Der Rechtsbegriff "Menschenwürde": Eine Kritik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Madison hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 19:31
Das oben irgendwo gewählte Beispiel der „Goldenen Regel“ ist übrigens wegen des kalkulatorischen Interesses einer Mittel-Zweck-Relation im „kantischen“ Würdeverständnis deplatziert. Kant selbst hatte sie als hypothetischen Imperativ gegen den kategorischen I. gestellt. Bei der „Goldenen Regel“ würde – so Kant – der Verbrecher gegen seine strafenden Richter argu-mentieren. Erst in der sog. Menschheitsformel des K.I. wird der Mensch als „Zweck an sich“ postuliert, die dann als Objektformel verfassungsrechtliche Bedeutung für die Schutzpflicht des Staates eingeführt wurde.
Ich habe die Verbreitung der sog. "Goldenen Regel" in ihren Variationen als Beleg dafür genannt, dass die Moralprinzipien Gleichberechtigung und Unparteilichkeit eine elementare Bedeutung für das menschliche Zusammenleben haben und sich offenbar allgemeiner, kulturübergreifender Anerkennung erfreuen. Dass Kant die Goldene Regel als nicht hinreichend kritisierte, ist mir bekannt. Aber ich halte umgekehrt die kantische Moralphilosophie und ihre meta-ethischen Voraussetzungen für wenig überzeugend. Darum stellt sich mir der KI nicht als Non-plus-ultra aller Moralbegründung dar, sondern nur als eine Variation jener Prinzipien, die sich - lange vor Kant - in der Goldenen Regel aussprechen. Dass die uralten Konzepte von Gleichberechtigung und Überparteilichkeit auch für Kants KI konstitutiv sind, ist wohl schwer zu bestreiten.
Zuletzt geändert von Hermeneuticus am Fr 10. Nov 2017, 10:44, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 07:01
Wie steht es mit sogenannten Komapatienten, die nicht mehr handeln können, aber sicherlich dennoch Wert und Würde haben?
Auch für die Behandlung von Koma-Patienten ist deren persönliche Selbstbestimmung das oberste Gebot. Wenn der Patient verfügt hat, dass man die lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen unter diesen Bedingungen nicht fortsetzen soll, wird diesem Wunsch entsprochen. Liegt keine ausdrückliche Willenserklärung des Patienten vor, ist man verpflichtet, ihn am Leben zu erhalten, weil es ja sein kann, dass er es so will.
Oder: Gibt es so etwas wie einen Tod in Würde ein Recht auf einen Tod in Würde?
Nach meiner Überzeugung schon. So verletzt man sicherlich die Würde eines Menschen, wenn man ihn gegen seinen ausdrücklichen, wohlerwogenen Willen am Leben erhält.




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Madison hat geschrieben :
Sa 4. Nov 2017, 18:46
Nach meiner Erfahrung beginnt das Dilemma immer dann, wenn versucht wird, den Würdebegriff handhabbar zu machen, praktische Leistungsfähigkeiten zu untersuchen, ihn positiv inhaltlich zu konturieren bzw. zu bestimmen, eine Norm zu postulieren, eine Wertsubstanz freizulegen usw [...]

Was die Würde ausmacht, kann im Rechtssinne nicht formalisiert bestimmt werden, sondern immer nur über die wertende Deutung eines Gesamtzusammenhangs. [...]
Madison hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 19:31
Die Würde lässt sich zwar nicht positiv verbindlich interpretieren (zumindest hat dies das BVerG unterlassen) aber es lassen sich Verletzungstatbestände untersuchen.
Ich hege eine gewisse Sympathie für deine Idee, falls ich sie überhaupt richtig verstanden habe, man könne nicht einfach und klar definieren, was Würde ist. (Auch wenn dieser Gedanke auf den ersten Blick mit meinen Versuchen, einen Strauß von Eigenschaften zu skizzieren, konfligiert.) Deine Ausführungen dazu sind recht "vorsichtig" :-) Du scheinst mir nicht sagen zu wollen, man können über Würde überhaupt nichts positives sagen. Sondern ein Problem ergibt sich bloß dann, wenn man versucht, den Begriff durch eine einfache Formel oder eine klare Definition zu "ersetzen". Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, es nicht möglich, den Begriff gewissermaßen fein säuberlich (gleichsam wie ein Filetstück) aus dem Gesamtzusammenhang zu schneiden.

