Wenn Flüsse Rechte hätten
Robert Macfarlane nimmt uns mit auf eine literarische und politische Reise: Er zeigt, wie indigene Bewegungen Flüsse als Lebewesen schützen wollen – und warum das uns alle angeht.
Was würde passieren, wenn Flüsse Rechte hätten? Wenn wir sie nicht länger als Ressource oder Rohstoff betrachteten, sondern als eigenständige Wesen? Genau dieser Frage geht der britische Nature-Writing-Autor Robert Macfarlane in seinem Buch nach. Was auf den ersten Blick esoterisch klingen mag, ist tatsächlich hochpolitisch und hochaktuell. Macfarlane führt uns an Orte, an denen Menschen sich genau dafür einsetzen: dass Flüsse eigene Rechte, eine Stimme und Würde haben.
https://www.spektrum.de/rezension/buchk ... en/2272503
Haben Flüsse Rechte? Sind Flüsse Lebewesen?
Am Anfang von Macfarlanes Buch Sind Flüsse Lebewesen? findet sich folgendes Zitat:
"Um Bäume, Flüsse oder Berge nicht mehr nur als »natürliche Ressourcen« anzusehen, wäre es eine Möglichkeit, sie als Mitlebewesen zu klassifizieren – als Verwandte. Mir geht es darum, das Universum zu subjektivieren, denn wir haben ja gesehen, wohin uns die Objektivierung geführt hat. Zu subjektivieren heißt, das Andere nicht mehr zu vereinnahmen, zu kolonisieren, auszubeuten. Und sich auf eine große Erweiterung des Denkens und Vorstellens einzulassen."
—Ursula K. Le Guin (2017)
Eine ökologische "Erweiterung des Denkens und Vorstellens" sollte nicht zu dem falschen Glauben (ver)führen, dass Flüsse im wörtlichen Sinn Lebewesen oder gar "Erlebewesen" (psychologische Subjekte) sind.
"Um Bäume, Flüsse oder Berge nicht mehr nur als »natürliche Ressourcen« anzusehen, wäre es eine Möglichkeit, sie als Mitlebewesen zu klassifizieren – als Verwandte. Mir geht es darum, das Universum zu subjektivieren, denn wir haben ja gesehen, wohin uns die Objektivierung geführt hat. Zu subjektivieren heißt, das Andere nicht mehr zu vereinnahmen, zu kolonisieren, auszubeuten. Und sich auf eine große Erweiterung des Denkens und Vorstellens einzulassen."
—Ursula K. Le Guin (2017)
Eine ökologische "Erweiterung des Denkens und Vorstellens" sollte nicht zu dem falschen Glauben (ver)führen, dass Flüsse im wörtlichen Sinn Lebewesen oder gar "Erlebewesen" (psychologische Subjekte) sind.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
daserste.de hat geschrieben : Interview: Wenn Flüsse und Bäche klagen könnten
In Nord- und Lateinamerika können einzelne Naturelemente wie Flüsse oder Seen bereits vor Gericht ziehen. In Europa macht Spanien den Anfang und erklärt die Salzwasserlagune Mar Menor zur juristischen Person. Und in Deutschland?
Im Interview erklärt Jula Zenetti, Juristin am Helmholtz-Institut, dass hierzulande nur Menschen oder juristische Personen klagen können und warum es schwierig ist, daran etwas zu ändern.
[...]
Haben Sie Beispiele?
Die Natur kann vertreten werden, so wie das auch etwa für Kinder oder GmbHs geregelt ist. In Ecuador beispielsweise können Bürgerinnen und Bürger oder Vereinigungen die Natur repräsentieren. Dort klagen verschiedene Akteure aus der Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik. In anderen Rechtsordnungen wie etwa Neuseeland werden Treuhänder für die Natur bestimmt, oft schon per Gesetz. Diese vertreten die Interessen der Natur in außergerichtlichen Entscheidungsprozessen und vor Gericht.
[...]
Angesichts der zunehmenden ökologischen Herausforderungen stellt sich die Frage, ob es Zeit für [die Anerkennung der Natur] als Rechtssubjekt ist.
https://www.daserste.de/information/rep ... r-100.html
Auf der Internetseite der Uni-Kassel hab ich folgendes gefunden:
DFG-Projekt, Natur als Rechtsperson
Projektbeschreibung
Während das Recht lange nicht-menschliche Personen nur in Form der juristischen Person des privaten oder öffentlichen Rechts kannte, wird in jüngster Zeit vermehrt diskutiert, diesen Kreis der Rechtspersonen zu erweitern. Prominente Kandidatin für diese Position ist neben intelligenten Systemen, Robotern oder Tieren vor allem die Natur. Das Aufkommen von Rechten der Natur ist in jüngster Vergangenheit in vielen Rechtsordnungen der Welt zu beobachten, mancherorts wird sogar ein globaler Trend in diese Richtung gesehen. So berichtete auch die Tagespresse, dass in Neuseeland ein Nationalpark und später ein Fluss per Rechtsakt zur Rechtspersönlichkeit erklärt wurden. Dies geschah auch in Kolumbien und Indien durch Gerichtsurteile. Die Erklärung besonders schützenswerter Naturobjekte zu Rechtssubjekten macht es etwa Umweltschutzverbänden möglich, in deren Namen Rechtsmittel einzulegen, und soll zur Lösung der drängenden Umweltprobleme unserer Zeit beitragen.
