Das Böse als dreierlei Malum: M. physicum, M. morale, M. metaphysicum

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Quk
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Sa 10. Feb 2024, 14:54

Aus einem Lehrbuch freundlicherweise frei wiedergegeben von Jörn Budesheim:
Das Übel in seinen drei Formen:

1. Malum physicum (Naturübel)
Leiden und Unvollkommenheiten, die nicht auf den freien Willen des Menschen zurückzuführen sind. (Krankheiten, Naturkatastrophen, Tod)

2. Malum morale (sittliches Übel)
Bewusstes und willentliches Zufügen von Schaden. (Mord, Diebstahl, Lüge)

3. Malum metaphysicum (metaphysisches Übel)
Allgemeine Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen. (Sterblichkeit, Leidensfähigkeit, Endlichkeit)
Diese einzelne Eigenschaft "böse" aufzuteilen in multiple Subgruppen kann interessant sein. Tiefere Erkenntnis, so vermute ich, schöpft sich dann aber nicht durch diese Aufteilung an sich; nur die Zahl der Teile wird dabei größer. Man erkennt zwar die Vielfalt des Bösen, aber die zusätzliche Erkenntis über das Böse per se ist dabei zunächst eben nur diese: Das Böse ist vielgestaltig. Wenn ich hingegen die Zusammenhänge zwischen diesen dankenswerterweise bereits aufgeschriebenen Subgruppen untersuche, meine ich, ein größeres, vielleicht sogar ganzes Bild des Bösen zu sehen. Nämlich:

Das Böse ist keine Kategorie, sondern eine skalierbare Größe. Hier im Forum in der anderen Diskussion zum Thema "Verdacht" habe ich geschrieben, dass ein Verdacht schlechte bis extrem schlechte Gefühle im Gegenüber auslösen kann, also sehr böse werden kann. Das Böse ist also eine skalierbare Größe, und die Skalierung geht analog einher mit der Größe des Mittels, also mit der Härte des Faustschlags, mit der Übertreibung der Schutzvorkehrung, mit der Giftigkeit des Kommentars, mit der Opferzahl beim Tsunami, mit der Heftigkeit der Schimpfwörter, mit der Tiefe der Fallgrube und so weiter.

In Clockwork Orange ist schön zu sehen, wo das Böse anwesend ist: Es entfaltet sich auch auf der vermeintlich "guten" Seite. Das Böse ist mal klein, mal groß. Es variiert seine Intensität.

Daher behaupte ich, jedes Lebewesen ist böse. Das ist zunächst ein undifferenzierter Satz. Die Differenzierung kommt mit der variablen Intensität des Bösen ins Spiel.

Präziser: Ich behaupte, jedes Lebewesen ist ein Akteur im Zusammenleben mit anderen; und die Oberfläche der Erde und ihre Lebensresourcen sind begrenzt, und da ein Lebewesen sterben würde, wenn es mit anderen Lebensformen nicht wechselwirkte, müssen die Lebewesen miteinander kooperieren. Da die Vielfalt des Lebens unermesslich ist, und deshalb beim Kooperieren unzählige Interessen des jeweils anderen unabsichtlich oder egoistischerweise missachtet werden, kommt es zwangsläufig zu dem Umstand, dass kein Lebewesen sozusagen "frei von Sünde ist", oder anders gesagt: "Kein Lebewesen ist stets unböse."

