Der Rechtsbegriff "Menschenwürde": Eine Kritik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Tarvoc
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So 5. Nov 2017, 20:16

Alethos hat geschrieben :
So 5. Nov 2017, 17:00
Ok, lass uns, bevor wie auf dein Gedankenexperiment eingehen [...]
Meintest du anstatt darauf einzugehen?



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Alethos
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So 5. Nov 2017, 21:41

Hermeneuticus hat geschrieben :
So 5. Nov 2017, 15:03
Stellen wir uns mal dieses Szenario vor: Der Gesetzgeber befindet, es sei eine höchst bedenkliche, unzuverlässige und unzureichende Praxis, allen Heranwachsenden summarisch mit der Vollendung ihres18. Lebensjahres zu unterstellen, sie seien nun eigenverantwortliche, mündige Personen, und sie automatisch mit allen persönlichen Bürgerrechten und -pflichten auszustatten. Die bloße Zuschreibung ihrer vollen Rechtsmündigkeit genüge nicht, es müsse vielmehr am Individuum festgestellt werden, ob es die erforderliche Verantwortungsfähigkeit wirklich hat. Erkennen müsse dem Anerkennen vorausgehen. Darum sollen von nun an alle Heranwachsenden vor Vollendung ihres 18. Lebensjahres einer Reihe von Prüfungen unterzogen werden - medizinischen, psychiatrischen, ethischen usw. -, und nur diejenigen, die diese Prüfungen bestehen, erhalten dann auch den Status der vollen Rechtsmündigkeit. Wer durchfällt, wird zu Fortbildungen verpflichtet und muss die Prüfung im folgenden Jahr wiederholen. Und wer die Prüfung auch beim dritten Mal nicht besteht, für den bestellt das Amtsgericht einen Vormund, der die Rechtsgeschäfte seines Mündels lebenslang übernimmt.

Warum ist das eine absurde, ja aberwitzige Vorstellung?
Abgesehen davon, dass du das Szenario mit einer rhetorischen Frage abschliesst, finde ich die Denkübung eigentlich ganz gelungen.

Meine Antwort ist nicht die: Es wird keine Kriterien geben, nach denen es sich zweifelsfrei feststellen lässt, ob jemand die Mündigkeit erreicht hat oder nicht. Meine Antwort ist die: Die Volljährigkeit wird bei Erreichen des 18. Lebensjahr anerkannt, ungeachtet der persönlichen Verfassung des menschlichen Subjekts. Der Status des Volljährigseins wird sozusagen durch die Regel konstituiert. Ob die Person mündig sei oder nicht, wird sich aber an seinen Handlungen je individuell nachvollziehen lassen, d.h. es braucht bei Auffälligkeit unter Umständen eine psychologische Untersuchung, was eine intensive Beschäftigung mit dem individuellen Menschen bedeutet. Diese Untersuchung wird ebenso nach Regeln der psychologischen Kunst von statten gehen, aber nicht unter Absehung des Individuums, mithin in einer Begegnung von Mensch und Mensch in einer empathischen Situation.



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Tarvoc
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Mo 6. Nov 2017, 02:38

Ich finde, bezüglich dieser Frage sollte man darüber reden, wie das Anerkennen der Volljährigkeit in gewisser Weise das erst hervorbringt, was es anerkennt. Es ist ja so, dass die gesellschaftlichen Erwartungen nicht ohne Folgen für das Verhalten der Menschen selbst sind. Das Erkennen in diesem Bereich dem Anerkennen strikt vorauszustellen hätte womöglich zur Folge, dass manche Menschen gar nicht erst eine Bemühung unternehmen, mündig zu handeln, weil sie davon ausgehen, dass es nicht von ihnen erwartet wird. Das ist etwas schlecht ausgedrückt - es geht hier darum, dass die Anerkennung der Volljährigkeit das Verhalten und gesellschaftliche Leben des so Anerkannten gewissermaßen neu strukturiert. In diesem Bereich kann man von der Ethnologie lernen, insbesondere von den Forschungen bezüglich sogenannter Übergangsrituale in verschiedenen Kulturen. Eher archaische Kulturen haben oft Übergangsrituale, die eine Art Neugeburt simulieren. Diese Idee hat sicherlich etwas Richtiges an sich.