Denn wenn man gar nichts positives über etwas sagen kann, ergibt sich ein logisches Problem: Was auch immer man an negativen "Bestimmungen" über etwas sammelt, es macht nie ausreichend klar, wovon überhaupt die Rede ist. Wenn wir Verletzungstatbestände haben, müssen wir doch auch ein Gefühl haben, was da verletzt wurde, oder?

(Wir haben übrigens auch - ganz vage - phänomenologische Ansätze im Spiel gehabt. Bei diesen zeigt sich die Würde, aber sie wird nicht klar begrifflich gefasst.)




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Aus dem Wiki-Artikel "Patientenverfügung":
Von großer Tragweite und richtungsweisend für die spätere gesetzliche Regelung war eine Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 17. März 2003[29]. Danach waren Patientenverfügungen (wie auch aktuelle Willensäußerungen) prinzipiell verbindlich. Habe jemand, so der BGH, in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes eine eigenverantwortliche Entscheidung getroffen, sei diese Entscheidung auch dann noch zu respektieren, wenn der Betroffene zu eigenverantwortlichem Entscheiden nicht mehr in der Lage sei. Dies gebiete der Schutz und die Achtung der Würde des Menschen.[30] Wegen des Rechts des Patienten zur Selbstbestimmung über seinen Körper seien Zwangsbehandlungen, auch wenn sie lebenserhaltend wirkten, unzulässig[31]. Eine gegen den erklärten Willen des Patienten durchgeführte Behandlung, die in die körperliche Integrität eingreife, sei eine rechtswidrige Handlung, deren Unterlassung der Patient analog § 1004 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB verlangen könne.[31] Die Missachtung des in einer Patientenverfügung geäußerten Willens könne als Körperverletzung strafbar sein[32][33]
Diese Rechtsauffassung betrachtet also die Selbstbestimmung einer Person als den "Kern" ihrer Menschenwürde.

Damit werden allgemeine materiale (positive) Bestimmungen der Menschenwürde in den Hintergrund gerückt. - Postuliert man etwa, dass das schiere Leben eines Menschen bereits ein absoluter Wert sei, so entzieht man damit dem einzelnen Menschen das Recht, selbst darüber zu bestimmen, welchen Wert sein Leben für ihn hat. Er muss dann die Tatsache seines Daseins quasi als eine Gabe hinnehmen, die er nicht ablehnen kann.




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Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 11:14
Postuliert man etwa, dass das schiere Leben eines Menschen bereits ein absoluter Wert sei
Wer ist der Adressat dieses Einwandes?

(Wer hingegen einfach sagt, dass das Leben selbst einen Wert darstellt, entzieht es nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Person, die dieses Leben führt.)




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 11:19
Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 11:14
Postuliert man etwa, dass das schiere Leben eines Menschen bereits ein absoluter Wert sei
Wer ist der Adressat dieses Einwandes?
Jemand, der - im Glauben an die Möglichkeit einer allgemeinen positiven Bestimmung der Menschenwürde - z.B. postuliert, das Leben des Menschen sei ein absoluter Wert.
(Wer hingegen einfach sagt, dass das Leben selbst einen Wert darstellt, entzieht es nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Person, die dieses Leben führt.)
Ja. Wer aber das schiere Leben für einen absoluten (und darum unveräußerlichen und individuell unverfügbaren) Wert hält, der tut das quasi über den Kopf der einzelnen Menschen und ihre persönliche Bewertung ihres eigenen Lebens hinweg.