Auf Grund dieser These möchte ich weiterhin folgendes festellen: Es gibt kein Schwarz-Weiß. Lebewesen tun beides: Sie kooperieren und lieben sich zum Teil -- das ist ihr gemeinsamer Nenner --, teilweise fügen sie dem anderen kleinen bis großen Schaden zu -- das ist das variable Böse. Mit dieser Verhältnismäßigkeit verknüpft ist die sogenannte "Moral": Die Moral enthält einen gemeinsamen Nenner, sie bekommt aber auch individuelle Erweiterungen gemäß den Interessen individueller Lebewesen, welche die Interessen des jeweils anderen unabsichtlich oder egoistischerweise missachten und entsprechend ihre individuelle Moral jenseits des gemeinsamen Nenners erweitern und sich damit jederzeit rechtfertigen können. Die Moral, das Böse, das Gute, sind somit keine vollkommenen Kategorien, sondern sie enthalten eine signifikante Portion an Flexibilität. Daher bin ich immer skeptisch, wenn jemand eine Aktion "moralisch" rechtfertigen will, um sich selbst vom Bösen weg ins reine Gute zu rücken.

Ich vermute, reines gutes Handeln im Leben ist nur dann möglich, wenn das handelnde Wesen und seine Genossen sich selbst als das einzig Wichtige auf der Welt betrachten. Beispiel: Zwei Menschen liegen auf der Wiese und küssen sich liebevoll. Ist das gut? Ich denke, das ist nur dann eine gute Handlung, wenn man die kleineren Lebensformen im niedergepressten Gras ausblendet. Die zwei Menschen meinen vielleicht, sie tun gutes, aber sie sind nicht autark; sie atmen, stinken, bewegen, tönen, quetschen ständig irgendetwas. Dabei töten oder beschädigen sie andere Lebensformen. Nun mag man entgegnen, das sei bekannt und Moral beschäftige sich nur mit "menschlichen" Sachverhalten, nicht mit Pflanzen, Bakterien, Spinnen, Insekten. Aber genau das ist die böse Ignoranz, von der ich gerade spreche.

Wenn der Mensch sich für etwas hält, das "über der Natur steht", beginnt da schon seine Boshaftigkeit. Diese ist nie gleich null. Sie ist variabel, beginnend oberhalb der Null.

Die Trennung zwischen Malum physicum (Naturübel) und Malum morale (sittliches Übel) im zitierten Lehrbuch offenbart diese Boshaftigkeit in jener Annahme, der Mensch sei etwas höheres, über Flora und Fauna stehendes.

Beim Malum metaphysicum (metaphysisches Übel) will das Lehrbuch den Menschen sogar aus dem anscheinend "bösen" Großen Ganzen entziehen. Das sagt viel über die Psyche der Lehrbuchautoren aus. Ich, beispielsweise, fühle mich da nicht angesprochen. In diesem sogenannten metaphysischen "Übel" fühle ich mich geborgen; ich will nicht ewig leben und ich will keine Allmacht haben. Auch wenn ich mit dieser Haltung alleine dastehe, so ist mein Einzelfall eine hinreichende Falsifikation dieses dritten Lehrbuchpunktes. Der Punkt ist also keine Kategorie, sondern ein Beispielpunkt entlang einer skalierbaren Größe.

Fast alles ist relativ.


[Dieser Aufsatz hatte ursprünglich seinen Kontext in einem anderen Faden. Dieser wurde jedoch aus bisher unbekannten Gründen geschlossen. Nun wollte ich diesen Aufsatz nicht umsonst erarbeitet haben, und stelle ihn deshalb hier in einem neuen Faden zur offenen kritischen Diskussion, sofern die Forenregeln dies erlauben.]




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Quk
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So 11. Feb 2024, 10:23

Folgendes Zitat, zu dem sich mir Fragen auftun, habe ich aus dem Quellen-Sammelfaden "Das Böse ll" entnommen (soweit ich selbigen Faden verstehe, soll dort nur gesammelt, nicht diskutiert werden).
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 16:13
Eine erstaunliche Quelle des Bösen in allen Schattierungen bieten die religiösen Texte, hier nur ein Beispiel:

Die Geschichte der Sintflut in Gen 7 erzählt eine weitere Urgeschichte des Bösen. Es wird dort nicht nur eine intersubjektive Dimension des Bösen sichtbar, sondern zugleich auch eine die Spezies betreffende, insofern die Menschheit in ihrer Gesamtheit als böse erscheint. Gott sieht, »dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar« (Gen 7,5) und »das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens […] böse von Jugend auf« (Gen 8, 21). Er beschließt daher, alles Leben auf der Erde zu vernichten – das »Ende allen Fleisches« (Gen 7,13).