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Hermeneuticus
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Mo 6. Nov 2017, 07:35

Alethos hat geschrieben :
So 5. Nov 2017, 21:41
Meine Antwort ist nicht die: Es wird keine Kriterien geben, nach denen es sich zweifelsfrei feststellen lässt, ob jemand die Mündigkeit erreicht hat oder nicht.
Hast Du auch einen Vorschlag, wie sie aussehen? Was muss ein Mensch können, um den normativen Status der vollen Rechtsmündigkeit zu erlangen?

Meine Antwort ist die: Die Volljährigkeit wird bei Erreichen des 18. Lebensjahr anerkannt, ungeachtet der persönlichen Verfassung des menschlichen Subjekts. Der Status des Volljährigseins wird sozusagen durch die Regel konstituiert. Ob die Person mündig sei oder nicht, wird sich aber an seinen Handlungen je individuell nachvollziehen lassen, d.h. es braucht bei Auffälligkeit unter Umständen eine psychologische Untersuchung, was eine intensive Beschäftigung mit dem individuellen Menschen bedeutet. Diese Untersuchung wird ebenso nach Regeln der psychologischen Kunst von statten gehen, aber nicht unter Absehung des Individuums, mithin in einer Begegnung von Mensch und Mensch in einer empathischen Situation.
Aber es wären in keinem Fall Psychiater, die der Person ihre Rechtsfähigkeit aberkennen. Es wäre immer ein Richter. Auch würden nicht irgendwelche "Auffälligkeiten" genügen, um das Verfahren in Gang zu setzen, sondern es müssten Rechtsverletzungen geschehen sein, d.h. es müssten die Rechte anderer Personen verletzt worden sein.




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Mo 6. Nov 2017, 07:47

Tarvoc hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 02:38
Ich finde, bezüglich dieser Frage sollte man darüber reden, wie das Anerkennen der Volljährigkeit in gewisser Weise das erst hervorbringt, was es anerkennt. Es ist ja so, dass die gesellschaftlichen Erwartungen nicht ohne Folgen für das Verhalten der Menschen selbst sind. Das Erkennen in diesem Bereich dem Anerkennen strikt vorauszustellen hätte womöglich zur Folge, dass manche Menschen gar nicht erst eine Bemühung unternehmen, mündig zu handeln, weil sie davon ausgehen, dass es nicht von ihnen erwartet wird. Das ist etwas schlecht ausgedrückt - es geht hier darum, dass die Anerkennung der Volljährigkeit das Verhalten und gesellschaftliche Leben des so Anerkannten gewissermaßen neu strukturiert.
Ich finde das gut ausgedrückt. Es wird deutlich, dass "Rechtsfähigkeit" keine bloße Beschreibung von Eigenschaften und Fähigkeiten eines Individuums ist, sondern ein normativer Status, der mit normativen Erwartungen an das Individuum verbunden ist.




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Jörn Budesheim
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Mo 6. Nov 2017, 08:28

