Das Böse

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Sa 10. Feb 2024, 11:19

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Die Banalität des Bösen
Entwurf eines Buchumschlags für Hannah Arendt




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Quk
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Sa 10. Feb 2024, 12:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 08:45
Frei nach dem Lehrbuch, was ich oben schon erwähnt habe: Das Übel in seinen drei Formen:
  1. Malum physicum (Naturübel).
    Leiden und Unvollkommenheiten, die nicht auf den freien Willen des Menschen zurückzuführen sind. (Krankheiten, Naturkatastrophen, Tod)
  2. Malum morale (sittliches Übel)
    Bewusstes und willentliches Zufügen von Schaden. (Mord, Diebstahl, Lüge)
  3. Malum metaphysicum (metaphysisches Übel)
    Allgemeine Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen. (Sterblichkeit, Leidensfähigkeit, Endlichkeit)
Ich vermute, dass wir uns hier im Wesentlichen auf Punkt 2 beziehen werden, vielleicht gibt es Überschneidungen und Zusammenhänge mit den anderen Punkten.
Überschneidungen und Zusammenhänge mit den anderen Punkten gibt es durchaus, denke ich.

Meine Ansichten über den "freien Willen" muss ich jetzt nicht reformulieren; die sind bekannt, aber ich darf gemäß der Eingangsmoderation die Existenz des Bösen als Tatsache auffassen und ich darf die Überschneidungen und Zusammenhänge dieser drei Lehrbuchkategorien nach meinem Ermessen erläutern:

Diese einzelne Eigenschaft "böse" aufzuteilen in multiple Subgruppen kann interessant sein. Tiefere Erkenntnis, so vermute ich, schöpft sich dann aber nicht durch diese Aufteilung an sich; nur die Zahl der Teile wird dabei größer. Man erkennt zwar die Vielfalt des Bösen, aber die zusätzliche Erkenntis über das Böse per se ist dabei zunächst eben nur diese: Das Böse ist vielgestaltig. Wenn ich hingegen die Zusammenhänge zwischen diesen dankenswerterweise bereits aufgeschriebenen Subgruppen untersuche, meine ich, ein größeres, vielleicht sogar ganzes Bild des Bösen zu sehen. Nämlich:

Das Böse ist keine Kategorie, sondern eine skalierbare Größe. Hier im Forum in der anderen Diskussion zum Thema "Verdacht" habe ich geschrieben, dass ein Verdacht schlechte bis extrem schlechte Gefühle im Gegenüber auslösen kann, also sehr böse werden kann. Das Böse ist also eine skalierbare Größe, und die Skalierung geht analog einher mit der Größe des Mittels, also mit der Härte des Faustschlags, mit der Übertreibung der Schutzvorkehrung, mit der Giftigkeit des Kommentars, mit der Opferzahl beim Tsunami, mit der Heftigkeit der Schimpfwörter, mit der Tiefe der Fallgrube und so weiter.

In Clockwork Orange ist schön zu sehen, wo das Böse anwesend ist: Es entfaltet sich auch auf der vermeintlich "guten" Seite. Das Böse ist mal klein, mal groß. Es variiert seine Intensität.

Daher behaupte ich, jedes Lebewesen ist böse. Das ist zunächst ein undifferenzierter Satz. Die Differenzierung kommt mit der variablen Intensität des Bösen ins Spiel.

Präziser: Ich behaupte, jedes Lebewesen ist ein Akteur im Zusammenleben mit anderen; und die Oberfläche der Erde und ihre Lebensresourcen sind begrenzt, und da ein Lebewesen sterben würde, wenn es mit anderen Lebensformen nicht wechselwirkte, müssen die Lebewesen miteinander kooperieren. Da die Vielfalt des Lebens unermesslich ist, und deshalb beim Kooperieren unzählige Interessen des jeweils anderen unabsichtlich oder egoistischerweise missachtet werden, kommt es zwangsläufig zu dem Umstand, dass kein Lebewesen sozusagen "frei von Sünde ist", oder anders gesagt: "Kein Lebewesen ist stets unböse."

Auf Grund dieser These möchte ich weiterhin folgendes festellen: Es gibt kein Schwarz-Weiß. Lebewesen tun beides: Sie kooperieren und lieben sich zum Teil -- das ist ihr gemeinsamer Nenner --, teilweise fügen sie dem anderen kleinen bis großen Schaden zu -- das ist das variable Böse. Mit dieser Verhältnismäßigkeit verknüpft ist die sogenannte "Moral": Die Moral enthält einen gemeinsamen Nenner, sie bekommt aber auch individuelle Erweiterungen gemäß den Interessen individueller Lebewesen, welche die Interessen des jeweils anderen unabsichtlich oder egoistischerweise missachten und entsprechend ihre individuelle Moral jenseits des gemeinsamen Nenners erweitern und sich damit jederzeit rechtfertigen können. Die Moral, das Böse, das Gute, sind somit keine vollkommenen Kategorien, sondern sie enthalten eine signifikante Portion an Flexibilität. Daher bin ich immer skeptisch, wenn jemand eine Aktion "moralisch" rechtfertigen will, um sich selbst vom Bösen weg ins reine Gute zu rücken.

Ich vermute, reines gutes Handeln im Leben ist nur dann möglich, wenn das handelnde Wesen und seine Genossen sich selbst als das einzig Wichtige auf der Welt betrachten. Beispiel: Zwei Menschen liegen auf der Wiese und küssen sich liebevoll. Ist das gut? Ich denke, das ist nur dann eine gute Handlung, wenn man die kleineren Lebensformen im niedergepressten Gras ausblendet. Die zwei Menschen meinen vielleicht, sie tun gutes, aber sie sind nicht autark; sie atmen, stinken, bewegen, tönen, quetschen ständig irgendetwas. Dabei töten oder beschädigen sie andere Lebensformen. Nun mag man entgegnen, das sei bekannt und Moral beschäftige sich nur mit "menschlichen" Sachverhalten, nicht mit Pflanzen, Bakterien, Spinnen, Insekten. Aber genau das ist die böse Ignoranz, von der ich gerade spreche.