Nur Noah, seine Familie und von allen Tiergattungen jeweils ein Paar überleben in der Arche die von Gott hervorgerufene Sintflut, während alles Leben auf der Erde ertrinkt. Hier zeigt sich ein Bezug zur Geschichte des Sündenfalls, wo das Böse in der Welt ebenfalls mit der Sterblichkeit des Menschen in ein enges Verhältnis gesetzt wird. Gott schließt danach einen Bund mit Noah und allem Leben und verspricht, keine weitere Sintflut über die Menschen ergehen zu lassen, wofür der Regenbogen ein Symbol ist.


(Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung)
Wenn Jörg Noller und Gott mir antworten könnten, würde ich, als Logiker, ihnen meine folgenden nichtrhetorischen Lernfragen stellen:

An Herrn Noller:

1. Wenn die "intersubjektive Dimension des Bösen" (Nöller) in der Menschheit inneliegt, wozu dient die Unterscheidung zwischen dieser Sache und jener Spezies-Sache? Befindet sich das Böse auch im bloßen menschlichen Spezies-Sein an sich? Wie sieht das aus? Worin unterscheidet sich das von der "intersubjektiven Dimension des Bösen"?

An Gott:

2. Wenn unter allen Tierarten nur der Mensch böse sei, warum vernichtet Gott so viele unschuldige Tiere?

3. Da Gott Unschuldige vernichtet, ist Gott böse?

4. Wenn Gott böse ist und angeblich nach seinem Ebenbild den Menschen schuf, muss der Mensch nicht zwangsläufig ebenso böse sein wie Gott?

5. Gott pauschaliert die Menschheit, gibt aber dem einzelnen Noah eine Chance; warum gibt Gott nicht allen Menschen eine Chance?

Ich hätte noch weitere Fragen, möchte aber zunächst die obigen abhandeln.




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Jörn Budesheim
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So 11. Feb 2024, 11:25

Quk hat geschrieben :
Mi 7. Feb 2024, 15:06
Der Mensch ist trotz seines ach so großen Ich-Bewusstseins ein irrender Selbstzerstörer.

"Menschheit, du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu." -- Charles Bukowski.
Die Geschichte der Sintflut in Gen 7 erzählt eine weitere Urgeschichte des Bösen. Es wird dort nicht nur eine intersubjektive Dimension des Bösen sichtbar, sondern zugleich auch eine die Spezies betreffende, insofern die Menschheit in ihrer Gesamtheit als böse erscheint. (Jörg Noller, Theorien des Bösen zur Einführung)

Noller listet an dieser Stelle der Einführung einige paradigmatische Geschichten des Bösen auf, die sich in den religiösen Texten finden. Er gibt nicht nur dieses eine Beispiel, sondern eine ganze Reihe, die jeweils den Fokus auf etwas anderes legen. In diesem Fall geht es um die Menschheit, die von Anfang an nicht das Zeug dazu hatte.




Burkart
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So 11. Feb 2024, 11:28

Bei den drei:

1. Malum physicum (Naturübel)
Leiden und Unvollkommenheiten, die nicht auf den freien Willen des Menschen zurückzuführen sind. (Krankheiten, Naturkatastrophen, Tod)

2. Malum morale (sittliches Übel)
Bewusstes und willentliches Zufügen von Schaden. (Mord, Diebstahl, Lüge)

3. Malum metaphysicum (metaphysisches Übel)
Allgemeine Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen. (Sterblichkeit, Leidensfähigkeit, Endlichkeit)