Aber es wären in keinem Fall Psychiater, die der Person ihre Rechtsfähigkeit aberkennen. Es wäre immer ein Richter. Auch würden nicht irgendwelche "Auffälligkeiten" genügen, um das Verfahren in Gang zu setzen, sondern es müssten Rechtsverletzungen geschehen sein, d.h. es müssten die Rechte anderer Personen verletzt worden sein.
So was geschieht im Teamwork, soweit ich weiß. Richter und Psychologen arbeiten hier zusammen. Außerdem kann einer Person auch dann die Mündigkeit aberkannt werden, wenn sie eine Gefahr für sich selbst darstellt, als nicht erst, wenn die Rechte anderer Personen verletzt worden sind. Bei einem versuchten Selbstmord (beispielsweise) werden nach meinem Wissen ein Psychologe und ein Richter konsultiert. Der Psychologe untersucht die fragliche Person, um herauszufinden, ob diejenigen geistigen Eigenschaften in ausreichendem Maße vorliegen, die nötig sind, damit die Person verantwortlich gemacht werden kann für ihr Handeln. Nur wenn das nicht der Fall ist, kommt der Richter ins Spiel. Wenn es also kein selbstbestimmter Bilanzselbstmord geplant war, muss die Person vor sich selbst geschützt werden und ihre Selbstbestimmungsrechte werden de jure eingeschränkt, weil sie es de facto sind. @'Stefanie' sollte das besser wissen, schätze ich. Ich kenne es vom Hörensagen, da ein guter Bekannter von mir Richter ist und regelmäßig solche Einsätze hat.




Hermeneuticus
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Mo 6. Nov 2017, 09:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 08:28
Aber es wären in keinem Fall Psychiater, die der Person ihre Rechtsfähigkeit aberkennen. Es wäre immer ein Richter. Auch würden nicht irgendwelche "Auffälligkeiten" genügen, um das Verfahren in Gang zu setzen, sondern es müssten Rechtsverletzungen geschehen sein, d.h. es müssten die Rechte anderer Personen verletzt worden sein.
So was geschieht im Teamwork, soweit ich weiß. Richter und Psychologen arbeiten hier zusammen.
Aber die Kompetenzen bleiben strikt getrennt. Ein Psychologe kann nicht Recht sprechen und nicht in die Rechte von Personen eingreifen. Er wird als Sachverständiger gehört und legt ein Gutachten vor - zu dem es auch Gegengutachten geben kann. Eine rechtlich bindende Entscheidung kann er nicht treffen.
Außerdem kann einer Person auch dann die Mündigkeit aberkannt werden, wenn sie eine Gefahr für sich selbst darstellt, als nicht erst, wenn die Rechte anderer Personen verletzt worden sind.
Ja. Allerdings ist auch die Selbstgefährdung eine Rechtsverletzung. Die körperliche Unversehrtheit einer Person wird eben als ein vom Recht zu schützendes Gut angesehen; der Staat ist verpflichtet, dieses grundrechtlich garantierte Gut zu schützen - auch dann, wenn die betreffende Person selbst es ist, die dieses Gut verletzt. Man kann das auch so herum formulieren, dass die Person eine rechtliche Pflicht hat, mit dem Gut ihres Lebens sorgfältig umzugehen. Und wenn sie dieser Pflicht nicht selbst nachkommen kann, tut dies der Staat, gewissermaßen treuhänderisch. - Die Justiz kann grundsätzlich nur tätig werden, wenn rechtlich relevante Sachverhalte verletzt oder bedroht sind.
Wenn es also kein selbstbestimmter Bilanzselbstmord geplant war, muss die Person vor sich selbst geschützt werden und ihre Selbstbestimmungsrechte werden de jure eingeschränkt, weil sie es de facto sind.
Dieses Müssen kommt aber vom Recht her, ist also ein normatives Müssen. - Natürlich wird Recht generell aufgrund von Tatsachen gesprochen. Person X wird nur dann als Mörder verurteilt, wenn sie de facto eine andere Person vorsätzlich und aus niederen Beweggründen getötet hat. Aber: Was ein faktischer Mord ist, wird vom Recht selbst festgelegt. Das heißt, "Mord" ist ein normativ signifikantes Faktum. Gäbe es kein Gesetz, das die vorsätzliche Tötung eines Menschen aus niederen Beweggründen verbietet, könnte es auch keine faktischen Morde geben. Was ein Mord "an sich" ist, wird also von Normen konstituiert.




