Der Rechtsbegriff "Menschenwürde": Eine Kritik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Tarvoc
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Do 5. Okt 2017, 22:30

In einem anderen Thread hatte Stefanie folgende Erläuterung der Bundeszentrale für politische Bildung zum Begriff "Menschenwürde" zitiert. Ich mache hier einen neuen Thread dazu auf, weil ich glaube, dass die Diskussion dort Off-Topic wäre.
Stefanie hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 21:26
Mal auf die Schnelle (geklaut von der Bundeszentrale für politische Bildung):
Menschenwürde ist der unverlierbare, geistig-sittliche Wert eines jeden Menschen um seiner selbst willen.
Die Menschenwürde kommt allen Menschen gleicherweise zu. Die Würde des Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern Anerkenntnis.
Die Würde eines Menschen zu schützen heißt ihn als Person mit bestimmten Eigenschaften, Fähigkeiten und Verletzlichkeiten zu achten.
Ich hatte darauf mit einer Kritik dieser Darlegung geantwortet:
Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:06
Bundeszentrale für politische Bildung hat geschrieben : Die Würde des Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern Anerkenntnis.
Was genau wird denn da anerkannt? Die grundlegenden menschliche Bedürfnisse? Das kann es nicht sein, denn sonst würde daraus zum Beispiel auch die Pflicht erwachsen, alle Menschen ausreichend zu ernähren, und zwar nicht nur alle in Deutschland lebenden, sondern zumindest im Rahmen unserer materiellen Möglichkeiten alle - eine Pflicht, die die Bundesrepublik weder rechtlich noch praktisch anerkennt. Also wenn es nicht allgemeine, grundlegende menschliche Bedürfnisse sind, was wird da eigentlich anerkannt? Eben einfach nur "die Würde selbst"? Das wäre eine petitio principii. Das ist genau das Problem bei bürgerlichen Rechtsformen generell: Da, wo sie allgemein werden, erkennen sie "den Menschen" nur als Abstraktion an und nicht als wirklich lebendes Individuum. Wenn sie es doch täten, müssten wir nämlich unsere ganze Wirtschaftsweise von einer profitorientierten auf eine bedürfnisorientierte umstellen. Aber das will niemand, weil Sozialismus bekanntlich ganz doll böse ist.
Dabei ist klarzustellen, dass es mir bei dieser Kritik natürlich nicht darum geht, die Menschenwürde abzuschaffen. Ich hatte das selbst schon klargestellt:
Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:21
Im Übrigen habe ich überhaupt nichts dagegen, den Menschen qua Mensch Würde zuzusprechen. In der Praxis halte ich das natürlich auch so. [...] Warum ich den gegenwärtigen Rechtsbegriff "Menschenwürde" für nicht unproblematisch halte, habe ich ja in meinem letzten Beitrag darzustellen versucht. Ich hoffe, bei der Darstellung wird deutlich, dass es mir bei der Problematisierung selbst wieder um die wirklichen Menschen und ihre Bedürfnisse, Ansprüche und Verletzlichkeiten geht.
Ich denke, dass gerade um dessen willen, was mit dem Begriff "Menschenwürde" erreicht werden soll, eine Kritik des gegenwärtigen Verständnisses von Menschenwürde und seiner praktischen Anwendung unerlässlich sind.

Ich fand das wichtig genug, um einen neuen Thread aufzumachen.



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Tarvoc
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Do 5. Okt 2017, 22:43

Stefanie hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:30
Tarvoc: Das kann es nicht sein, denn sonst würde daraus zum Beispiel auch die Pflicht erwachsen, alle Menschen ausreichend zu ernähren, und zwar nicht nur alle in Deutschland lebenden, sondern zumindest im Rahmen unserer materiellen Möglichkeiten alle - eine Pflicht, die die Bundesrepublik weder rechtlich noch praktisch anerkennt.
Einspruch. [...] Praktisches Beispiele im Rahmen der materiellen Möglichkeiten: Entwicklungshilfe, Zahlung in die UN und ihre Organisationen.
Wir habe das rechtlich und praktisch anerkannt. Wird nur in der heutigen Zeit bei manchen nicht gerne gesehen.
Von mir aus noch Art. 2, Jedermann Grundrecht
Das haben wir nicht. Erstens handelt es sich bei der Entwicklungshilfe nicht um ein Recht, sondern um glorifizierte Almosen. Niemand kann vor deutschen Gerichten unter Berufung auf die Menschenwürde Entwicklungshilfe einklagen. Das zeigt, dass es sich in der gegenwärtigen Rechtspraxis nicht um ein aus der Menschenwürde abgeleitetes Recht handelt. Zweitens ist sehr fraglich, ob wir damit als Gesellschaft wirklich unsere materiellen Möglichkeiten ausschöpfen - gerade wenn ich mir die Profitraten deutscher Firmen so ansehe. Drittens ist das ja nur die Spitze des Eisbergs. Wir müssten z.B. auch Waffenexporte ganz generell gründlich überdenken, ebenso unsere politischen und diplomatischen Beziehungen zu Staaten, die die Menschenwürde aktiv verletzen (z.B. Türkei, Russland, USA...).



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Stefanie
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Do 5. Okt 2017, 22:51

Du kritisiert die Umsetzung oder den Rechtsbegriff der Menschenwürde?
Oder, welchen Rechtsbegriff der Menschenwürde hättest Du denn gerne? Und von welchem Rechtsbegriff gehst Du genau aus? Von dem klassischen oder von der Neukommentierung? (Wobei die Neukommentierung dürfte Dir nicht gefallen, so mein Gefühl).

