziehen. Eine brutale Selektion.
Es ist nicht das erste Mal, dass Algorithmen Schwarze Menschen diskriminieren. So hat Googles Foto-App 2015 einen Afroamerikaner und seine Freundin als „Gorillas“ getaggt. Als wären Menschen Affen.Algorithmen haben nach wie vor Probleme damit, Gesichter von Afroamerikanern zu erkennen – die Fehlerrate ist bis zu zehn Mal höher als bei Weißen, wie zahlreiche Studien belegen.
Das wäre in etwa so , als würde sich die besagte Kassiererin bevorzugt bei schwarzen Supermarktkunden über das Warentransportband lehnen und in deren Einkaufswage hinunter schauen , um sich davon zu überzeugen , ob sie etwas geschmuggel haben und wo wir schon mal beim "bevorzugen" sind ..


tagesschau.de hat geschrieben :
Warum KI nicht frei von Vorurteilen ist

Wird eine KI mit historischen Daten trainiert, dann übernimmt die KI die Vorurteile, die in den historischen Daten stecken. Etwa ein Algorithmus, der über Bewerbungen entscheiden soll, würde mit Daten trainiert werden, welche Bewerbungen in der Vergangenheit erfolgreich waren. So würde er lernen, was dem Unternehmen wichtig ist. Doch fast in jeder Branche wurden in der Vergangenheit Männer bevorzugt. Für die KI wären Männer dann per se die besseren Bewerber. Migrantinnen und Migranten, die benachteiligt wurden, wären die "schlechteren" Bewerber und würden weiter benachteiligt.

Wenn eine Gesichtserkennungssoftware zum Beispiel nur am Entwicklerteam getestet wird und dieses nur aus weißen Männern besteht, dann gibt es keine Garantie, dass die Software auch bei Frauen oder dunkelhäutigen Personen funktioniert. Um zum Beispiel eine Gesichtserkennungs-KI zu trainieren, werden ihr Tausende oder Zehntausende Bilder von Gesichtern gezeigt. Daran lernt sie, welche Merkmale ein Gesicht ausmachen. Solche Datensätze können gekauft werden. .. Das Problem daran ist, dass die Datensätze in der Regel auch zu wenig divers sind. Weiße Männer sind oft massiv überrepräsentiert. So lernt die KI auch wieder diese Gesichter am besten zu erkennen.




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Quk
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Fr 9. Feb 2024, 18:14

Ja, dieses Problem mit der KI ist mir bekannt.




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