Hermeneuticus
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Mo 6. Nov 2017, 09:46

Dass eine Person auch vor Gefährdungen zu schützen ist, die von ihr selbst ausgehen, ist aufschlussreich für das Verständnis der "Achtung", die von der Menschenwürde eingefordert wird. Denn daran wird deutlich, dass das, was da geachtet werden soll, uns auch gegenüber uns selbst verpflichtet. Wir schulden also diese Achtung immer auch unserer eigenen Würde. Das hat letztlich seinen Grund darin, dass der Rechtsbegriff der Menschenwürde a) strikt egalitär ist und b) jedes Recht immer zugleich eine Pflicht ist (nämlich die Pflicht, das entsprechende Recht der anderen zu achten).

(Kant: "Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, dass jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.")
Zuletzt geändert von Hermeneuticus am Mo 6. Nov 2017, 09:58, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Mo 6. Nov 2017, 09:49

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 09:46
Dass eine Person auch vor Gefährdungen zu schützen ist, die von ihr selbst ausgehen...
Bilanzselbstmord ist erlaubt, schätze ich. Die Person wird vor sich selbst geschützt, wenn ihr das nötige Rüstzeug fehlt, aus Einsicht zu handeln.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 09:49
Bilanzselbstmord ist erlaubt, schätze ich. Die Person wird vor sich selbst geschützt, wenn ihr das nötige Rüstzeug fehlt, aus Einsicht zu handeln.
Das tut aber die Justiz nicht, wie es vielleicht Freunde oder Verwandte dieser Person tun - aus Fürsorge, Liebe, Empathie für sie. Sondern sie tut es unparteilich - also ohne jede Voreingenommenheit für diese Person. Und sie tut es, weil ein Rechtsgut gefährdet ist. Andernfalls dürfte sie gar nicht eingreifen.




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Jörn Budesheim
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Mo 6. Nov 2017, 10:14

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 09:13
Aber die Kompetenzen bleiben strikt getrennt.
Ich glaube nicht, kann mich aber irren. Soweit ich es verstanden habe, ist der Gutachter nur eine Art "Werkzeug". Das heißt, wenn ich es richtig sehe, dann entscheidet allein der Richter aufgrund der Umstände und des Gesetzes. Die Kompetenzen bleiben also nicht strikt getrennt. Der Richter urteilt, ob die Person die nötigen geistigen Eigenschaften aufweist, die sie befähigt, eigenverantwortlich zu handeln und dementsprechend wird die Mündigkeit eingeschränkt oder nicht. (Wie das korrekte Vokabular lautet, weiß ich auch nicht.)




Hermeneuticus
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Mo 6. Nov 2017, 11:17

Ich zitiere mal ein paar Stellen aus den Wiki-Artikeln "Rechtsfähigkeit" und "Rechtsfähigkeit (Deutschland)".
Rechtsfähig ist, wer Rechtspflichten und Rechte haben und rechtsgestaltende Handlungen vornehmen kann. Diese Rechtsfähigkeit (englisch legal capacity) haben von Natur aus nur Menschen; denn nur sie „verstehen den Sinn rechtlicher Gebote und können sich nach ihnen richten. Auch … zu rechtsgestaltenden Handlungen … sind nur Menschen fähig“.[1]

(...)

Wer oder was rechtsfähig und damit Rechtssubjekt ist, legt die jeweilige Rechtsordnung fest. Ob eine Rechtsordnung einem Menschen die Rechtssubjektivität absprechen kann, ist eine Frage der Menschenrechte.
Der Grundsatz, dass alle Personen rechtsfähig sind (allgemeine Rechtsfähigkeit), bedeutet nicht, dass jeder jedes Recht genießt. Einige Rechtsstellungen erfordern besondere Merkmale, wie Alters- oder Geschlechtsgebundenheit, so beispielsweise die Volljährigkeit (besondere Rechtsfähigkeit). Im rechtsgeschäftlichen Verkehr des Schuld-, Sachen- und Handelsrechts bleibt im Allgemeinen jedem der Zugang zu den Rechtsinstituten offen.

(...)