Wenn der Mensch sich für etwas hält, das "über der Natur steht", beginnt da schon seine Boshaftigkeit. Diese ist nie gleich null. Sie ist variabel, beginnend oberhalb der Null.

Die Trennung zwischen Malum physicum (Naturübel) und Malum morale (sittliches Übel) im zitierten Lehrbuch offenbart diese Boshaftigkeit in jener Annahme, der Mensch sei etwas höheres, über Flora und Fauna stehendes.

Beim Malum metaphysicum (metaphysisches Übel) will das Lehrbuch den Menschen sogar aus dem anscheinend "bösen" Großen Ganzen entziehen. Das sagt viel über die Psyche der Lehrbuchautoren aus. Ich, beispielsweise, fühle mich da nicht angesprochen. In diesem sogenannten metaphysischen "Übel" fühle ich mich geborgen; ich will nicht ewig leben und ich will keine Allmacht haben. Auch wenn ich mit dieser Haltung alleine dastehe, so ist mein Einzelfall eine hinreichende Falsifikation dieses dritten Lehrbuchpunktes. Der Punkt ist also keine Kategorie, sondern ein Beispielpunkt entlang einer skalierbaren Größe.

Fast alles ist relativ.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Feb 2024, 12:58

Quk hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 12:02
die Psyche der Lehrbuchautoren
Diese Aufteilung gab es in der Sache und in den Begriffen natürlich schon lange vor dem Verfasser des Buches. Er gibt natürlich auch einen historischen Abriss in dem Buch.




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Jörn Budesheim
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Böse sein kann nur der Mensch (zumindest auf diesem Planeten).




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Quk
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Sa 10. Feb 2024, 13:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 13:36
Böse sein kann nur der Mensch.
A. Malum physicum (Naturübel).
B. Malum morale (sittliches Übel)
C. Malum metaphysicum (metaphysisches Übel)

Kann es also nur B geben? Frage an Dich.

Ich bin bei diesem Dreierlei sowieso raus, denn ich sage: Das Böse ist ein Phänomen im Geist des Menschen. Ohne Geist gibt es nichts Böses. Die Natur und die Metaphysik an sich können nicht böse sein, sondern sie können nur so bezeichnet werden -- vom Menschen.
Zuletzt geändert von Quk am Sa 10. Feb 2024, 13:52, insgesamt 1-mal geändert.




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Quk
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Sa 10. Feb 2024, 13:50

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 12:58
Quk hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 12:02
die Psyche der Lehrbuchautoren
Diese Aufteilung gab es in der Sache und in den Begriffen natürlich schon lange vor dem Verfasser des Buches. Er gibt natürlich auch einen historischen Abriss in dem Buch.
Dann eben die Psyche all derjenigen Autoren, welche diese Aufteilung erfanden und unterstützen.




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Jörn Budesheim
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Sa 10. Feb 2024, 14:00

Mich interessiert das Böse. Der Mensch ist das einzige Tier auf der Welt, das böse sein kann. Was ist das Böse? Was sagen die Philosophen, was die Religionen, was die Kunst über das Böse? Ist es Ausdruck unserer Freiheit? Oder etwas anderes? Diese und ähnliche Fragen möchte ich hier diskutieren. Ich würde mich freuen, wenn du das akzeptieren würdest, weil mich das Thema sehr interessiert.




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Quk
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Sa 10. Feb 2024, 14:18

Ich akzeptiere das.

Und ich hoffe, Du akzeptierst es, dass ich auf Deine Vermutungen bezüglich der "Überschneidungen und Zusammenhänge" konkret eingegangen bin.

Wenn Du darauf eine nur Deiner Vorstellung entsprechende kritikfreie Bejahung lesen möchtest, wäre es schön gewesen, wenn Du das vorweg hättest kenntlich gemacht, oder jene "Überschneidungen und Zusammenhänge" erst gar nicht in den Diskussionsraum gestellt hättest. So hätte ich mir jetzt nicht eine Stunde lang Mühe machen brauchen.

Es wird langsam eng hier.




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AufDerSonne
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Sa 10. Feb 2024, 14:26

Lucian Wing hat geschrieben :
Fr 9. Feb 2024, 23:19
Gibt's was auf der Welt, was nicht irgendwie auf dich bezogen ist?
Ich gebe zu, dass mein Geplauder nicht immer sehr spannend ist, aber offenbar bringt es manchmal die anderen zu interessanten Gedanken.

Deine Frage ist sehr spannend. Natürlich ist immer alles auf mich (dich) bezogen. Ich bin es ja, der über etwas nachdenkt und sich dessen bewusst ist.
Aber ein wenig möchte meine Position noch verteidigen. Wenn wir darüber reden, was andere über das Böse gedacht habe, dann bleiben das Gedanken von anderen. Und nicht eigene.

Auch wäre es interessant zu wissen, wo wir aktuell das Böse zu suchen haben. Also heutzutage.



Ohne Gehirn kein Geist!

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Jörn Budesheim
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Sa 10. Feb 2024, 14:31

Der Faden ist geschlossen.

Diese beiden Fäden schließen an den geschlossenen Faden an:

Das Böse als dreierlei Malum: M. physicum, M. morale, M. metaphysicum
Das Böse ll




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