Die Zitate von mir sind ja nur eine klitzekleine Beschreibung des Rechtsbegriffs Menschenwürde.



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Tarvoc
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Do 5. Okt 2017, 22:58

Stefanie hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:51
Du kritisiert die Umsetzung oder den Rechtsbegriff der Menschenwürde?
Beides. Das wird eigentlich schon mit meinem ersten Punkt klar. Aber ich kann es auch noch deutlicher machen.

Wer sagt, dass es sich um die Anerkennung von etwas handle, was schon da ist, muss sagen können, was das sein soll und wie man es erkennt. Im Grunde genommen gilt das auch für die Zuschreibungstheorie: Was man da zuschreibt, muss man ja auch sagen können. Wenn in der Menschenwürde wirklich die menschlichen Grundbedürfnisse anerkannt sind, dann müssten daraus jedenfalls ganz andere Konsequenzen gezogen werden als es tatsächlich geschieht. Das Problem sind nicht nur einzelne Details. Würde man daraus die Konsequenzen ziehen, müsste man unsere ganze Gesellschaft neu überdenken. Zum Beispiel ist schon unsere ganze Wirtschaftsweise strukturell überhaupt nicht auf die Anerkennung von Grundbedürfnissen ausgerichtet, sondern auf die Erzeugung von Tauschwerten, d.h. auf Profit - soll aber angeblich trotzdem mit der Menschenwürde kompatibel sein. Dinge wie Entwicklungshilfe, Sozialhilfe, etc. sind nachträgliche Behebungen von Problemen, die man sich damit überhaupt erst eingekauft hat. Insofern Entwicklungshilfe nicht einklagbar ist, ist sie wirklich nur ein glorifizierter Almosen. Und bei Sozialhilfe ist es so, dass sie sogar inzwischen von staatlicher Seite benutzt wird, um andere Grundrechte in der Praxis auszuhebeln, z.B. das Recht auf freie Berufswahl. Dass das überhaupt möglich ist, ist kein Zufall, sondern hat strukturelle Gründe, die mit dem gängigen Verständnis von Menschenwürde sehr eng zusammenhängen. Kurz gesagt haben wir als Gesellschaft nicht die marktwirtschaftliche Wirtschafts- und Gesellschaftsform der Menschenwürde angepasst (weil das, wenn es wirklich um die Anerkennung der Grundbedürfnisse gehen soll, gar nicht geht), sondern umgekehrt unseren Begriff der Menschenwürde Schritt für Schritt an die Marktwirtschaft. Das kann man offenlegen.



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Tarvoc
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Do 5. Okt 2017, 23:28

Alethos hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 23:02
Die 'Das ist Würde'-Argumentation ist angreifbar, weil es Würde in einer begrifflichen Dimension verortet, wo es mit Gegenbegriffen pari gesetzt werden kann.
Ich vermute auch, dass eine Würdedefinition verstanden als juristische Setzung nur teilweise funktionieren kann, weil das Formaljuristische den zwischenmenschlichen Komponenten von Würde zu wenig gerecht wird. Würde lässt sich durch das Grundgesetz nicht festhalten oder abbilden, sondern nur durch die Anwendung innerer Überzeugung, dass der Mitmensch ein Gegenüber ist, das man achten soll. Das ist nicht einmal eine Setzung von Menschlichkeit, sondern eine Voraussetzung dafür.
Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 23:03
Das ist ein guter Gedanke, finde ich. Kannst du das nochmal in dem anderen Thread sagen? Es gäbe vielleicht der kritischen Diskussion des Rechtsbegriffs nochmal eine neue Richtung.
Alethos hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 23:27
Du kannst es gerne zitieren, kopieren und einfügen. Werde dort sich mitlesen ;)



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Hermeneuticus
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Fr 6. Okt 2017, 22:15

Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:30
Was genau wird denn da anerkannt? Die grundlegenden menschliche Bedürfnisse? Das kann es nicht sein, denn sonst würde daraus zum Beispiel auch die Pflicht erwachsen, alle Menschen ausreichend zu ernähren...
Die ethische Grundlage des Begriffs der Menschenwürde ist doch wohl unstrittig die individuelle Selbstbestimmung. Nur solchen Wesen, die auf eigene Verantwortung entscheiden und handeln können, lassen sich sinnvoll Rechte und Pflichten zuweisen. Die Menschenrechte beruhen nun auf der anthropologischen Grundannahme, dass jeder Mensch die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln entweder hat oder sie unter gewissen Minimalbedingungen erwerben kann. So, wie ich die allgemeinen Menschenrechte verstehe, sollen sie die faktische Ausübung der individuellen Selbstbestimmung schützen, indem sie jedem Menschen das gleiche Recht dazu einräumen. Davon leitet sich dann - sekundär - auch das Recht auf gewisse Minimalbedingungen ab, unter denen ein Mensch - als bedürftiges Wesen - erst in der Lage ist, sein Recht auf Selbstbestimmung wirklich wahrzunehmen.

Was die "grundlegenden" menschlichen Bedürfnisse sind, lässt sich allgemein nur schwer bestimmen. Denn wessen der einzelne Mensch bedarf, hängt ja nicht unwesentlich davon ab, welches Leben er persönlich führen will. Und es wäre doch paradox, dem einzelnen Menschen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zuzubilligen, und dann allgemein - also über den Kopf des Einzelnen hinweg - zu bestimmen, was er zum Leben braucht. Darum ist bei der Zuschreibung von konkreten Bedürfnissen Vorsicht geboten. Zwar kann man davon ausgehen, dass jeder Mensch als natürlicher Organismus gewisse Grundbedürfnisse hat, ohne deren Befriedigung er nicht überleben kann. Aber mit Rücksicht auf seine individuelle Freiheit empfiehlt es sich, möglichst zurückhaltend mit einer inhaltlichen Bestimmung dieser Bedürfnisse zu verfahren.