Um materiellem Recht verbindliche Wirkung zu verschaffen, sind Rechtssubjekte als Normadressaten erforderlich. Die Rechtsbeziehungen zwischen Rechtssubjekten zueinander und zwischen Rechtssubjekten und Rechtsobjekten lassen sich allein dann regeln, wenn hierfür die Rechtsfähigkeit der Rechtssubjekte sichergestellt ist (Rechte und Pflichten).
Der Begriff der Rechtsfähigkeit ist im BGB nicht legaldefiniert.[1] Die Rechtsfähigkeit beginnt mit der Geburt, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Staatsangehörigkeit oder Herkunft. Sie kann weder durch Vertrag, Verzicht oder hoheitliche Aberkennung aufgehoben werden.[2] Sie endet mit dem Tod (§ 1922 Abs. 1 BGB). Die Beendigung der Rechtsfähigkeit erfolgt nach verbreiteter Meinung mit Eintreten des Hirntodes.[3] Nach dem Tod besteht keine Rechtsfähigkeit mehr, gleichwohl aber ein postmortales Persönlichkeitsrecht.

(...)

Zu unterscheiden sind die Begriffe Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit. Handlungsfähigkeit ist die Fähigkeit, durch eigenes Handeln Rechtsfolgen herbeizuführen.
Natürlich verästeln und differenzieren diese allgemeinen Bestimmungen sich immer weiter, aber das muss uns hier nicht interessieren. - Was aber die Zitate ganz deutlich werden lassen, ist dies: Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit sind - juristisch - strikt rechts-immanent definiert. Sie beschreiben keine konkreten Fähigkeiten an konkreten Individuen, sondern sie formulieren normative Anforderungen, die von den Individuen zu erfüllen sind, um als rechts- und handlungsfähig anerkannt zu werden.

Besonders aufschlussreich die Bestimmung der Handlungsfähigkeit, als Fähigkeit, durch eigenes Handeln Rechtsfolgen herbeizuführen. Diese Fähigkeit wird durch nichts anderes definiert, als durch die normativen Konsequenzen, die sie haben kann. Im Grunde reicht dazu die Fähigkeit, den Sinn von (Rechts-) Normen zu verstehen und aufs eigene Handeln anzuwenden, also das eigene Handeln im Lichte dieser Normen zu gestalten.

Man kann allgemein feststellen: Das Recht interessiert sich nur für das, was es an sich zieht und regelt. Und was es an sich zieht, sind dann stets normativ signifikante Sachverhalte. Nicht-Rechtliches kommt immer nur genau so weit in Betracht, als es für die rechtliche Beurteilung im konkreten Fall erforderlich ist.

(Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als sei das Recht eine in sich abgekapselte Welt, die über der konkreten Welt mit ihren konkreten Menschen schwebte. :-) Aber das ist natürlich eine Täuschung. Denn das Recht hat, wie alle Normen - siehe das Regelregress-Argument! -, seine primäre Realität im konkreten Handeln der Menschen. Das rechtliche Handeln der Menschen ist, ontologisch gesehen, die grundlegende Wirklichkeit des Rechts. Die expliziten Formulierungen der Rechte sind nur möglich, weil es rechtliches Handeln gibt.... )




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Jörn Budesheim
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Mo 6. Nov 2017, 12:03

Der Punkt ist, dass in den fraglichen Fällen überprüft wird, ob bei den Personen bestimmte Eigenschaften vorliegen oder nicht. Liegen sie nicht vor, hat das die entsprechenden Konsequenzen.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 12:03
Der Punkt ist, dass in den fraglichen Fällen überprüft wird, ob bei den Personen bestimmte Eigenschaften vorliegen oder nicht. Liegen sie nicht vor, hat das die entsprechenden Konsequenzen.
Nur hängt eben das "Vorliegen" dieser Eigenschaften bereits von Normen ab. Siehe mein Beispiel mit dem Mord. Mord kann überhaupt nur "vorliegen", weil es eine Norm gibt, die das vorsätzliche Töten anderer Menschen aus niederen Motiven verbietet. Der Wolf, der ein Schaf reißt, der Kampfhund, der einem anderen Lebewesen die Gurgel durchbeißt, begehen keine Morde. "Mord" ist also ein normativ konstituiertes Faktum. - Das ist der Punkt.




