Der Rechtsbegriff "Menschenwürde": Eine Kritik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Hermeneuticus
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Stefanie hat geschrieben :
Di 7. Nov 2017, 11:48
Jetzt schreibe ich mal, dass ist für mich keine ausreichende Antwort.
Insofern bin ich durchaus empfänglich für die These, dass die Menschenrechte und die Menschenwürde etwas Faktisches sind. Aber sie haben eben ihre Faktizität in der Anwendung von rechtlichen und moralischen Normen, d.h. im rechtlich und sittlich geordneten Leben der Menschen
Das gab es aber zum Beispiel nicht im Mittelalter. Es gab keine rechtlichen Normen zur Menschenwürde, es war menschliche Praxis, dass es Sklaven gab, Unfreie Bürger und die Folter und noch so einiges mehr. Hatte ein Sklave keine Menschenwürde, nur weil diese damals nicht in rechtlichen und moralischen Normen geregelt wurde?` Warum wehrten sich dann etliche gegen ihre Lebensumstände und gegen ihre Behandlungen?
Gegenfrage: Wenn jeder Mensch durch sein bloßes Dasein eine leicht erkennbare Menschenwürde hat - warum wurde und wird sie dann von so vielen Menschen nicht erkannt und geachtet? Warum ist nicht jeder Mensch zusammen mit seiner naturgegebenen Würde zugleich auch mit einer natürlichen Unfähigkeit ausgestattet, die Menschenwürde zu verkennen und zu verletzen? Warum muss der Mensch nichts für seine Würde leisten, während er durch ethische Erziehung, Recht und Strafverfolgung mühsam daran gehindert werden muss, die Menschenwürde zu verletzen? Besteht da nicht ein merkwürdiges Ungleichgewicht in der natürlichen Ausstattung des Menschen?
Beantwortest Du diese Fragen, wenn ich Deine beantworte?




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Jörn Budesheim
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Daraus, dass etwas nicht durchgängig erkannt wird, folgt nicht dass es nicht existiert. Ich hoffe, darauf können wir uns schnell einigen.

Manche Fähigkeiten, die wir eigentlich haben, können durch widrige Lebensumstände verdorren oder sich nicht voll entfalten. Menschen können, obwohl sie eigentlich empathische Lebewesen sind, durchaus abstumpfen. Negative Eigenschaften, die wir ohne Frage auch im Übermaß besitzen, können die positiven verdrängen, überdecken oder zur Seite schieben. So sind in uns Angst, Streß und manchmal gar Aggressionen angelegt wenn wir (sichtbar) Unbekannten begegnen. Diese Anlage Fremden gegenüber "distanziert" (vorsichtig formuliert) zu sein, kann andere angelegte Fähigkeiten überdecken und dazu führen, dass sie nicht angemessen entfaltet werden - zum Beispiel die Fähigkeit, die Präsenz des anderen im wechselseitigen Blick zu spüren und den Wert, der sich darin ausdrückt zu erkennen und zwar auch dann, wenn er uns vordergründig fremd ist. Das ist ein Lernprozess. Ich hatte bereits betont, dass Würde auch eine Aufgabe ist. Wir haben die Aufgabe, Lebensverhältnisse zu schaffen, in denen sich diese Werte entfalten können und in denen die Menschen ihren Wert gegenseitig schätzen und erkennen können.

Die Menschen sind beispielsweise Ihrer Anlage nach frei und der Umstand, dass sie diese Freiheit nicht zu allen Zeiten und an allen Orten voll entwickeln konnten, bedeutet nicht, dass diese Freiheit im Kern nicht stets vorhanden war.