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Tarvoc
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Fr 6. Okt 2017, 22:20

Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 6. Okt 2017, 22:15
Was die "grundlegenden" menschlichen Bedürfnisse sind, lässt sich allgemein nur schwer bestimmen. Denn wessen der einzelne Mensch bedarf, hängt ja nicht unwesentlich davon ab, welches Leben er persönlich führen will. Und es wäre doch paradox, dem einzelnen Menschen das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zuzubilligen, und dann allgemein - also über den Kopf des Einzelnen hinweg - zu bestimmen, was er zum Leben braucht. Darum ist bei der Zuschreibung von konkreten Bedürfnissen Vorsicht geboten. Zwar kann man davon ausgehen, dass jeder Mensch als natürlicher Organismus gewisse Grundbedürfnisse hat, ohne deren Befriedigung er nicht überleben kann. Aber mit Rücksicht auf seine individuelle Freiheit empfiehlt es sich, möglichst zurückhaltend mit einer inhaltlichen Bestimmung dieser Bedürfnisse zu verfahren.
Deshalb empfehle ich auch nicht, das über die Köpfe der Menschen hinweg zu entscheiden. Aufmerksamen Lesern wird vielleicht aufgefallen sein, dass ich hier immer wieder versucht habe, darauf hinzweisen, dass man Menschen die in armen oder elenden Verhältnissen leben, selbst dazu zu Wort kommen lassen muss, anstatt mit einem bloß von außen kommenden Blick über ihre Würde zu debattieren.



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Hermeneuticus
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Sa 7. Okt 2017, 01:29

Tarvoc hat geschrieben :
Fr 6. Okt 2017, 22:20
Aufmerksamen Lesern wird vielleicht aufgefallen sein, dass ich hier immer wieder versucht habe, darauf hinzweisen, dass man Menschen die in armen oder elenden Verhältnissen leben, selbst dazu zu Wort kommen lassen muss, anstatt mit einem bloß von außen kommenden Blick über ihre Würde zu debattieren.
Moment! Ich sprach von der Schwierigkeit, die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen allgemein zu bestimmen. Du sprichst jetzt von der Würde. Das sollte man auseinanderhalten. Denn während Bedürfnisse sich empirisch bestimmen lassen - und somit eine Angelegenheit des "Seins" sind -, ist die Menschenwürde ein Wert, also eine Angelegenheit des "Sollens".

Indem man Menschen allgemein die gleiche Würde zugesteht, bevormundet man sie nicht. Im Gegenteil, man wertschätzt sie in einer elementaren Weise, nämlich als selbstbestimmte Wesen, die niemand bevormunden oder unterdrücken sollte. Die Menschenrechte sind ja primär Schutzrechte. Sie sind adressiert an die staatlichen Gewalten und sollen vor deren Willkür schützen. - Deine Forderung, man solle die Menschen selbst zu Wort kommen lassen, ist also ganz im Sinne der Menschenwürde und kein Argument gegen diesen Begriff.

Da Menschenwürde ein Wert ist und keine Eigenschaft, ist die Frage, ob sie "existiert" oder ob Menschen sie "haben", durchaus berechtigt. Denn wenn es Werte gibt, gibt es sie doch auf andere Weise als Eigenschaften. Ein Mensch "hat" Würde nicht so, wie er ein bestimmtes Alter, eine kurze Nase, schwarze Haare oder die Windpocken "hat". Eigenschaften haben in der Regel keine normativen Implikationen. Man kann sie persönlich mögen oder ablehnen, aber in jedem Fall muss man sie unabhängig von der eigenen Bewertung als Tatsachen hinnehmen. Aber Werte sind normativ relevant. Sie sind intersubjektiv verbindlichen oder verpflichtend, d.h. sie erheischen einen bestimmten Umgang mit dem Träger des Wertes, nämlich einen rücksichtsvollen, achtungsvollen, anerkennenden Umgang. Und indem Werte sich im Umgang der Menschen mit den Wertträgern de facto niederschlagen, kann man sie durchaus als "existent" oder "real" bezeichnen.




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Sa 7. Okt 2017, 01:39

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 01:29
Moment! Ich sprach von der Schwierigkeit, die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen allgemein zu bestimmen. Du sprichst jetzt von der Würde.
Ja, aber nur ex negativo. Das war ja gerade mein Argument: Wenn Menschen, die in elenden Verhältnissen leben müssen, selbst zu Wort kommen diese Verhältnisse thematisieren und daraus Forderungen nach besserer Behandlung ableiten, dann lässt sich nicht von vorne herein ausschließen, dass sie das vielleicht gar nicht in den Begriffen von Würde tun. Haben wir das Recht, ihnen diesbezüglich einen bestimmten Diskurs aufzuzwingen? Beziehungsweise warum sollten wir mit unserer Art der Thematisierung ihrer elenden Lage und der Frage, wie darauf zu reagieren sei, richtiger liegen als sie mit ihrer?