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Mo 6. Nov 2017, 12:41

Weitere Beispiele für normativ konstituierte Tatsachen:

Am Schachbrett zieht ein Spieler mit einem Bauern ein Feld geradeaus und ein Feld diagonal. Es liegt zweifellos die Bewegung einer Figur über das Spielfeld vor. Was aber definitiv nicht vorliegt: ein Zug im Schachspiel.

Im Fußballspiel befördert ein Spieler den Ball heimlich mit seiner Hand ins gegnerische Tor. Es liegt danach zweifellos die Tatsache vor, dass der Ball im Tor ist. Was aber definitiv nicht vorliegt, ist ein Tor im Sinne des Fußballspiels. Denn das liegt nur vor, wenn der Ball regelkonform ins Tor gelangt ist.




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Jörn Budesheim
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Mo 6. Nov 2017, 13:20

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 12:41
Weitere Beispiele für normativ konstituierte Tatsachen:

Am Schachbrett zieht ein Spieler mit einem Bauern ein Feld geradeaus und ein Feld diagonal. Es liegt zweifellos die Bewegung einer Figur über das Spielfeld vor. Was aber definitiv nicht vorliegt: ein Zug im Schachspiel.
Ja, das Beispiel zeigt recht schön, dass wir es bei den Dingen, um dies hier geht keineswegs mit so etwas wie Spielregeln zu tun haben. Diese Regeln sind nämlich komplett "zufällig", sind könnten ganz anders sein und sind frei verhandelbar. Bei der Frage oben, ob eine Person die nötigen geistigen Eigenschaften hat, um selbstbestimmt handeln zu können, liegen die Dinge offensichtlich völlig anders. Wenn wir danach fragen, fragen wir ganz anders, als wenn wir danach fragen wie Springer oder Bauern ziehen, da geht es um wirkliche Eigenschaften, die eben nicht zufällig gewählt sind und daher auch völlig anders sein könnten.




Hermeneuticus
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Mo 6. Nov 2017, 13:43

Unbestritten. Die Prinzipien des Rechts sind keine willkürlichen, kontingenten Normen. Es ist sogar der tiefere Sinn dieser Prinzipien, Willkür zu unterbinden. Nur ändert das nichts an der Tatsache, dass es normative Prinzipien sind, die nicht beschreiben, was regelmäßig der Fall ist, sondern vorschreiben, wie wir handeln sollen.

Wenn es also um die Menschenwürde als Rechtsbegriff geht (und als solcher wird er doch zweifellos z.B. im deutschen Grundgesetz verwendet), haben wir es nicht mit der Beschreibung dieser oder jener menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu tun, sondern mit einem normativen Sachverhalt. Daran ändert der Wortlaut von Art. 1, I nichts, der sich liest wie Tatsachenfeststellung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dem Sinn nach ist doch gemeint: Die Menschenwürde soll niemals angetastet werden; denn ist eben ein besonders verletzliches (Rechts-) Gut.

Ich meine, es ist schon begründungsbedürftig genug, Normen und Werte aus Tatsachen herleiten zu wollen. Aber gleich auch noch den Unterschied zwischen Normativität (Sollen) und Faktizität (Sein) zu kassieren, ist denn doch zu viel auf einmal. :)




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Stefanie
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Mo 6. Nov 2017, 14:07

Daran ändert der Wortlaut von Art. 1, I nichts, der sich liest wie Tatsachenfeststellung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dem Sinn nach ist doch gemeint: Die Menschenwürde soll niemals angetastet werden; denn ist eben ein besonders verletzliches (Rechts-) Gut.
Warum hat sich der Gesetzgeber dazu entschlossen, dass die Menschenwürde ein besonders verletzlich Rechtsgut ist, bzw. dass sie unantastbar ist? So aus Jux und Dollerei?