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Mi 8. Nov 2017, 12:05

Stefanie hat geschrieben :
Di 7. Nov 2017, 11:48
Das gab es aber zum Beispiel nicht im Mittelalter. Es gab keine rechtlichen Normen zur Menschenwürde, es war menschliche Praxis, dass es Sklaven gab, Unfreie Bürger und die Folter und noch so einiges mehr. Hatte ein Sklave keine Menschenwürde, nur weil diese damals nicht in rechtlichen und moralischen Normen geregelt wurde? Warum wehrten sich dann etliche gegen ihre Lebensumstände und gegen ihre Behandlungen?
Es gab in der Tat keine Menschenrechte. Aber es gab - man darf wohl davon ausgehen: zu allen Zeiten - praktische Anerkennungsverhältnisse im menschlichen Zusammenleben, die auf Gegenseitigkeit beruhten und in denen die Beteiligten sich (zwar nicht als gleich, aber) als gleichberechtigt betrachteten. - Schon Kinder im Vorschulalter haben einen Begriff von Gleichberechtigung - was sich etwa in Fragen äußert wie: "Wenn x das darf, warum darf ich das nicht?"

Auch gab es sicher schon sehr früh Praxen der Rechtsprechung, in denen Konflikte zwischen interessierten Parteien durch einen unbeteiligten Dritten geschlichtet wurden, dessen Urteil die Streitenden als unparteilich und verbindlich anerkannten. Dass z.B. streitende Geschwister zur Mutter gelaufen kommen, um von ihr beurteilen zu lassen, wer im Recht sei, ist bestimmt keine exklusiv neuzeitliche Erscheinung.

Gleichberechtigung und Unparteilichkeit sind also, da bereits kleine Kinder sie verstehen, wohl ziemlich naheliegende Konzepte. Sie liegen gewissermaßen in der Logik von Konflikten, und rational begabte Wesen kommen offenbar ohne umständliche Anleitung durch Rechtskundige von selbst darauf. So überrascht es nicht, dass man Varianten der berühmten "Goldenen Regel" (auch Kants KI ist nur eine dieser Varianten...) in so ziemlich allen Kulturen finden konnte.
Aus: Wiki-Artikel "Goldene Regel"

Als Goldene Regel (lateinisch regula aurea; englisch golden rule) bezeichnet man einen alten und verbreiteten Grundsatz der praktischen Ethik:[1]
„Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“
Die negative Fassung ist als gereimtes Sprichwort bekannt:[2]
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“
Anglikanische Christen prägten den Ausdruck golden rule seit 1615 zunächst für die in der Bibel überlieferten Regelbeispiele (Tob 4,15 EU; Mt 7,12 EU; Lk 6,31 EU), die das Toragebot der Nächstenliebe (Lev 19,18 EU) als allgemein gültiges und einsehbares Verhalten auslegen. Die christliche Theologie sah darin seit Origenes den Inbegriff eines allgemein einsichtigen Naturrechts, durch das Gottes Wille allen Menschen von jeher bekannt sei.[3]

Ähnliche, negativ oder positiv formulierte Merksprüche oder Lehrsätze sind seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in religiösen und philosophischen Texten aus China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland überliefert.[4] Diese Texte entstanden teilweise zeitlich parallel und werden nicht auf eine gemeinsame Quelle zurückgeführt. Wie das fortbestehende Vergeltungsprinzip (ius talionis) und das Tauschprinzip (do ut des) sind sie auf Wechselseitigkeit im Sozialverhalten bezogen und reden Jeden an, setzen also ein Individualitäts- und Gattungsbewusstsein in nicht mehr überwiegend tribalistisch organisierten Gesellschaftsformen voraus. Seit außereuropäische Analogien in Europa bekannt wurden, bezog man den Ausdruck Goldene Regel auch darauf. Seitdem bezeichnet er einen angenommenen ethischen Minimalkonsens unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen und eine „unschätzbare Nützlichkeit“ als ethischer Wegweiser.[5]