Im Übrigen haben natürlich auch Bedürfnisse normative, nämlich für die Menschen selbst handlungsleitende Bedeutung. (Dass man nicht aus jedem Bedürfnis ein Recht ableiten kann, ist geschenkt.)
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 01:29
Denn wenn es Werte gibt, gibt es sie doch auf andere Weise als Eigenschaften. Ein Mensch "hat" Würde nicht so, wie er ein bestimmtes Alter, eine kurze Nase, schwarze Haare oder die Windpocken "hat".
Ich war nicht derjenige hier, der behauptet hat, man könne Menschenwürde sehen.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 01:29
Und indem Werte sich im Umgang der Menschen mit den Wertträgern de facto niederschlagen, kann man sie durchaus als "existent" oder "real" bezeichnen.
Läuft das nicht im Grunde einfach wieder auf die Auffassung der Menschenwürde als praktische Zuschreibung hinaus (gegen die ich wie gesagt gar nichts habe)?

Was ist denn dann zum Beispiel, wenn diese Werte sich nicht im Umgang niederschlagen? Selbst nicht bei denjenigen, die diese Werte nominell hochhalten und zu verteidigen behaupten (Guantanamo, Abu Ghraib, etc.)? Kann man sie (die Werte) dann auch nicht mehr als existent oder real bezeichnen? Selbst ich hätte mit dieser Schlussfolgerung Schwierigkeiten - aber sie scheint aus deiner Position zu folgen.



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Hermeneuticus
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Sa 7. Okt 2017, 02:07

Tarvoc hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 01:39
Haben wir das Recht, ihnen diesbezüglich einen bestimmten Diskurs aufzuzwingen?
Ich kann nicht nachvollziehen, wieso man Menschen dadurch Zwang antut, dass man sie in elementarer Weise als selbstbestimmte Wesen wertschätzt. Das müsstest Du mir näher erklären. Zumal, wie gesagt, die Menschenrechte primär an die Staatsgewalt gerichtet sind, die die faktische Macht hat, Menschen zu zwingen.
Und was ist, wenn sie sich nicht im Umgang niederschlagen? Selbst nicht bei denjenigen, die diese Werte nominell hochhalten und zu verteidigen behaupten (Guantanamo, Abu Ghraib, etc.)? Kann man sie dann auch nicht mehr als existent oder real bezeichnen? Das läuft dann nämlich sehr wohl auf die Auffassung der Menschenwürde als praktische Zuschreibung hinaus.
Wie gesagt, Menschenwürde ist ein Wert, keine Eigenschaft. Und zu den Eigentümlichkeiten von Werten gehört, dass sie mitunter "kontrafaktisch" verbindlich sind. Nämlich überall da, wo sie verletzt werden. Eine Norm wird ja durch faktische Normverletzungen nicht ungültig. Sie bleibt gegen die faktische Normverletzung in Kraft. Und so ist es auch mit Menschenrechtsverletzungen und der Menschenwürde. Zwar gibt es einstweilen keine weltweit wirksamen Sanktionen gegen Menschenrechtsverletzungen. Aber der Umstand, dass Menschenrechtsverletzungen nicht wirksam sanktioniert werden, raubt doch den Menschen, die davon betroffen sind, nicht ihre Würde.

Ich finde Deine Haltung in sich widersprüchlich. Einerseits empören Dich Menschenrechtsverletzungen, aber statt Deine Kritik an die dafür Verantwortlichen zu richten, ziehst Du den Begriff der Menschenwürde und den Menschenrechtsdiskurs in Zweifel. Man könnte fast meinen, Du möchtest Verbrechen durch die Abschaffung der Gesetze bekämpfen.




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Tarvoc
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Sa 7. Okt 2017, 02:42

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 02:07
Tarvoc hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 01:39
Und was ist, wenn sie sich nicht im Umgang niederschlagen? Selbst nicht bei denjenigen, die diese Werte nominell hochhalten und zu verteidigen behaupten (Guantanamo, Abu Ghraib, etc.)? Kann man sie dann auch nicht mehr als existent oder real bezeichnen? Das läuft dann nämlich sehr wohl auf die Auffassung der Menschenwürde als praktische Zuschreibung hinaus.
Wie gesagt, Menschenwürde ist ein Wert, keine Eigenschaft.
Du hast gesagt, dass Werte als existent oder real bezeichnet werden können, genau dann wenn sie sich im Umgang der Menschen zeigen, die sie hochhalten. Meine Frage war: Was ist denn dann, wenn sie sich eben nicht im Umgang zeigen? Der Unterschied zwischen normativ und faktisch ist mir natürlich klar. Ich habe lediglich das, was du geschrieben hast, beim Wort genommen.

Davon abgesehen, nochmal: Ich bin nicht derjenige, der hier behauptet hat, man könne die Menschenwürde buchstäblich sehen. Wie du darauf kommst, ausgerechnet primär mir den Unterschied zwischen normativ und faktisch erklären zu müssen und nicht zumindest auch noch einer ganzen Reihe anderer Leute hier, verstehe ich nicht so ganz. Genausogut könnte ich sagen, du bist derjenige, der den Unterschied zwischen Normativität und Faktizität verwechselt, indem du sagst, die Werte seien im Umgang der Menschen miteinander real und existent. Nein, das, was da faktisch wirklich existent ist, ist eben der Umgang.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 02:07
Ich finde Deine Haltung in sich widersprüchlich. Einerseits empören Dich Menschenrechtsverletzungen, aber statt Deine Kritik an die dafür Verantwortlichen zu richten, ziehst Du den Begriff der Menschenwürde und den Menschenrechtsdiskurs in Zweifel.
Den ganzen Menschenrechtsdiskurs? Wo hast du das denn in meinen Beiträgen gelesen? Ich kritisiere ganz bestimmte diskursive Verwendungen des Begriffs Menschenwürde und die damit verbundenen Auffassungen. Nicht mehr, nicht weniger. Gerade zu Menschenrechten habe ich mich hier immer wieder bekannt und darüber noch nie ein einziges kritisches Wort verloren.



