Diese einzelne Eigenschaft "böse" aufzuteilen in multiple Subgruppen kann interessant sein. Tiefere Erkenntnis, so vermute ich, schöpft sich dann aber nicht durch diese Aufteilung an sich; nur die Zahl der Teile wird dabei größer. Man erkennt zwar die Vielfalt des Bösen, aber die zusätzliche Erkenntis über das Böse per se ist dabei zunächst eben nur diese: Das Böse ist vielgestaltig. Wenn ich hingegen die Zusammenhänge zwischen diesen dankenswerterweise bereits aufgeschriebenen Subgruppen untersuche, meine ich, ein größeres, vielleicht sogar ganzes Bild des Bösen zu sehen. Nämlich:Das Übel in seinen drei Formen:
1. Malum physicum (Naturübel)
Leiden und Unvollkommenheiten, die nicht auf den freien Willen des Menschen zurückzuführen sind. (Krankheiten, Naturkatastrophen, Tod)
2. Malum morale (sittliches Übel)
Bewusstes und willentliches Zufügen von Schaden. (Mord, Diebstahl, Lüge)
3. Malum metaphysicum (metaphysisches Übel)
Allgemeine Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen. (Sterblichkeit, Leidensfähigkeit, Endlichkeit)
Das Böse ist keine Kategorie, sondern eine skalierbare Größe. Hier im Forum in der anderen Diskussion zum Thema "Verdacht" habe ich geschrieben, dass ein Verdacht schlechte bis extrem schlechte Gefühle im Gegenüber auslösen kann, also sehr böse werden kann. Das Böse ist also eine skalierbare Größe, und die Skalierung geht analog einher mit der Größe des Mittels, also mit der Härte des Faustschlags, mit der Übertreibung der Schutzvorkehrung, mit der Giftigkeit des Kommentars, mit der Opferzahl beim Tsunami, mit der Heftigkeit der Schimpfwörter, mit der Tiefe der Fallgrube und so weiter.
In Clockwork Orange ist schön zu sehen, wo das Böse anwesend ist: Es entfaltet sich auch auf der vermeintlich "guten" Seite. Das Böse ist mal klein, mal groß. Es variiert seine Intensität.
Daher behaupte ich, jedes Lebewesen ist böse. Das ist zunächst ein undifferenzierter Satz. Die Differenzierung kommt mit der variablen Intensität des Bösen ins Spiel.
Präziser: Ich behaupte, jedes Lebewesen ist ein Akteur im Zusammenleben mit anderen; und die Oberfläche der Erde und ihre Lebensresourcen sind begrenzt, und da ein Lebewesen sterben würde, wenn es mit anderen Lebensformen nicht wechselwirkte, müssen die Lebewesen miteinander kooperieren. Da die Vielfalt des Lebens unermesslich ist, und deshalb beim Kooperieren unzählige Interessen des jeweils anderen unabsichtlich oder egoistischerweise missachtet werden, kommt es zwangsläufig zu dem Umstand, dass kein Lebewesen sozusagen "frei von Sünde ist", oder anders gesagt: "Kein Lebewesen ist stets unböse."
Auf Grund dieser These möchte ich weiterhin folgendes festellen: Es gibt kein Schwarz-Weiß. Lebewesen tun beides: Sie kooperieren und lieben sich zum Teil -- das ist ihr gemeinsamer Nenner --, teilweise fügen sie dem anderen kleinen bis großen Schaden zu -- das ist das variable Böse. Mit dieser Verhältnismäßigkeit verknüpft ist die sogenannte "Moral": Die Moral enthält einen gemeinsamen Nenner, sie bekommt aber auch individuelle Erweiterungen gemäß den Interessen individueller Lebewesen, welche die Interessen des jeweils anderen unabsichtlich oder egoistischerweise missachten und entsprechend ihre individuelle Moral jenseits des gemeinsamen Nenners erweitern und sich damit jederzeit rechtfertigen können. Die Moral, das Böse, das Gute, sind somit keine vollkommenen Kategorien, sondern sie enthalten eine signifikante Portion an Flexibilität. Daher bin ich immer skeptisch, wenn jemand eine Aktion "moralisch" rechtfertigen will, um sich selbst vom Bösen weg ins reine Gute zu rücken.
Ich vermute, reines gutes Handeln im Leben ist nur dann möglich, wenn das handelnde Wesen und seine Genossen sich selbst als das einzig Wichtige auf der Welt betrachten. Beispiel: Zwei Menschen liegen auf der Wiese und küssen sich liebevoll. Ist das gut? Ich denke, das ist nur dann eine gute Handlung, wenn man die kleineren Lebensformen im niedergepressten Gras ausblendet. Die zwei Menschen meinen vielleicht, sie tun gutes, aber sie sind nicht autark; sie atmen, stinken, bewegen, tönen, quetschen ständig irgendetwas. Dabei töten oder beschädigen sie andere Lebensformen. Nun mag man entgegnen, das sei bekannt und Moral beschäftige sich nur mit "menschlichen" Sachverhalten, nicht mit Pflanzen, Bakterien, Spinnen, Insekten. Aber genau das ist die böse Ignoranz, von der ich gerade spreche.
Wenn der Mensch sich für etwas hält, das "über der Natur steht", beginnt da schon seine Boshaftigkeit. Diese ist nie gleich null. Sie ist variabel, beginnend oberhalb der Null.
Die Trennung zwischen Malum physicum (Naturübel) und Malum morale (sittliches Übel) im zitierten Lehrbuch offenbart diese Boshaftigkeit in jener Annahme, der Mensch sei etwas höheres, über Flora und Fauna stehendes.
Beim Malum metaphysicum (metaphysisches Übel) will das Lehrbuch den Menschen sogar aus dem anscheinend "bösen" Großen Ganzen entziehen. Das sagt viel über die Psyche der Lehrbuchautoren aus. Ich, beispielsweise, fühle mich da nicht angesprochen. In diesem sogenannten metaphysischen "Übel" fühle ich mich geborgen; ich will nicht ewig leben und ich will keine Allmacht haben. Auch wenn ich mit dieser Haltung alleine dastehe, so ist mein Einzelfall eine hinreichende Falsifikation dieses dritten Lehrbuchpunktes. Der Punkt ist also keine Kategorie, sondern ein Beispielpunkt entlang einer skalierbaren Größe.
Fast alles ist relativ.
[Dieser Aufsatz hatte ursprünglich seinen Kontext in einem anderen Faden. Dieser wurde jedoch aus bisher unbekannten Gründen geschlossen. Nun wollte ich diesen Aufsatz nicht umsonst erarbeitet haben, und stelle ihn deshalb hier in einem neuen Faden zur offenen kritischen Diskussion, sofern die Forenregeln dies erlauben.]