Die Regel verlangt einen Perspektivenwechsel in personaler Relation und macht das Sich-Hineinversetzen in die Lage Betroffener zum Kriterium für moralisches Handeln. Das gilt auf jeden Fall als Schritt zu ethischer Eigenverantwortung[6] mit der Kraft zur Selbstkorrektur: Missbräuchliche, wörtliche Anwendungen der Regel können wiederum mit ihr auf moralische Konsistenz befragt werden.[7] Da sie keine inhaltliche Norm für richtiges oder falsches Verhalten benennt, wurde sie historisch verschieden gedeutet: etwa als Appell an eigennützige Klugheit, die Vor- und Nachteile zu erwartender Reaktionen auf das eigene Handeln zu bedenken, oder als Forderung nach Fairness, die Interessen und Wünsche Anderer als gleichwertig mit den eigenen zu berücksichtigen, oder als Achtung der Menschenwürde Anderer, die allgemeingültige Maßstäbe für ethisches Handeln impliziert.[8] In der Philosophie der Neuzeit wurde sie oft als ethisch untaugliche Maxime verworfen oder auf verschiedene Weisen ergänzt und präzisiert.
Gehapert hat es zu allen Zeiten mit der konsequenten Anwendung dieser Konzepte und besonders mit ihrer Verallgemeinerung auf alle Menschen. Die Bereitschaft zu ihrer Anwendung nahm wohl immer schon - und nimmt bis heute - gegenüber "Fremden" (und solchen, die man dazu erklärte) ab. Wenn es ein Verbrechen war, Frauen und Kinder aus dem eigenen Stamm zu schänden, zu töten oder zu rauben, so war das gleiche mit Angehörigen der befeindeten Stämme gang und gäbe. Und so wurden ja auch immer nur Feinde oder Fremde, die man womöglich nicht als vollwertige Menschen betrachtete, versklavt. (Das halte ich übrigens für einen wichtigen Grund, der Empathiefähigkeit in diesen Belangen kein allzu großes Gewicht beizumessen; Empathie versagt nämlich gewissermaßen systematisch bei den "Fremden" und "Anderen".)

Mit dem Größenwachstum der menschlicher Gesellschaften wuchs auch der Bedarf an einer verallgemeinerten Anwendung der normativen Begriffe von Gleichberechtigung und Unparteilichkeit. Denn ein großes Gemeinwesen umfasst eben viele Familien, Clans, Stämme, Kulturen, Völker, und damit vermehren sich die typischen Konfliktherde, die jeweils an den Rändern dieser Gemeinschaften entstehen, exponentiell. Heute kann man wegen der weltweiten faktischen Verflechtungen und Interdependenzen zwischen den Menschen mit gutem Grund von einer "Weltgesellschaft" sprechen. Und seit der Mensch dazu fähig ist, die gesamte Menschheit auf einen Schlag zu vernichten; seit sich abzeichnet, dass gewisse globale Entwicklungen (Klima, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung) das Überleben der gesamten Menschheit bedrohen, darf man die Menschheit auch als eine veritable "Schicksalsgemeinschaft" betrachten. Für die Konzepte von Gleichberechtigung und Unparteilichkeit (sowie ihre Ausbuchstabierung in positivem Recht) gibt es mithin inzwischen einen globalen praktischen Bedarf; es ist nun nicht mehr so leicht, globale Rechtskonzepte als weltfremde Phantasien abzutun. Diese Konzepte haben nun neben ihrer Rationalität auch noch einen handfesten praktischen Nutzen, der für sie spricht.

- - - - - - - - - - - - - -

So weit also meine Antwort in Skizzenform. Ich hoffe, es wird daran verständlich, welche Art von "Realität" oder "Wirklichkeit" für mich die Menschenwürde und die Menschenrechte haben. Es ist eine praktische Realität, d.h. eine Realität in den faktischen Lebensformen des Menschen. Und da der Mensch ein Wesen ist, dessen Sein nicht bloß ein (von der Natur oder von Gott) gegebenes ist, sondern wesentlich davon abhängt, was er aus sich macht und machen will, sollte man diese praktische Realität nicht auf die leichte Schulter nehmen oder als eine Wirklichkeit zweiter Klasse abtun.




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Jörn Budesheim
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Mi 8. Nov 2017, 16:55

Du beschreibst, dass Menschen ein Gerechtigkeitsempfinden haben, aber was ist der Bezug zum Thema Menschenwürde?