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Jörn Budesheim
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Sa 7. Okt 2017, 06:53

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 02:07
Menschenwürde ist ein Wert, keine Eigenschaft
Manches hat eben die Eigenschaft wertvoll zu sein.




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Alethos
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Sa 7. Okt 2017, 10:41

Menschen werden auf der ganzen Welt unwürdig behandelt: Die Rohingya in Myanmar werden ausgegrenzt, verstossen, sie werden verfolgt und unterdrückt. Gibt es deshalb Würde nicht, weil es unwürdiges Verhalten gibt? Nein, sowenig es das Recht auf Eigentum nicht nicht gibt, nur weil es Diebe hat, die es unterlaufen.

Die Wertung als unwürdig setzt natürlich einen bestimmten Würdebegriff voraus. Von Werten war die Rede und von einem ethischen Sollen. Aber verfolgt denn dieses Sollen einen bestimmten Zustand für alle, also Gleichheit, oder einen besten Zustand für jeden im Rahmen des situativ Angemessenen?

Würde ist meines Erachtens nicht verhandelbar, jedem kommt sie gleichermassen zu. Das Sollen übt seinen normativen Druck auf das Faktische gleichmässig aus. Die Faktizität ist aber situativ stärker als das Können. Ich denke, wir müssen an diesem Punkt eingestehen, dass unser Würdebegriff obschon nicht relativ ist, doch überall relativ zur Anwendung kommt und zwar bezüglich den Wirkungen, die er entfaltet.

Es ist zwar wohl dieselbe Würde, die auferlegt, einen Rohingya vor Tötung zu schützen, wie die, einem 50-jährigen deutschen arbeitslosen Bettler Arbeit zu geben. Es kann sich nicht um einen relativen Würdebegriff handeln, weil wir dann sagen müssten, dass Würde nichts sei, was jedem Menschen gleicherweise zukommt. Offensichtlich hat aber jeder Mensch ein Recht nach würdigem Leben. Das ist eine Behauptung, die wir gelten lassen, weil sie offenbar überzeugt.

Aber dann verhält sich der Würdebegriff doch relational zu den aktuellen Mangelbedürfnissen. Der normative Druck setzt graduell ein. So scheint er beim prioritären Bedürfnis nach Leben am stärksten und dringlichsten zu wirken, dann beim Bedürfnis nach Obdach und beim Bedürfnis nach Sicherheit immer weniger dringlich. Der maslowschen Pyramide entlang entfaltet sich ein Würdebegriff in seiner Angemessenheit. Wir sagen, es sei dem philosophischen Austausch würdig, dass man Argumente austauscht, und meinen damit es sei angemessen, gute Gründe zu liefern. Aber hier wirkt ja offenbar ein abgeschwächtes ethisches Sollen.
Es sei eines amerikanischen Präsidenten unwürdig, sich in Twitter-Poltereien mit dem nordkoreanischen Präsidenten einzulassen. Dann meinen wir, es sei nicht angemessen, sich so zu verhalten. Einen Flüchtling vor dem Ertrinken nicht zu schützen, sei unangemessen, und zwar in einer viel dringlicheren Weise, als sich im Philosophieforum gepflegt auszudrücken.

Es lässt sich deshalb Fragen, ob Angemessenheit ein Synonym von Würde ist oder sie mithin synonym verwendet werden?

Denn wenn Angemessenheit als Umschreibung von Würde gelten kann, dann sehen wir, wie eng unsere Zuschreibungen von Menschenwürde mit dem Bewusstsein für Richtigkeit geknüpft sind, d.h. wie eng ein bestimmtes Menschenbild darin Ausdruck findet, ob eine bestimmte Situation oder ein bestimmter Umstand für würdig oder unwürdig angesehen wird.

In keiner Weise scheint also Menschenwürde etwas zu sein, das einem Menschen durch eine individuelle oder situative Setzung zukommt, also von aussen auferlegt werden kann, sondern zeigt sich Würde am jeweiligen Massstab, den man an sich selbst, an die Umstände und an andere Menschen legt. Dann aber ergibt sich daraus eine Definition von Gerechtigkeit, die eng mit Würde zusammenspielt, wie mir scheint: Bemesse mit gleicher Elle dein und das Wohlergehen anderer.



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Hermeneuticus
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Sa 7. Okt 2017, 12:53

Tarvoc, bevor wir uns hier polemisch verheddern, noch einmal zurück zur Ausgangsfrage. Du hattest geschrieben:
Was genau wird denn da anerkannt? Die grundlegenden menschliche Bedürfnisse? Das kann es nicht sein, denn sonst würde daraus zum Beispiel auch die Pflicht erwachsen, alle Menschen ausreichend zu ernähren, und zwar nicht nur alle in Deutschland lebenden, sondern zumindest im Rahmen unserer materiellen Möglichkeiten alle - eine Pflicht, die die Bundesrepublik weder rechtlich noch praktisch anerkennt. Also wenn es nicht allgemeine, grundlegende menschliche Bedürfnisse sind, was wird da eigentlich anerkannt? Eben einfach nur "die Würde selbst"? Das wäre eine petitio principii.
Darauf habe ich mit meinem ersten Beitrag geantwortet. Ich habe skizziert, was (nach meiner Auffassung) die "sachliche" Grundlage der Rede von "Menschenwürde" ausmacht, nämlich die Fähigkeit, selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu handeln. Diese Fähigkeit muss man sinnvoller Weise jedem unterstellen, dem man Rechte zuerkennt und Pflichten auferlegt. Mit der Berufung auf die Menschenwürde wird (nach meinem Verständnis) jedem Menschen diese Fähigkeit zugeschrieben. Es handelt sich also um eine elementare anthropologische Voraussetzung, die aber zugleich die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln als höchstes Gut auszeichnet und darum jedem Menschen die faktische Ausübung dieser seiner Fähigkeit als Grundrecht garantiert.