Am entschiedensten wird der Schritt hin zu Rechten der Natur in Ecuador vollzogen, wo die Verfassung der Natur in den Art. 10 Abs. 2 und Art. 71 Abs. 1 in ihrer Gesamtheit solche Rechte zuspricht. Diese können nach Art. 71 Abs. 2 der Verfassung von jeder beliebigen Person gerichtlich oder außergerichtlich eingefordert werden. Das Projekt möchte den Veränderungen, welche die Anerkennung dieser neuen Rechtsperson mit sich bringt, nachgehen. Es fragt auf einer rechtstheoretischen Ebene danach, wie Natur im Recht repräsentiert wird und welche Auswirkungen dies auf die Theorie der (juristischen) Person hat. Außerdem betrachtet es, inwiefern natürliche Entitäten Zugang zu Gericht finden, also wie es ihnen ermöglicht wird, sich im gerichtlichen Verfahren zu artikulieren. Inwiefern die Natur Zugang zu internationalen Spruchkörpern erhält und wie die Verfassungsentwicklung in Ecuador hier möglicherweise eine Öffnung begünstigen kann, wird im Rahmen des transnationalen Rechts untersucht. Das Projekt erhofft sich, anhand dieser Fragestellungen allgemeine Erkenntnisse über das Aufkommen neuer nicht-menschlicher Rechtspersonen und die Bedeutung der Zuschreibung eigener Rechte an nicht-menschliche Entitäten zu erlangen.

Bild: reve.art
Robert Macfarlanes Buch "Sind Flüsse Lebewesen?" ist – soweit ich nach kurzer Recherche sagen kann (ich besitze das Buch nicht, es ist auch nicht gerade preiswert) – ein sowohl poetischer, politischer als auch philosophischer Versuch, unsere Beziehung zu Flüssen "neu zu denken". Ausgehend von der Frage, ob Flüsse Rechte haben könnten, schlägt Macfarlane vor, sie nicht (bloß) als Ressourcen, sondern als eigenständige, lebendige Wesen zu begreifen. Dabei bezieht er sich häufig auf indigene Sichtweisen, die Flüsse nicht als Objekte, sondern als Wesen mit Erinnerung, Geist und Identität verstehen – Wesen, mit denen man in Beziehung steht, die man aber zum Beispiel nicht besitzen kann.
Macfarlane greift die sogenannte „Rights of Nature“-Bewegung auf, die etwa in Ecuador oder Neuseeland Flüssen juristische Rechte zuspricht. Er plädiert dabei weniger für einen juristischen Personenstatus als vielmehr für unveräußerliche Rechte – etwa das Recht auf freien Fluss oder körperliche Unversehrtheit. Das Buch ist, so scheint es, nicht vom Lehnstuhl aus geschrieben, sondern in weiten Teilen ein Erfahrungsbericht. Wenn wir Flüsse "anders erzählen", so Macfarlane, können wir ihnen auch anders begegnen.
Mich erinnert das an die Debatte hier im Forum, ob Wasser H₂O ist. Ich hielt und halte das für zu kurz gegriffen – Wasser ist im Wesentlichen ein Lebensraum. Aber lebt es (als Fluss) selbst?
Ich persönlich habe oft sogar eine gewisse Abneigung gegen Bücher (oft über Bäume), die diesen allzu unbekümmert und unreflektiert menschliche Eigenschaften zuschreiben: Sie reden miteinander, sie hüten ihre Sprösslinge usw. Ich gebe zu, dass ich solche Bücher schwer lesen kann, weil sie die philosophischen Kernfragen meist einfach überspringen. Andererseits zeigt uns das Beispiel Computer und KI, wie schwer es ist, eine nicht-anthropomorphe Sprache für bestimmte Sachverhalte zu finden. Aber warum fällt es vielen (nicht allen) leichter, so zu sprechen, als könnten Maschinen denken, sprechen und handeln – als davon zu sprechen, dass Teile der Natur – wie zum Beispiel Flüsse – denken, sprechen und handeln?
Wo verläuft für euch die Grenze zwischen metaphorischer* Rede und echter Zuschreibung von "Lebendigkeit"? Ich sympathisiere mit der Idee Flüssen (vielleicht der Natur schlechthin?) Rechte zu "gewähren"**, jedenfalls schulden wir ihr etwas, das scheint mir klar zu sein.