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Stefanie hat geschrieben :
Do 9. Nov 2017, 19:24
Hermeuticus, wie kann denn etwas, was dem Menschen eigen ist, uns in der Freiheit einschränken? Wir nehmen etwas hin, was zu uns gehört.
Nun ja, wer daran gewöhnt ist, beide Arme und Beine zu benutzen und fließend zu sprechen, der wird die halbseitige Lähmung durch einen Schlaganfall doch wohl als Einschränkung seiner Freiheit erfahren. Er ist nun auf die ständige Hilfe und Pflege von anderen Menschen angewiesen und damit auch deren Willkür ausgesetzt. - Es fällt wohl jedem Menschen schwer, eine solche Einschränkung der eigenen Freiheit als etwas "Eigenes" anzunehmen. Allein schon deshalb, weil er sie ja nicht gewählt hat, weil sie ihm als Schicksalsschlag zugestoßen ist.

Andererseits macht die Hinnahme des Unabänderlichen auch einen wichtigen Teil unserer Freiheit aus - wenn wir einmal davon ausgehen, dass Freiheit sich nicht in schierer Willkür bekundet, sondern im besonnenen, wohlerwogenen, einsichtigen Wollen und Handeln. Es ist eben unvernünftig, sich gegen etwas aufzulehnen, das sich beim besten Willen nicht ändern lässt.

Aber wollen wir die Menschenwürde als etwas verstehen, das wir in ähnlicher Weise hinzunehmen haben wie die Folgen eines Schlaganfalls? Ist die Menschenwürde eine fremde Gabe, die wir nicht ablehnen können? Ist sie wie ein Schicksal über uns verhängt?

Wie es das mit Verstand und vor allem mit der Vernunft? Ist das nicht auch ein Faktum, das wir hinnehmen? Sind die beiden nicht die, die uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit führen? Oder wird die Vernunft auch normativ zugeschrieben?
Ich verstehe dieses "oder" nicht. - Aber Rationalität ist doch nichts, was uns zustößt und das wir deshalb nur hinnehmen können. Sie ist doch vielmehr eine Fähigkeit, die mündig machen kann. Aber sie macht es natürlich nur dann, wenn wir von ihr aktiv Gebrauch machen, wenn wir sie eigenständig betätigen, d.h. wenn wir uns selbst mündig machen. Diese Tätigkeit ist immer unsere eigene, individuelle und freie. Darum ist nicht Vernunft als solche ein Faktum, sondern faktisch ist das vernünftige Handeln und Denken eines konkreten Menschen. Die Vernunft als Vermögen oder als Anlage ist eben nicht: wirkliche Vernunft.

Und in der Tat: Jene Akte, in denen unsere Vernunft sich realisiert, werden uns dann zugeschrieben - nämlich als das, wofür wir persönlich verantwortlich sind und wodurch wir - als ihre Urheber - uns Verdienst oder auch Verschulden erwerben. Und weiter: In der Tat ist Rationalität etwas Normatives, das uns selbst in Anspruch und in die Pflicht nimmt. Dafür ist besonders Kant ein beredter Zeuge, der ja immer wieder von der Gesetzgebung und auch vom Gerichtshof der Vernunft gesprochen hat...
Zuletzt geändert von Hermeneuticus am Fr 10. Nov 2017, 13:11, insgesamt 1-mal geändert.




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Fr 10. Nov 2017, 12:57

Daraus, dass Tatsachen für uns eine Einschränkung bedeuten können, folgt schlechterdings nicht, dass Tatsachen eine Einschränkung bedeuten müssen.




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Fr 10. Nov 2017, 13:12

Das habe ich auch nicht behauptet.




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Fr 10. Nov 2017, 13:24

Meines Erachtens doch. Das siehst du, wenn du Stefanies Frage im Zusammenhang liest. Sie hat sich nämlich gegen diese Aussage von dir gewandt, wenn ich sie richtig verstanden habe: "Einem Faktum gegenüber sind wir nicht frei; wir können es nur hinnehmen, wie es nun einmal ist." So als würde zum Beispiel das Faktum, dass wir uns an Gründen orientieren können, uns unfrei machen ...