Auf diese Beantwortung Deiner Frage - die ich für die Kernfrage dieses Threads halte - bist Du noch nicht direkt eingegangen. Mir scheint aber, dass Du damit im Grunde übereinstimmst. Mir ist allerdings noch nicht klar geworden, was genau Du - trotz Deiner Übereinstimmung - am Begriff der Menschenwürde (bzw. den Debatten darüber) kritisierst.




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Sa 7. Okt 2017, 15:57

Alethos hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 10:41
Würde ist meines Erachtens nicht verhandelbar, jedem kommt sie gleichermassen zu.
Ich denke mal, wir können wohlwollend voraussetzen, dass zumindest jeder von uns hier in der Praxis andere Menschen unverhandelbar als Menschen anerkennt. Mir geht es um die Verwendung des Würdebegriffs als Begründungsfigur in bestimmten Diskursen. (Z.B. dem Rechtsdiskurs, dem Diskurs der Moral, politischen Diskursen, etc.)
Alethos hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 10:41
In keiner Weise scheint also Menschenwürde etwas zu sein, das einem Menschen durch eine individuelle oder situative Setzung zukommt, also von aussen auferlegt werden kann, sondern zeigt sich Würde am jeweiligen Massstab, den man an sich selbst, an die Umstände und an andere Menschen legt. Dann aber ergibt sich daraus eine Definition von Gerechtigkeit, die eng mit Würde zusammenspielt, wie mir scheint: Bemesse mit gleicher Elle dein und das Wohlergehen anderer.
Also ist die Anerkennung von Würde letztlich ein objektiv situationsangemessenes Bewerten mit fairen Maßstäben? Darauf könnte ich mich einlassen. Dann wäre Würde zwar keine Eigenschaft der Situation selbst oder der in ihr lebenden Menschen, aber eine objektive Eigenschaft einer epistemisch und praktisch richtigen Einstellung handelnder Akteure zu dieser Situation und den Menschen. Wenn man das so auffasst, kann man ihr wirkliche Existenz zuschreiben, und zwar als objektiv sachangemessenes Kriterium für die Bewertung von Einstellungen und Verhaltensweisen.



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Sa 7. Okt 2017, 16:05

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 12:53
Auf diese Beantwortung Deiner Frage - die ich für die Kernfrage dieses Threads halte - bist Du noch nicht direkt eingegangen. Mir scheint aber, dass Du damit im Grunde übereinstimmst. Mir ist allerdings noch nicht klar geworden, was genau Du - trotz Deiner Übereinstimmung - am Begriff der Menschenwürde (bzw. den Debatten darüber) kritisierst.
Wie gesagt ging es mir primär um die Verwendung des Begriffs als Begründungsfigur in bestimmten Diskursen und um die Vorstellungen, die damit verbunden sind.

Davon abgesehen: Der Fokus auf die die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist ganz sicher richtig und wird von mir auch geteilt, allerdings läuft man Gefahr, die vielen Arten und Weisen auszublenden, wie die Menschen gerade in elenden Verhältnissen in ihrem Handeln fremdbestimmt sind. Man muss zu einer Dialektik zwischen der (von mir aus "anthropologischen") Voraussetzung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung einerseits und der Untersuchung realer, materieller Abhängigkeitsverhältnisse andererseits kommen, die nicht auf einen bloßen sachfernen Moralismus hinausläuft. So wie ich das sehe, leistet der allergrößte Teil der Diskurse, die um den Menschenwürde-Begriff geführt werden, diese Dialektik nicht - und zwar gerade in den Bereichen, die praktisch am wirksamsten sind, d.h. im rechtlichen und politischen Diskurs.



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Sa 7. Okt 2017, 20:02

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 7. Okt 2017, 01:29
Die Menschenrechte sind ja primär Schutzrechte.
Ich würde sagen Menschenrechte sind Rechte auf bestimmte Freiheiten: Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Freiheit vor Verfolgung, Freiheit der Berufswahl, etc. p.p. Ziel ist die Wahrung oder Schaffung von Umständen, die der Würde jedes Einzelnen entsprechen.




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Stefanie
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Sa 7. Okt 2017, 23:49

Menschenrechte sind primär Schutzrechte und Abwehrrechte gegen staatliches Handeln. So ist auch im wesentlichen das Grundgesetz ausgestaltet.

