Stefanie hat geschrieben : ↑ Di 7. Nov 2017, 11:48
Das gab es aber zum Beispiel nicht im Mittelalter. Es gab keine rechtlichen Normen zur Menschenwürde, es war menschliche Praxis, dass es Sklaven gab, Unfreie Bürger und die Folter und noch so einiges mehr. Hatte ein Sklave keine Menschenwürde, nur weil diese damals nicht in rechtlichen und moralischen Normen geregelt wurde? Warum wehrten sich dann etliche gegen ihre Lebensumstände und gegen ihre Behandlungen?
Es gab in der Tat keine Menschenrechte. Aber es gab - man darf wohl davon ausgehen: zu allen Zeiten - praktische Anerkennungsverhältnisse im menschlichen Zusammenleben, die auf Gegenseitigkeit beruhten und in denen die Beteiligten sich (zwar nicht als gleich, aber) als gleich
berechtigt betrachteten. - Schon Kinder im Vorschulalter haben einen Begriff von Gleichberechtigung - was sich etwa in Fragen äußert wie: "Wenn x das darf, warum darf ich das nicht?"
Auch gab es sicher schon sehr früh Praxen der Rechtsprechung, in denen Konflikte zwischen interessierten Parteien durch einen unbeteiligten Dritten geschlichtet wurden, dessen Urteil die Streitenden als unparteilich und verbindlich anerkannten. Dass z.B. streitende Geschwister zur Mutter gelaufen kommen, um von ihr beurteilen zu lassen, wer im Recht sei, ist bestimmt keine exklusiv neuzeitliche Erscheinung.
Gleichberechtigung und Unparteilichkeit sind also, da bereits kleine Kinder sie verstehen, wohl ziemlich naheliegende Konzepte. Sie liegen gewissermaßen
in der Logik von Konflikten, und rational begabte Wesen kommen offenbar ohne umständliche Anleitung durch Rechtskundige von selbst darauf. So überrascht es nicht, dass man Varianten der berühmten "Goldenen Regel" (auch Kants KI ist nur eine dieser Varianten...) in so ziemlich allen Kulturen finden konnte.
Aus: Wiki-Artikel "Goldene Regel"
Als Goldene Regel (lateinisch regula aurea; englisch golden rule) bezeichnet man einen alten und verbreiteten Grundsatz der praktischen Ethik:[1]
„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“
Die negative Fassung ist als gereimtes Sprichwort bekannt:[2]
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Anglikanische Christen prägten den Ausdruck golden rule seit 1615 zunächst für die in der Bibel überlieferten Regelbeispiele (Tob 4,15 EU; Mt 7,12 EU; Lk 6,31 EU), die das Toragebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 EU) als allgemein gültiges und einsehbares Verhalten auslegen. Die christliche Theologie sah darin seit Origenes den Inbegriff eines allgemein einsichtigen Naturrechts, durch das Gottes Wille allen Menschen von jeher bekannt sei.[3]
Ähnliche, negativ oder positiv formulierte Merksprüche oder Lehrsätze sind seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in religiösen und philosophischen Texten aus China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland überliefert.[4] Diese Texte entstanden teilweise zeitlich parallel und werden nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückgeführt. Wie das fortbestehende Vergeltungsprinzip (ius talionis) und das Tauschprinzip (do ut des) sind sie auf Wechselseitigkeit im Sozialverhalten bezogen und reden Jeden an, setzen also ein Individualitäts- und Gattungsbewusstsein in nicht mehr überwiegend tribalistisch organisierten Gesellschaftsformen voraus. Seit außereuropäische Analogien in Europa bekannt wurden, bezog man den Ausdruck Goldene Regel auch darauf. Seitdem bezeichnet er einen angenommenen ethischen Minimalkonsens unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen und eine „unschätzbare Nützlichkeit“ als ethischer Wegweiser.[5]
Die Regel verlangt einen Perspektivenwechsel in personaler Relation und macht das Sich-Hineinversetzen in die Lage Betroffener zum Kriterium für moralisches Handeln. Das gilt auf jeden Fall als Schritt zu ethischer Eigenverantwortung[6] mit der Kraft zur Selbstkorrektur: Missbräuchliche, wörtliche Anwendungen der Regel können wiederum mit ihr auf moralische Konsistenz befragt werden.[7] Da sie keine inhaltliche Norm für richtiges oder falsches Verhalten benennt, wurde sie historisch verschieden gedeutet: etwa als Appell an eigennützige Klugheit, die Vor- und Nachteile zu erwartender Reaktionen auf das eigene Handeln zu bedenken, oder als Forderung nach Fairness, die Interessen und Wünsche Anderer als gleichwertig mit den eigenen zu berücksichtigen, oder als Achtung der Menschenwürde Anderer, die allgemeingültige Maßstäbe für ethisches Handeln impliziert.[8] In der Philosophie der Neuzeit wurde sie oft als ethisch untaugliche Maxime verworfen oder auf verschiedene Weisen ergänzt und präzisiert.