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Fr 10. Nov 2017, 13:40

In meiner letzten Antwort an @'Stefanie' habe ich aber auch gesagt, dass die Hinnahme des Unabänderlichen zur - wohlverstandenen - Freiheit gehört.
Aber wollen wir denn die Menschenwürde als ein solches Faktum verstehen, gegenüber dem man nur frei wird, indem man es als unabänderlich hinnimmt wie einen Schicksalsschlag? Das fände ich paradox.




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Fr 10. Nov 2017, 13:44

Die Frage stellt sich nur, wenn man den Fehler, der zuvor begangen wurde (siehe Zitat) akzeptiert.




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Stefanie
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Fr 10. Nov 2017, 14:21

Ich stelle fest, uns werden die Themen nicht ausgehen: Empathie, Vernunft, Freiheit.
Die Menschenwürde ermöglicht uns Freiheit, und engt die Freiheit nicht ein.

Soweit in Kürze, da ich ab jetzt bis heute Abend unterwegs bin.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Madison
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 09:46
Aber ich halte umgekehrt die kantische Moralphilosophie und ihre meta-ethischen Voraussetzungen für wenig überzeugend. Darum stellt sich mir der KI nicht als Non-plus-ultra aller Moralbegründung dar
Das sehe ich auch so, aber mir ging es darum aufzuzeigen, dass die aus dem KI abgeleitete und in Art. 1 GG statuierte Objektformel bei aller Kritik an gewissen Unschärfen, die Grundlagen wechselseitiger Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen operationalisierbar erfassen kann. Dieser kategorische Basisrespekt, der im Rechtssinne kein kollisionsfähiges Gut bildet, hat bisher die gesamte Verfassungshistorie überdauert.

Ich finde das persönlich höchst beeindruckend, auch und insbesondere mit Blick auf die radikale deontologische Absage an die Quantifizierung von Rechten, an Verrechenbarkeiten („kleineres Übel“) usw. Allein die kantische Selbstzweckhaftigkeit der Person dient als intrinsisches Gut und begründet damit den Unverletzlichkeitsstatus. Ich kann mir keine bessere Rechtskontinuität vorstellen.

Ich hoffe, dass der Art. 1 auch in Zukunft allen „Reformversuchen“ standhält, auch wenn moralische Kollateralschäden eingerechnet werden müssen.




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Madison
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 11:14
Du scheinst mir nicht sagen zu wollen, man können über Würde überhaupt nichts positives sagen. Sondern ein Problem ergibt sich bloß dann, wenn man versucht, den Begriff durch eine einfache Formel oder eine klare Definition zu "ersetzen". Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, es nicht möglich, den Begriff gewissermaßen fein säuberlich (gleichsam wie ein Filetstück) aus dem Gesamtzusammenhang zu schneiden.
So ist es, wir haben zwar konsentierte und auch gewisse historische Gewissheiten darüber, was eine Würdeverletzung charakterisiert, aber die Anmaßung beginnt da, wo ich beginne, das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren. Bei einer begrifflichen normativen Bestimmung der Würde schaffe ich ein Einfallstor für Verabsolutierungen einzelner, partikular-ethischer Positionen, die wiederum in einer Gesellschaft einem wechselnden Konsens von politischen Haltungen unterliegen.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 11:14
Denn wenn man gar nichts positives über etwas sagen kann, ergibt sich ein logisches Problem: Was auch immer man an negativen "Bestimmungen" über etwas sammelt, es macht nie ausreichend klar, wovon überhaupt die Rede ist. Wenn wir Verletzungstatbestände haben, müssen wir doch auch ein Gefühl haben, was da verletzt wurde, oder?
Ja, das haben wir ja. Man schaue nur auf die Entstehungsgeschichte des Art. 1 GG, welcher als Antwort auf die totalitäre Missachtung des Individuums, der Entmenschlichung und Gewalt in der Nazidiktatur zu sehen ist.