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Stefanie
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Mi 8. Nov 2017, 19:35

Hier eine interessante Zusammenstellung zur Entwicklung der Menschenwürde:

http://www.bpb.de/izpb/8322/idee-der-menschenrechte?p=1
Aber es gab - man darf wohl davon ausgehen: zu allen Zeiten - praktische Anerkennungsverhältnisse im menschlichen Zusammenleben, die auf Gegenseitigkeit beruhten und in denen die Beteiligten sich (zwar nicht als gleich, aber) als gleichberechtigt betrachteten.
Das bezweifel ich. Im antiken Griechenland waren ganze Gruppen davon ausgeschlossen, Frauen und Sklaven. Wenn, dann gab es dies innerhalb eine Klasse, aber nicht Klassen/Gruppen übergreifend.

Gab es einen Lehnsherren, einen Fürst oder ein anderen Adligen, war er der Richter, wenn sich die Untertanen stritten. Aber gegen den Lehnsherren selber einen neutrale Person zu finden, die im Streit von Untertan gegen "Herr" neutral richtete, dürfte sehr unwahrscheinlich gewesen zu sein.
Warum muss der Mensch nichts für seine Würde leisten, während er durch ethische Erziehung, Recht und Strafverfolgung mühsam daran gehindert werden muss, die Menschenwürde zu verletzen? Besteht da nicht ein merkwürdiges Ungleichgewicht in der natürlichen Ausstattung des Menschen?
Beantwortest Du diese Fragen, wenn ich Deine beantworte?
Dazu hatte ich schon was geschrieben, und zugegeben, dass es ein Problem ist, dies zu erklären. Aber auch die Zuschreibungsansicht (Achtungsanspruch etc.) hat dieses Problem. Wenn es so klar und eindeutig ist, die Menschenwürde über den Achtungsanspruch etc. zu beschreiben, das Ganze noch einen normativen Status hat, wieso wird sich nicht daran gehalten?
Ich habe in den letzten Jahren immer wieder mal Aufsätze etc. zur Menschenwürde gelesen, kein Text ist mir bislang über den Weg gelaufen, der sich damit ausführlich beschäftigt. Es wird festgestellt das es so ist, aber nicht wieso.

Auch dies
Daraus, dass etwas nicht durchgängig erkannt wird, folgt nicht dass es nicht existiert.
wurde schon mehrfach erwähnt, auch von Dir, wenn ich mich recht entsinne.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Mi 8. Nov 2017, 19:40

Stefanie hat geschrieben :
Mi 8. Nov 2017, 19:35
Dazu hatte ich schon was geschrieben, und zugegeben, dass es ein Problem ist, dies zu erklären.
Wir durchlaufen in vielen Bereichen eine Lerngeschichte. Warum sollte das bei ethischen/praktischen Fragen anders sein als bei theoretischen?




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Stefanie
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Mi 8. Nov 2017, 20:23

Den Lernprozess gab es ja schon, aber ausgelernt haben wir noch nicht.



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Jörn Budesheim
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Mi 8. Nov 2017, 20:31

Nein, das denke ich auch nicht. Wir sollten und können noch Fortschritte machen. "Besser zuschreiben" eignet sich vielleicht nicht so sehr als Slogan dafür :-)




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Tarvoc
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Do 9. Nov 2017, 00:10

Stefanie hat geschrieben :
Mi 8. Nov 2017, 19:35
Im antiken Griechenland waren ganze Gruppen davon ausgeschlossen, Frauen und Sklaven.
Plato war ja gelinde gesagt nicht gerade für seinen Abolitionismus bekannt - aber schon bei Plato gibt es den Gedanken, dass Sklaven letztlich die gleiche Erkenntnisfähigkeit haben wie Freie.