...halte ich "Übel" für das bessere Wort gegenüber "Böse".
Zu 1.: So ist halt die Natur.
Zu 3.: So ist eben Natur und Sein.
Nur zu 2. passt für mich "Böse", wenn man auch da z.T. relativieren sollte, wenn es um "Sebstverteidigung" geht im Kampf gegen die Interessen Anderer - ähnlich wie bei anderen höheren Tieren auch.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Timberlake
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So 11. Feb 2024, 22:55

Quk hat geschrieben :
Sa 10. Feb 2024, 14:54


Ich vermute, reines gutes Handeln im Leben ist nur dann möglich, wenn das handelnde Wesen und seine Genossen sich selbst als das einzig Wichtige auf der Welt betrachten. Beispiel: Zwei Menschen liegen auf der Wiese und küssen sich liebevoll. Ist das gut? Ich denke, das ist nur dann eine gute Handlung, wenn man die kleineren Lebensformen im niedergepressten Gras ausblendet. Die zwei Menschen meinen vielleicht, sie tun gutes, aber sie sind nicht autark; sie atmen, stinken, bewegen, tönen, quetschen ständig irgendetwas. Dabei töten oder beschädigen sie andere Lebensformen. Nun mag man entgegnen, das sei bekannt und Moral beschäftige sich nur mit "menschlichen" Sachverhalten, nicht mit Pflanzen, Bakterien, Spinnen, Insekten. Aber genau das ist die böse Ignoranz, von der ich gerade spreche.

.. anderes Beispiel, "menschlichen" Sachverhalten betreffend : Eltern schenken ihren Kindern liebevoll Schokolade ...

zdf.de hat geschrieben :
Ausbeuterische Kinderarbeit im Kakaogeschäft

Einer Studie des NORC-Instituts der Universität Chicago zufolge schuften fast 1,6 Millionen Kinder in Kakaoplantagen,
inkota.de hat geschrieben :
Einkaufspraktiken der Kakao- und Schokoladenindustrie

Von einer Tafel Schokolade, die in Deutschland verkauft wird, verbleiben 65 % der Gewinne entlang der Lieferkette beim Lebensmitteleinzelhandel und 23 % bei den Schokoladenunternehmen. Der Rest verteilt sich auf die Vermahlung und den Transport. Die Kakaobäuerinnen und -bauern machen jedoch überhaupt keine Gewinne und können größtenteils nicht einmal die Kosten für Lebensunterhalt und Produktion decken.

Eine Studie von Oxfam hat darüber hinaus ergeben, dass die Nettoeinkommen der Kakaobauern und -bäuerinnen in Ghana zwischen den Erntesaisons 2019/2020 und 2021/2022 um über 16 Prozent sanken. Im gleichen Zeitraum haben die vier größten börsennotierten Schokoladenkonzerne der Welt, Hershey, Lindt, Mondelēz und Nestlé, zusammen fast 15 Milliarden Dollar Gewinn allein mit ihren Süßwarensparten gemacht. Das ist ein Plus von durchschnittlich 16 Prozent.


Wo hier schon mal von drei Formen des Übels die Rede ist. ..
Das Übel in seinen drei Formen:

1. Malum physicum (Naturübel)
Leiden und Unvollkommenheiten, die nicht auf den freien Willen des Menschen zurückzuführen sind. (Krankheiten, Naturkatastrophen, Tod)

2. Malum morale (sittliches Übel)
Bewusstes und willentliches Zufügen von Schaden. (Mord, Diebstahl, Lüge)

3. Malum metaphysicum (metaphysisches Übel)
Allgemeine Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen. (Sterblichkeit, Leidensfähigkeit, Endlichkeit)
Ich denke mal b) und zwar bewusstes und willentliches Zufügen von Schaden können wir wohl tatsächlich schon mal bei den Eltern ausschließen. In etwa so wie beim Schaden , den die zwei Menschen auf der Wiese , bei den kleineren Lebensformen im niedergepressten Gras zufügen.




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