Gehapert hat es zu allen Zeiten mit der konsequenten Anwendung dieser Konzepte und besonders mit ihrer Verallgemeinerung auf
alle Menschen. Die Bereitschaft zu ihrer Anwendung nahm wohl immer schon - und nimmt bis heute - gegenüber "Fremden" (und solchen, die man dazu erklärte) ab. Wenn es ein Verbrechen war, Frauen und Kinder aus dem eigenen Stamm zu schänden, zu töten oder zu rauben, so war das gleiche mit Angehörigen der befeindeten Stämme gang und gäbe. Und so wurden ja auch immer nur Feinde oder Fremde, die man womöglich nicht als vollwertige Menschen betrachtete, versklavt. (Das halte ich übrigens für einen wichtigen Grund, der Empathiefähigkeit in diesen Belangen kein allzu großes Gewicht beizumessen; Empathie versagt nämlich gewissermaßen systematisch bei den "Fremden" und "Anderen".)
Mit dem Größenwachstum der menschlicher Gesellschaften wuchs auch der Bedarf an einer verallgemeinerten Anwendung der normativen Begriffe von Gleichberechtigung und Unparteilichkeit. Denn ein großes Gemeinwesen umfasst eben viele Familien, Clans, Stämme, Kulturen, Völker, und damit vermehren sich die typischen Konfliktherde, die jeweils an den Rändern dieser Gemeinschaften entstehen, exponentiell. Heute kann man wegen der weltweiten faktischen Verflechtungen und Interdependenzen zwischen den Menschen mit gutem Grund von einer "Weltgesellschaft" sprechen. Und seit der Mensch dazu fähig ist, die gesamte Menschheit auf einen Schlag zu vernichten; seit sich abzeichnet, dass gewisse globale Entwicklungen (Klima, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung) das Überleben der gesamten Menschheit bedrohen, darf man die Menschheit auch als eine veritable "Schicksalsgemeinschaft" betrachten. Für die Konzepte von Gleichberechtigung und Unparteilichkeit (sowie ihre Ausbuchstabierung in positivem Recht) gibt es mithin inzwischen einen globalen praktischen Bedarf; es ist nun nicht mehr so leicht, globale Rechtskonzepte als weltfremde Phantasien abzutun. Diese Konzepte haben nun neben ihrer Rationalität auch noch einen handfesten praktischen Nutzen, der für sie spricht.
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So weit also meine Antwort in Skizzenform. Ich hoffe, es wird daran verständlich, welche Art von "Realität" oder "Wirklichkeit" für mich die Menschenwürde und die Menschenrechte haben. Es ist eine
praktische Realität, d.h. eine Realität in den faktischen Lebensformen des Menschen. Und da der Mensch ein Wesen ist, dessen Sein nicht bloß ein (von der Natur oder von Gott)
gegebenes ist, sondern wesentlich davon abhängt,
was er aus sich macht und machen will, sollte man diese praktische Realität nicht auf die leichte Schulter nehmen oder als eine Wirklichkeit zweiter Klasse abtun.