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Hermeneuticus
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Stefanie hat geschrieben :
Mi 8. Nov 2017, 19:35
Aber es gab - man darf wohl davon ausgehen: zu allen Zeiten - praktische Anerkennungsverhältnisse im menschlichen Zusammenleben, die auf Gegenseitigkeit beruhten und in denen die Beteiligten sich (zwar nicht als gleich, aber) als gleichberechtigt betrachteten.
Das bezweifel ich. Im antiken Griechenland waren ganze Gruppen davon ausgeschlossen, Frauen und Sklaven. Wenn, dann gab es dies innerhalb eine Klasse, aber nicht Klassen/Gruppen übergreifend.
Ja, dass es mit der Verallgemeinerung gegenseitiger Anerkennung gehapert hat, sagte ich ja schon in meiner Antwort. Aber ich habe ja auch nur behauptet, dass den Menschen ein Begriff, ein Vorverständnis von gleichberechtigten, auf gegenseitiger Anerkennung beruhenden Beziehungen zugänglich war, obwohl die Gesellschaften und Staaten noch nicht egalitär organisiert waren.
Dazu hatte ich schon was geschrieben, und zugegeben, dass es ein Problem ist, dies zu erklären. Aber auch die Zuschreibungsansicht (Achtungsanspruch etc.) hat dieses Problem. Wenn es so klar und eindeutig ist, die Menschenwürde über den Achtungsanspruch etc. zu beschreiben, das Ganze noch einen normativen Status hat, wieso wird sich nicht daran gehalten?
Es macht dabei aber einen erheblichen Unterschied, ob man die Menschenwürde als einen normativen Status versteht oder als ein gegebenes Faktum. Denn mit Normen oder normativen Ansprüchen ist es ohne weiteres verträglich, dass die Adressaten ihnen entgegen handeln und die Achtung versagen. Normen sind nun einmal wesentlich verletzbar. Aber das bedeutet ja auch - und das ist ein ganz wichtiger Punkt! -, dass der Normadressat ihnen gegenüber frei bleibt. Einem Faktum gegenüber sind wir nicht frei; wir können es nur hinnehmen, wie es nun einmal ist. Einer Norm, einem Anspruch, einer Erwartung können wir immer folgen oder auch nicht. Und genau diese Freiheit spielt ja für den Begriff der Würde eine wesentliche Rolle. Eine gut begründete und sachlich angemessene Norm lässt uns unsere Würde; sie appelliert an unsere freie Einsicht, ohne uns zur Befolgung zu zwingen. Anders die Faktizität der Gewalt, des Diktats, des Zwangs! Zwar können wir auch dem Faktum der Gewalt unser "Nein!" entgegensetzen, aber meist um einen so hohen Preis, dass danach von einer würdevollen Existenz keine Rede mehr sein kann...

Es hat schon seine guten Gründe, die Menschenwürde nicht als ein so und so bestimmtes empirisches Faktum zu begreifen, sondern als einen normativen Status. Die Freiheit und Selbstbestimmtheit des Würdenträgers ist, so weit ich es verstehe, der gewichtigste Grund.
Auch dies
Daraus, dass etwas nicht durchgängig erkannt wird, folgt nicht dass es nicht existiert.
wurde schon mehrfach erwähnt, auch von Dir, wenn ich mich recht entsinne.
Nur ist diese Binsenweisheit kein Grund für die Existenz des Unerkannten...




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Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 02:40
Einem Faktum gegenüber sind wir nicht frei; wir können es nur hinnehmen, wie es nun einmal ist.
Richtig, dass die anderen einen Wert haben, unabhängig davon, was wir darüber denken und ob wir es anerkennen, das ist ein Faktum.

Donald Davidson in dem Aufsatz "die Objektivität der Werte":

Ein Urteil ist objektiv, wenn es wahr oder falsch [...] ist, der Wahrheitswert aber feststeht. Der Wahrheitswert des Urteils ist unabhängig von der Person Urteilenden sowie von der Gesellschaft oder Zeit, in der er lebt. Der Wahrheitswert eines Urteils hängt nur von zweierlei ab, den Tatsachen und dem Inhalt des Urteils [...]

Wenn das Urteil den Tatsachen entspricht, dann ist es eben wahr, und diesem Faktum gegenüber sind wir nicht frei.