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Tarvoc
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Madison hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 19:34
So ist es, wir haben zwar konsentierte und auch gewisse historische Gewissheiten darüber, was eine Würdeverletzung charakterisiert, aber die Anmaßung beginnt da, wo ich beginne, das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren. Bei einer begrifflichen normativen Bestimmung der Würde schaffe ich ein Einfallstor für Verabsolutierungen einzelner, partikular-ethischer Positionen, die wiederum in einer Gesellschaft einem wechselnden Konsens von politischen Haltungen unterliegen.
Das ist ja generell ein Problem in der Ethik. Es ist sehr viel einfacher, zu sagen, was unethisch ist, als was ethisch ist.



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Fr 10. Nov 2017, 19:53

@'Madison' Irgendwie interessant.

Das hieße, das was wir hier machen - eine Art "Kampf" um die Würde (=die Bestimmung des Begriffs) ist für dich schon verfehlt oder grenzwertig?

Die "spiegelverkehrte" Ansicht wäre die, die deiner Ansicht gegenüber geltend macht, dass eine "Nichtbestimmung" des Begriffs droht, ihn der Beliebigkeit anheim zu stellen oder auszuhöhlen. Siehst du einen Balanceakt zwischen den beiden Postionen oder was ist deine Reaktion auf den möglichen Einwand auf deinen Einwand?




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Madison
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 19:53
Das hieße, das was wir hier machen - eine Art "Kampf" um die Würde (=die Bestimmung des Begriffs) ist für dich schon verfehlt oder grenzwertig?
Jein - natürlich kann man z. B. moralphilosophisch eine Annäherung an einen Begriff der Würde versuchen und / oder eine entsprechende Kritik formulieren. Aber – und das finde ich das Entscheidende – jeder alternativ moraltheoretische Diskurs über die Würde z. B. mit einer konsequentialistischen Reformulierung des Begriffs, verfehlt den deontologischen Sinn des Art. 1 GG, nämlich dass sich die Würde nicht an Werte bzw. Güter assimilieren lässt.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2017, 19:53
Die "spiegelverkehrte" Ansicht wäre die, die deiner Ansicht gegenüber geltend macht, dass eine "Nichtbestimmung" des Begriffs droht, ihn der Beliebigkeit anheim zu stellen oder auszuhöhlen. Siehst du einen Balanceakt zwischen den beiden Postionen oder was ist deine Reaktion auf den möglichen Einwand auf deinen Einwand?
Die „Nichtbestimmung“ hat den Vorteil, dass das BVerG immer im Einzelfall eine „grundrechts-freie“ juristische Konkretisierung vornehmen kann. Der Art. 1 GG ist in erster Linie ein Abwehr- weniger ein Anspruchsrecht. Natürlich hat der Würdeschutz auch leistungsrechtliche Aspekte z. B. bei der Grundsicherung. Aber in erster Linie formuliert die Würde in unverrechenbarer Weise eine staatliche Schutzpflicht. Die negative Dimension, d. h. das uanantastbare Verletzungsverbot ist immer vorgeordnet. Bei einer abschließenden Begriffsdefinition schmeiße ich das Würdekonzept in ein virulentes Gefechtsfeld, welches sich dann praktisch in allen sozialen Belangen äußert. Die Unübersichtlichkeit ist leicht vorstellbar.




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Mo 13. Nov 2017, 19:30

Madison hat geschrieben :
So 12. Nov 2017, 19:34
Siehst du einen Balanceakt zwischen den beiden Postionen oder was ist deine Reaktion auf den möglichen Einwand auf deinen Einwand?
Ich weiß, dass dieser von mir vertretene deutungshoheitliche Anspruch zunehmend in die Kritik gerät, vor allem wenn die Entwicklung der Humangenetik, Biotechnologie und Reproduktionsmedizin betrachtet wird. Der Art. 1 GG mutet hier wie eine entstehungszeitliche Versteinerung an und ich gebe zu, dass der Einsatz der Objektformel gegen die neuzeitlichen Herausforderungen seltsam anmutet; aber ich kann aus meiner kant. „Haut“ einfach nicht ´raus.

Wie heißt es so schön: „Bevor ich mein Haus abreiße, um ein neues zu bauen, muss ich erst mal für eine Zwischenunterkunft sorgen“.
Die Zwischenunterkunft heißt: Hinnahme eines Verfassungszustandes, der nicht sämtliche Spannungsverhältnisse zwischen den Werten auflösen kann.