Menschenwürde und Menschenrechte sind nicht statisch, sondern auch dynamisch. Das ist aufgrund der eigentlich immer währenden Diskussionen zu dieser Thematik auch kein Wunder.
Daher hat sich in den letzten Jahrzehnten und vor allem in den letzten Jahren in der Ansicht, dass Menschenrechte hauptsächlich reine Abwehrrechte sind, etwas geändert. Als ich noch studiert habe, war noch kaum davon die Rede, dass die Menschenrechte - bei uns die Grundrechte- auch Leistungsansprüche und Gewährleistungsansprüche sein können.
Bei uns kam die Diskussion zum ersten Mal richtig auf, als im Zuge der Wiedervereinigung das Grundgesetz geändert werden musste (die Präambel stimmte ja nicht mehr.). Bzgl. des Gleichheitsgrundsatz hätten viele gerne eine Konkretisierung hin zur Gewährleistungs- und Leistungsansprüchen gehabt (vor allem Wohlfahrtsverbände und Behindertenverbände). Hat sich damals noch nicht durchsetzen können, lediglich der Satz "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." wurde eingefügt.

Ich zitiere mal wieder die Bundeszentrale für Politische Bildung, die haben wirklich gute Hefte zu diesem Thema:
Welche Menschenrechte gibt es?
Gemeinhin werden drei "Generationen" von Menschenrechten unterschieden. Rechte der ersten "Generation" bezeichnen die klassischen bürgerlichen und politischen Freiheits- und Beteiligungsrechte. Dazu gehören das Recht auf Leben, die Verbote der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit, sodann u. a. die Rechte auf persönliche Freiheit und Sicherheit, Gedanken-, Religions-, Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit sowie justizbezogene Rechte (Gleichheit vor dem Gesetz, Unschuldsvermutung, faires Verfahren etc.). Die nationalen und internationalen Schutzsysteme für bürgerlich-politische Rechte sind bislang am stärksten ausgebaut.
Rechte der zweiten "Generation" umfassen die lange Zeit vernachlässigten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, wie die Rechte auf und in Arbeit, auf soziale Sicherheit, Ernährung, Wohnen, Wasser, Gesundheit und Bildung. Seit den 1990er Jahren wurden der Inhalt und die Verletzungstatbestände dieser Rechte erheblich konkretisiert. Inzwischen werden sie weithin politisch eingefordert und gelten ihrem Wesen nach auch als einklagbar. Entsprechende rechtliche Durchsetzungsmechanismen auf nationaler und internationaler Ebene sind indes noch zu stärken.
Rechte der dritten "Generation" sind jüngeren Datums und bezeichnen allgemeine, noch kaum in Vertragswerken konkretisierte Rechte wie etwa die Rechte auf Entwicklung, Frieden oder saubere Umwelt.
Wen verpflichten Menschenrechte?
Staaten tragen die Hauptverantwortung für die Umsetzung der Menschenrechte. Staatliche Organe (Polizei, Militär etc.), die vielerorts für Menschenrechtsverbrechen verantwortlich sind, dürfen demnach die Menschenrechte nicht selbst verletzen (Achtungspflichten). Zugleich haben sie gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschenrechte vor Eingriffe durch Dritte zu schützen (Schutzpflichten) und um die Ausübung der Menschenrechte durch positive Leistungen zu ermöglichen (Gewährleistungspflichten).
Die drei Verpflichtungsdimensionen beziehen sich prinzipiell auf alle Menschenrechte. Dadurch wird die herkömmliche Einteilung in Frage gestellt, der zufolge bürgerlich-politische Rechte vornehmlich Abwehrrechte, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hingegen vor allem Anspruchsrechte seien. Beide "Generationen" von Menschenrechten können einen Abwehr-, Schutz- und Leistungscharakter haben. Allerdings werden vor allem die Gewährleistungspflichten noch kontrovers diskutiert.

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Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Hermeneuticus
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So 8. Okt 2017, 03:09

Ein paar Bemerkungen zu den Schwierigkeiten, die der Begriff der Menschenwürde aufwirft.

Die Menschenwürde scheint manchmal verstanden zu werden wie ein faktisches Wesensmerkmal, das alle Menschen einfach so "haben", bloß weil sie zur Spezies "Homo sapiens" gehören. Aber eine solche Auffassung passte vielleicht noch ins antike oder mittelalterliche Weltbild, das allen natürlichen Arten ein ewig unveränderliches Wesen unterstellte. Mit unserer naturwissenschaftlich aufgeklärten Weltsicht (Evolution) ist es dagegen unvereinbar. Keine natürliche Art hat so etwas wie ein unwandelbares "Wesen", das jedem Individuum eigen wäre und das durch zusätzliche gruppenspezifische und individuelle Eigenschaften nur ergänzt würde. Darum ist die Berufung auf eine "natürliche" Würde, die allen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Menschen ohne Rücksicht auf ihren faktischen Lebenswandel zukommen soll, dringend erläuterungsbedürftig (um das Mindeste zu sagen). Dies nur zu postulieren und sich auf gewisse internationale Deklarationen und Verfassungen zu berufen, kann nicht überzeugen.

Ähnliches gilt für den normativen Aspekt der Menschenwürde. Dass alle Menschen - wiederum ungeachtet ihres konkreten Lebenswandels - von Natur aus in herausragender Weise wertvoll sein sollen, ist denjenigen Zeitgenossen, die nicht an die göttliche Schöpfung, die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und die Liebe Gottes zu ausnahmslos allen seinen Geschöpfen glauben, schwer zu vermitteln. Und da Religionsfreiheit zu den aus der Menschenwürde begründeten Grundrechten gehört, ist dieses Plausibilitätsdefizit nicht nur ein Schönheitsfehler. Es ist ausgeschlossen, allgemeine, und das heißt ja - überparteilich geltende - Rechte konfessionell - d.h. parteilich, partikularistisch - zu begründen und damit von der Wahrheit eines gruppenspezifischen Glaubens abhängig zu machen. (Das ist wohl auch der Grund, warum der Vatikan die Menschenrechtscharta bis jetzt noch nicht unterzeichnet hat; eine solche Unterstützung wäre nämlich gleichbedeutend mit dem Verzicht auf den exklusiven Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens.) Die Menschenrechte und die Menschenwürde müssen gerade um ihrer allgemeinen Geltung willen glaubensneutral begründet werden können. Sonst hätten alle die Kritiker Recht, die in der Menschenrechtsbewegung nur einen ideologischen Kreuzzug des christlichen Abendlandes (Stichwort "Eurozentrismus") sehen wollen. Auch müssen die Eigenschaften oder Fähigkeiten, die den besonderen Wert der Menschenwürde ausmachen sollen, strikt auf die profane Existenz des "Homo sapiens" beschränkt bleiben.