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Alethos hat geschrieben :
Di 7. Nov 2017, 21:14
Was meinen wir mit menschenunwürdigen Zuständen ? 8
Zustände, die es einem Menschen nicht erlauben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Von Menschen herbeigeführte Zwangslagen (also nicht etwa Krankheiten oder Katastrophen), denen das Opfer nur noch durch den Tod entgehen kann.
Wie schon ganz zu Anfang der Diskussion gesagt, ist es schwierig, allgemein zu bestimmten, was der Mensch zu einem würdevollen Leben benötigt, da der Einzelne selbst bestimmten können sollte, was sein gutes Leben ist. So kann ein Mensch ja bewusst ein Leben unter Umständen wählen, die andere vielleicht für unwürdig halten mögen.
Was meinen wir mit dem Ausdruck einer Sache nicht würdig sein?
Eine "Sache", deren man nicht würdig sein kann, hängt m.E. immer direkt oder indirekt mit jener Anerkennung durch Andere zusammen, die man sich durch Verdienste oder durch die Erfüllung normativer Erwartungen erwerben sollte. - Nehmen wir z.B. an, jemand befindet sich in einer materiellen Notlage und bekommt von Freunden eine beachtliche Summe Geld geschenkt, die ihm aus der Klemme helfen soll - und der verprasst das Geld prompt im Spielkasino; offenbar war er dann der Hilfe und des Vertrauens seiner Freunde nicht würdig. Oder nehmen wir als Beispiel jemanden, der ein verantwortungsvolles öffentliches Amt übernimmt und dieses Amt dann primär als persönliche Pfründe betrachtet.
Würde muss man sich also erwerben, muss etwas dafür leisten, den Verpflichtungen nachkommen, die mit einer Rolle oder einem gesellschaftlichen Status verknüpft sind. Würde hat auch mit gegenseitiger Achtung und kritischer Selbstachtung zu tun; so ist es nicht würdevoll, sich etwas zu erlauben, was man anderen nicht erlaubt. Eine Würde, die einem ohne jedes Zutun zufällt und die man als sicheren, unverlierbaren Besitz betrachten dürfte, scheint mir paradox zu sein. Etwas dieser Art kann mit der "unveräußerlichen" und "unantastbaren" Menschenwürde nicht gemeint sein.
Was bedeutet es uns genau, wenn wir sagen: Wir verletzen seine/ihre Würde?
Nach meinem Verständnis sind damit primär Übergriffe auf die Sphäre gemeint, die der Selbstbestimmung einer Person obliegt oder obliegen sollte. Aber sekundär verletzen wir die Würde einer Person auch durch gezielte Ausnutzung ihrer Schwächen und Notlagen, durch Diskreditierung und Diskriminierung... ja, durch alle Handlungen, die sie herabsetzen oder ihr die geschuldete Anerkennung als "eine von uns" entziehen.

Zur Achtung: Wenn wir von Achtung sprechen, kommen wir doch nicht herum, von Respekt zu sprechen. Wenn wir von Respekt sprechen kommen wir aber auch nicht darum herum, von Autorität zu sprechen usw. und alle diese Begriffs-‚Verkettungen‘ führen uns schliesslich an den Kern unseres ethischen Vokabulars: Unsere Bewertungen resp. unsere Werte.
Ich glaube gar nicht, dass Wertungen der Kern unseres ethischen Vokabulars sind. Ethische Wertungen richten sich ja nicht auf beliebige Gegenstände, sondern auf Handlungen, Handlungsfolgen und durch Handlungen erworbene Charaktere. Der Kern aller ethischen Bewertung liegt darum in dem, was Handlungen überhaupt zu Handlungen macht, und das ist: persönliche Autonomie, Freiheit. Die ist immer vorausgesetzt, wenn wir eine Person für eine Handlung verantwortlich machen und die Handlung in der einen oder anderen Weise bewerten. Und nach meinem Verständnis gilt jede Spielart von Achtung direkt oder indirekt immer dem, was eine Person in ihrer Freiheit ist und aus ihrer Freiheit tut.




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Do 9. Nov 2017, 15:43

Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 15:34
Von Menschen herbeigeführte Zwangslagen (also nicht etwa Krankheiten oder Katastrophen)
Allerdings sind viele Krankheiten und Naturkatastrophen heute de Fakto von menschlichem Handeln herbeigeführte oder wenigstens begünstigte Zwangslagen, ob nun direkt oder indirekt.