Art.1 wird aber von der noch vorherrschenden Meinung als deklaratorisch aufgefasst und nicht als konstituierend.

Mal ein Link zum Juristenstreit zu dieser Frage:
http://www.zeit.de/2003/38/Art__1_GG/seite-3



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Hermeneuticus
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Mo 6. Nov 2017, 14:28

Stefanie hat geschrieben :
Mo 6. Nov 2017, 14:07
Warum hat sich der Gesetzgeber dazu entschlossen, dass die Menschenwürde ein besonders verletzlich Rechtsgut ist, bzw. dass sie unantastbar ist? So aus Jux und Dollerei?
Nein, natürlich nicht. Aber das behauptet doch auch niemand. - In diese Entscheidung ist vielerlei eingeflossen, so z.B. die Entwicklung des modernen Rechtsstaates seit der Aufklärung; Kants Moral- und Rechtsphilosophie hatte darauf in Deutschland einen deutlichen Einfluss; und selbstverständlich sind auch die historischen Konflikte und Verbrechen des 20.Jh. ein Grund für diese Formulierung gewesen. Ich würde darum grob so sagen: Die ausdrückliche Erhebung der Menschenwürde zum höchsten Rechtsgut resultierte - wie auch schon der moderne Rechts- und Verfassungsstaat - aus der rationalen Verarbeitung realer Konflikte und Katastrophen des menschlichen Zusammenlebens. Denn das ist doch seit Anbeginn der Sinn allen Rechts: die rationale, friedliche und schiedliche Kontrolle über (typische) Konfliktherde des menschlichen Zusammenlebens.
Art.1 wird aber von der noch vorherrschenden Meinung als deklaratorisch aufgefasst und nicht als konstituierend.
Ob deklarotisch oder konstituierend - in jedem Fall ist die Menschenwürde ein Rechtsgut, also ein normativer Sachverhalt. Es ist also keine Tatsachenfeststellung oder -beschreibung, sondern eine oberste Leitlinie, eine Vorschrift fürs menschliche (primär staatliche, gesetzgeberische) Handeln.




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Stefanie
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Mo 6. Nov 2017, 14:38

Ich sehe es nicht so, dass außen vorgelassen werden kann, ob es deklatorisch oder konstitutiv ist. Das macht einen Unterschied.

Die Menschenwürde des Art.1 ist für alle anderen gesetzten Rechte der Maßstab, das Maß aller Dinge sozusagen. In diesem Sinne wird die Menschenwürde als dispositives Recht für die anderen (Menschen/Grund) Rechte angesehen. Bricht Art.1 weg, brechen die anderen Rechte auch weg. Die Ewigkeitsgarantie sagt aus, dass der Wesenskern eines Grundrechtes nicht angetastet und geändert werden darf.
Was ist der Wesenskern der Menschenwürde? Ist diese "nur lediglich" ein Rechtsgut, ein normativer Sachverhalt, dann ist der Wesenskern meiner Meinung nicht richtig erfasst und angreifbar. Was ist der Wesenskern dieses Rechtsgutes?

Etwas Off-Topic: Ich hatte mir mal die Verfassung der Schweiz angesehen. In einem Punkt haben die Schweizer es besser gemacht, als die Mütter und Väter des GG. Die Abschaffung der Todesstrafe steht in unserem GG nicht unter der Ewigkeitsgarantie, bei der Schweiz schon.
Bei uns kann der Art. 102 geändert werden, es gibt keine Ewigkeitsgarantie für diesen Artikel. Die Verhinderung einer Änderung des Art. 102, die letztendlich nur daraus bestehen kann, die Todesstrafe wieder einzuführen, könnte nur mit einer Herleitung aus Art.1 verhindert werden. Ist Art.1 nicht "stark" genug, kann dies scheitern.



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