Ein besonderes Problem des Menschenwürde-Begriffs habe ich schon angedeutet: Diese Eigenschaft bzw. dieser Wert soll ja jedem Menschen unabhängig davon eigen sein, wie er de facto lebt und handelt. Um es drastisch zu sagen: Mahatma Gandhi kann demnach nicht "menschenwürdiger" gewesen sein als Adolf Hitler. Ein glühender Humanist und Menschenrechtsaktivist kann dem niederträchtigsten Folterknecht und Massenmörder hinsichtlich seiner Menschenwürde nicht über sein. Das ist schwer zu verdauen. Jedenfalls dann, wenn Menschenwürde als Eigenschaft verstanden wird, die alle Menschen von Natur aus besitzen. Eine solche Eigenschaft wäre gewissermaßen eine kontra-faktische Eigenschaft - und diese Vorstellung ist in etwa so sinnvoll wie ein verheirateter Junggeselle oder ein schwarzer Schimmel. - Aus diesem Grund kann die Menschenwürde sinnvoll nur als eine normative Zuschreibung begriffen werden, die "ohne Ansehung der Person" gilt wie die Gleichheit vorm Gesetz.


Damit wären drei Anforderungen an die Bestimmung und Begründung der allgemeinen Menschenwürde gestellt:

1. Sie kann sich nicht auf die biologische Natur des Menschen stützen;
2. sie muss glaubensneutral und profan bleiben;
3. sie kann nicht von den Eigenschaften der faktischen Menschen hergeleitet werden.




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Jörn Budesheim
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So 8. Okt 2017, 07:40

Nauplios hat geschrieben :
Fr 6. Okt 2017, 19:55
"Der Mensch ist ein Tier, das dichtet." (NizarQabbani)
Hermeneuticus hat geschrieben :
So 8. Okt 2017, 03:09
3. sie [die Würde] kann nicht von den Eigenschaften der faktischen Menschen hergeleitet werden.
Ich vertrete exakt die gegenteilige Ansicht wie Hermeneuticus: Menschenwürde ist eine faktische Eigenschaft. Falls sich das nicht in unsere angeblich aufgeklärte Weltsicht fügen sollte, dann umso schlimmer für diese Weltsicht.

Meines Erachtens basiert unsere Würde auf einer ganzen Reihe von tatsächlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, an deren Vorliegen man nicht ernsthaft zweifeln kann.

Dazu gehört z.b. der Umstand, dass wir im allgemeinen versuchen, unserem Leben einen Sinn zu geben, bzw dass wir die Anlage dazu haben, denn wer in Sklaverei lebt, hat die Anlage dazu auch, kann sie aber nicht ausüben. Wir leben also nicht einfach bloß, sondern wir haben die Fähigkeit unser Leben zu führen. Das ist eine reale und faktische Eigenschaft, ob sie sich jetzt in das naturwissenschaftlich aufgeklärte Weltbild fügt oder nicht.

Eine weitere faktische Eigenschaft, die wir der Anlage nach haben und entwickeln können, ist unsere Fähigkeit unser Handeln und Denken an Gründen zu orientieren, kurzgesagt unsere Rationalität, dazu gehört auch unsere Fähigkeit, unser Handeln an ethischen Erwägungen zu orientieren.

Unsere Phantasie, die Fähigkeit Geschichten zu erzählen, die Fähigkeit sich im Raum der Kunst zu bewegen, ein poetisches Tier zu sein, zählt dazu.

Eine weitere faktische Eigenschaft, die zu diesem Bündel zählt, ist unser vielfältiges und reiches Gefühlsleben, dazu gehört die Fähigkeit zu lieben und Liebe zu empfangen.

Das ist natürlich keine vollständige Aufzählung und ich weiß nicht einmal, ob man sie vervollständigen könnte. Und nicht jede Person, deren Würde es zu achten gilt, wird alle Elemente dieses Bündels in sich vereinigen können, sie realisiert haben (z.b. haben auch Menschen mit schwerer geistiger Behinderung natürlich eine Würde, sind aber vielleicht nicht im Vollsinne rational.) Dieses Bündel von faktischen Eigenschaften führt dazu, dass (zumindest) jeder Mensch einen tatsächlichen Wert in sich selbst darstellt, wie Kant sich ausdrückt: einen absoluten Wert, der gegen keinen Preis verrechenbar ist. Dieser Wert liegt objektiv vor und ist so real wie sonst irgendwas, oder sagen wir aber mal, er ist noch viel realer als sonst irgendwas, weil er uns nämlich selbst angeht.

Wenn sich diese Tatsachen nicht in unser naturwissenschaftliches Weltbild fügen, dann müssen wir an diesem Weltbild eben arbeiten. Besser noch wäre es natürlich, sich von Weltbildern überhaupt zu verabschieden.




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