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Ja, unbestritten. Ich wollte nur verdeutlichen, dass Zwangslagen, die niemand durch Handeln herbeigeführt hat, in die man also durch Zufall oder Schicksal geraten ist, auch nicht "unwürdig" sind. Für den Betroffenen mag es wohl schwierig sein, das Unabänderliche hinzunehmen und "das Beste draus zu machen", aber im Grunde wird dadurch seine Würde nicht verletzt. - Es ist z.B. nicht unwürdig, durch einen Unfall ein Bein zu verlieren und darum in gewissen Situationen auf die Hilfe und Rücksicht anderer Menschen angewiesen zu sein. Aber für den Betroffenen mag es schwer sein, das einzusehen und sich nicht als minderwertig zu betrachten.




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Alethos
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 15:34
Ich glaube gar nicht, dass Wertungen der Kern unseres ethischen Vokabulars sind. Ethische Wertungen richten sich ja nicht auf beliebige Gegenstände, sondern auf Handlungen, Handlungsfolgen und durch Handlungen erworbene Charaktere. Der Kern aller ethischen Bewertung liegt darum in dem, was Handlungen überhaupt zu Handlungen macht, und das ist: persönliche Autonomie, Freiheit.
Du drehst hier einfach den Spiess um, diese argumentative Strategie sei dir unbenommen :)

Aber Fakt ist, dass der Kern unserer ethischen Bewertungen die Bewertung an und für sich ist, die sich auf eine Handlung bezieht. Denn es ist auch denkbar, dass es autonome Subjekte gibt, deren Handeln ohne ethische Bewertung bleibt. Zu sagen, die Handlung sei die Bedingung für Ethik halte ich deshalb für einen unzulässigen Umkehrschluss. Ethik kommt ohne Bewertungen nicht aus, aber die Handlung ohne Ethik schon. Es gibt also Handlungen und ethische bewertete Handlungen und letztere sind nur, weil eine Wertung stattfindet.
Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 15:34
Wie schon ganz zu Anfang der Diskussion gesagt, ist es schwierig, allgemein zu bestimmten, was der Mensch zu einem würdevollen Leben benötigt, da der Einzelne selbst bestimmten können sollte, was sein gutes Leben ist.
Ja, es ist wirklich schwierig zu bestimmen, was es zu einem würdevollen Leben benötigt. Und ich bin nicht sicher, ob uns eine Regel vorgeben kann, was wir je individuell für ein würdevolles Leben halten können. Dieser Hinweis auf den Einzelnen ist zugleich aber ein Hinweis auf das Empirische.



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Do 9. Nov 2017, 19:24

Hermeuticus, wie kann denn etwas, was dem Menschen eigen ist, uns in der Freiheit einschränken? Wir nehmen etwas hin, was zu uns gehört.

Wie es das mit Verstand und vor allem mit der Vernunft? Ist das nicht auch ein Faktum, das wir hinnehmen? Sind die beiden nicht die, die uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit führen?Oder wird die Vernunft auch normativ zugeschrieben?

Levinas Ansicht, auch das Antlitz des Anderen, führt erst zur Freiheit des Subjekts. Das ist auch sein Ziel, dies aufzuzeigen.



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Madison
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Do 9. Nov 2017, 19:31

Mir fällt die inflationäre Verwendung von „normativ“ im Zusammenhang mit Würde auf.
Wer sich mit Mitteln der Zweckrationalität z. B. des Rechts bemüht, den Bedeutungskern oder Normativität von Würde (z. B. über die kant. Objektformel hinaus) zu definieren, muss im Spagat einerseits versuchen, einer abwägungssperrenden Verengung zu entgehen und andererseits gleichzeitig den Wert in seiner gerade auch außerrechtlichen Bedeutung zu respektieren.
Der Abs. 3 des Art. 1 GG „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ weist bereits formal den Weg. Nur die nachfolgenden Grundrechte und nicht die Menschenwürde selbst entfaltet echte Rechtswirkung als Norm. Die Würde ist in diesem Sinne eine Art Logos, der in der Substanz der anderen Grundrechte nicht verloren gehen darf. Die deduktiven Linien der Würde prägen die gesamte Architektur des Rechts. Die Würde lässt sich zwar nicht positiv verbindlich interpretieren (zumindest hat dies das BVerG unterlassen) aber es lassen sich Verletzungstatbestände untersuchen.
Überdies sollte man sich vor einer partikular gesellschaftlichen Einvernahme der Würde hüten.