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Sa 16. Dez 2017, 14:13

Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:30
In einem anderen Thread hatte Stefanie folgende Erläuterung der Bundeszentrale für politische Bildung zum Begriff "Menschenwürde" zitiert. Ich mache hier einen neuen Thread dazu auf, weil ich glaube, dass die Diskussion dort Off-Topic wäre.
Stefanie hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 21:26
Mal auf die Schnelle (geklaut von der Bundeszentrale für politische Bildung):
Menschenwürde ist der unverlierbare, geistig-sittliche Wert eines jeden Menschen um seiner selbst willen.
Die Menschenwürde kommt allen Menschen gleicherweise zu. Die Würde des Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern Anerkenntnis.
Die Würde eines Menschen zu schützen heißt ihn als Person mit bestimmten Eigenschaften, Fähigkeiten und Verletzlichkeiten zu achten.
Ich hatte darauf mit einer Kritik dieser Darlegung geantwortet:
Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:06
Bundeszentrale für politische Bildung hat geschrieben : Die Würde des Menschen ist mit seiner Existenz gegeben und Gegenstand nicht einer Zuerkenntnis, sondern Anerkenntnis.
Was genau wird denn da anerkannt? Die grundlegenden menschliche Bedürfnisse? Das kann es nicht sein, denn sonst würde daraus zum Beispiel auch die Pflicht erwachsen, alle Menschen ausreichend zu ernähren, und zwar nicht nur alle in Deutschland lebenden, sondern zumindest im Rahmen unserer materiellen Möglichkeiten alle - eine Pflicht, die die Bundesrepublik weder rechtlich noch praktisch anerkennt. Also wenn es nicht allgemeine, grundlegende menschliche Bedürfnisse sind, was wird da eigentlich anerkannt? Eben einfach nur "die Würde selbst"? Das wäre eine petitio principii. Das ist genau das Problem bei bürgerlichen Rechtsformen generell: Da, wo sie allgemein werden, erkennen sie "den Menschen" nur als Abstraktion an und nicht als wirklich lebendes Individuum. Wenn sie es doch täten, müssten wir nämlich unsere ganze Wirtschaftsweise von einer profitorientierten auf eine bedürfnisorientierte umstellen. Aber das will niemand, weil Sozialismus bekanntlich ganz doll böse ist.
Dabei ist klarzustellen, dass es mir bei dieser Kritik natürlich nicht darum geht, die Menschenwürde abzuschaffen. Ich hatte das selbst schon klargestellt:
Tarvoc hat geschrieben :
Do 5. Okt 2017, 22:21
Im Übrigen habe ich überhaupt nichts dagegen, den Menschen qua Mensch Würde zuzusprechen. In der Praxis halte ich das natürlich auch so. [...] Warum ich den gegenwärtigen Rechtsbegriff "Menschenwürde" für nicht unproblematisch halte, habe ich ja in meinem letzten Beitrag darzustellen versucht. Ich hoffe, bei der Darstellung wird deutlich, dass es mir bei der Problematisierung selbst wieder um die wirklichen Menschen und ihre Bedürfnisse, Ansprüche und Verletzlichkeiten geht.
Ich denke, dass gerade um dessen willen, was mit dem Begriff "Menschenwürde" erreicht werden soll, eine Kritik des gegenwärtigen Verständnisses von Menschenwürde und seiner praktischen Anwendung unerlässlich sind.

Ich fand das wichtig genug, um einen neuen Thread aufzumachen.

Ich finde Deine Kritik gerechtfertigt.

Ich weiß nicht,wie es Euch dabei geht, aber wenn ich die Erläuterung dazu aus dem Hause der Bundeszentrale für politische Bildung so lese, komme ich mir vor,als säße ich ein einer Schreibstube im 14.Jahrhundert und lese nach, warum Gott gütig zu uns ist. Tut mir leid, aber ich lese da einfach nur metaphysische Poesie heraus, die keinerlei ernst zu nehmende Begründungsstruktur mehr in sich trägt.




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