Das oben irgendwo gewählte Beispiel der „Goldenen Regel“ ist übrigens wegen des kalkulatorischen Interesses einer Mittel-Zweck-Relation im „kantischen“ Würdeverständnis deplatziert. Kant selbst hatte sie als hypothetischen Imperativ gegen den kategorischen I. gestellt. Bei der „Goldenen Regel“ würde – so Kant – der Verbrecher gegen seine strafenden Richter argu-mentieren. Erst in der sog. Menschheitsformel des K.I. wird der Mensch als „Zweck an sich“ postuliert, die dann als Objektformel verfassungsrechtliche Bedeutung für die Schutzpflicht des Staates eingeführt wurde.

Eine überschaubare Problemskizze bot vor einiger Zeit der im TV gezeigte Film „Terror“ nach dem gleichnamigen Theaterstücks von Ferdinand von Schirach. In diesem Justizdrama ging es um die Aufrechenbarkeit von Menschenleben und die Selbstzweckhaftigkeit.




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Alethos hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 19:16
Hermeneuticus hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 15:34
Ich glaube gar nicht, dass Wertungen der Kern unseres ethischen Vokabulars sind. Ethische Wertungen richten sich ja nicht auf beliebige Gegenstände, sondern auf Handlungen, Handlungsfolgen und durch Handlungen erworbene Charaktere. Der Kern aller ethischen Bewertung liegt darum in dem, was Handlungen überhaupt zu Handlungen macht, und das ist: persönliche Autonomie, Freiheit.
Du drehst hier einfach den Spiess um, diese argumentative Strategie sei dir unbenommen :)

Aber Fakt ist, dass der Kern unserer ethischen Bewertungen die Bewertung an und für sich ist, die sich auf eine Handlung bezieht. Denn es ist auch denkbar, dass es autonome Subjekte gibt, deren Handeln ohne ethische Bewertung bleibt. Zu sagen, die Handlung sei die Bedingung für Ethik halte ich deshalb für einen unzulässigen Umkehrschluss. Ethik kommt ohne Bewertungen nicht aus, aber die Handlung ohne Ethik schon. Es gibt also Handlungen und ethische bewertete Handlungen und letztere sind nur, weil eine Wertung stattfindet.
Nach meinem Verständnis gehören nun einmal individuelle Handlungen, Handlungs- und Verantwortungsgemeinschaften sowie das, was man den geteilten "Raum der Gründe" nennen kann, untrennbar zusammen. Darum ist es für mich eine grundsätzliche Bestimmung von "Handlung": Handlungen sind das, wofür wir einander verantwortlich sind und machen.




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Fr 10. Nov 2017, 07:01

Wie steht es mit sogenannten Komapatienten, die nicht mehr handeln können, aber sicherlich dennoch Wert und Würde haben? Oder: Gibt es so etwas wie einen Tod in Würde ein Recht auf einen Tod in Würde?




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Madison hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 19:31
Eine überschaubare Problemskizze bot vor einiger Zeit der im TV gezeigte Film „Terror“ nach dem gleichnamigen Theaterstücks von Ferdinand von Schirach. In diesem Justizdrama ging es um die Aufrechenbarkeit von Menschenleben und die Selbstzweckhaftigkeit.
Das Stück lief nicht nur im TV unter großem Publikums-Interesse, sondern auch an vielen Theatern. Hier eine kurze Zusammenfassung.

Diese Fragestellung und auch den Zusammenhang mit der Frage nach der Würde haben wir auch anderer Stelle schon diskutiert, freilich ohne Ergebnis ...
Dia_Logos hat geschrieben :
Mi 25. Okt 2017, 06:26
[Das Trolley Problem] mag zunächst abstrakt erscheinen, aber wenn man z.b. über Terror Angriffe in Flugzeugen nachdenkt und die Frage, ob diese Flugzeuge abgeschossen werden dürfen, sieht man, dass es durchaus eine praktische Relevanz haben kann




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