Wer noch keine Allergie gegen NotbookLM hat kann sich auch diesen kurzen Podcast anhören.
*Aus diversen Diskussionen weiß ich, dass die metaphorische Rede davon, dass Bäume miteinander reden oft als bare Münze genommen wird.
** ein krummer Ausdruck, vielleicht passt "anerkennen" besser.
Hier muss man sehen, wie man das sowohl unterscheidet als auch zusammen denkt. In poetischer Denkweise ist es ganz sicher gar kein Problem, davon zu sprechen, dass Flüsse leben. Ich weiß aber nicht, was die Lebenswissenschaften dazu sagen, die sollten hier natürlich ein Wörtchen mitzureden haben. Und die politische Sicht - Flüsse sollten Rechte habe - ist noch mal ein weiterer, etwas anderer Punkt. Siehe dazu den kurzen Text der Uni Kassel: "Am entschiedensten wird der Schritt hin zu Rechten der Natur in Ecuador vollzogen, wo die Verfassung der Natur in den Art. 10 Abs. 2 und Art. 71 Abs. 1 in ihrer Gesamtheit solche Rechte zuspricht."ein sowohl poetischer, politischer als auch philosophischer Versuch
Ich habe Macfarlanes Buch (in der englischsprachigen Originalausgabe) nur überflogen, aber seine Ideen stehen im Kontext der (von Arne Naess so genannten) "Tiefen Ökologie"/"Tiefenökologie" ("Deep Ecology").
"Seichte Ökologie: Eine grüne ideologische Perspektive, die die Lehren der Ökologie auf menschliche Bedürfnisse und Ziele überträgt und mit Werten wie Nachhaltigkeit und Naturschutz verbunden ist.
Tiefe Ökologie: Eine grüne ideologische Perspektive, die Anthropozentrismus ablehnt und dem Erhalt der Natur Priorität einräumt. Sie ist mit Werten wie biozentrischer Gleichheit, Vielfalt und Dezentralisierung verbunden." [Google Translate]
(Heywood, Andrew. Political Ideologies: An Introduction. 7th ed. London: Red Globe/Macmillan, 2021. p. 210)
Die Forderung nach Tierrechten lässt sich aus tiefenökologischer Sicht auf Pflanzenrechte und z.B. sogar auf Flussrechte erweitern.'"SPANNUNGEN IM ÖKOLOGISMUS:
"Seichte" Ökologie vs. "Tiefe" Ökologie
Umweltschutz <–> Ökologismus
"Leichter" Anthropozentrismus <–> Ökozentrismus
Wissenschaft <–> Mystizismus
Menschheit <–> Natur
Begrenzter Holismus <–> Radikaler Holismus
Instrumenteller Wert <–> Wert-in-der-Natur
Modifizierter Humanismus <–> Biozentrische Gleichheit
Tierschutz <–> Tierrechte
Nachhaltiges Wachstum <–> Anti-Wachstum
Persönliche Entwicklung <–> Ökologisches Bewusstsein" [Google Translate]
(Heywood, Andrew. Political Ideologies: An Introduction. 7th ed. London: Red Globe/Macmillan, 2021. p. 211)
"1. Die Seichte-Ökologie-Bewegung [Shallow Ecology Movement]:
Kampf gegen Umweltverschmutzung und Ressourcenerschöpfung. Zentrales Ziel: Gesundheit und Wohlstand der Menschen in den Industrieländern.
2. Die Tiefe-Ökologie-Bewegung [Deep Ecology Movement]:
Ablehnung des Menschen-in-der-Umwelt-Bildes zugunsten des relationalen Totalfeld-Bildes. Organismen als Knoten im biosphärischen Netz oder Feld intrinsischer Beziehungen. Eine intrinsische Beziehung zwischen zwei Dingen A und B ist so angelegt, dass sie zu den Definitionen oder Grundkonstitutionen von A und B gehört, sodass A und B ohne die Beziehung nicht mehr dieselben Dinge sind. Das Totalfeld-Modell löst nicht nur das Mensch-in-der-Umwelt-Konzept auf, sondern jedes kompakte Ding-im-Milieu-Konzept – außer auf einer oberflächlichen oder vorläufigen Kommunikationsebene."
(Naess, Arne. "The Shallow and the Deep, Long-Range Ecology Movement. A Summary." Inquiry 16 (1973): 95–100. p. 95)
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Das lässt sich Pi mal Daumen auch systemtheoretisch betrachten, denn jedes System ist in dieser Sicht nicht nur das, was es ist, sondern immer zugleich auch das, was es nicht ist. Ein Organismus muss zwar seine Autopoiesis aufrechterhalten (um das zu sein, was er ist), kann dies aber nur „als Knoten im biosphärischen Netz“ (als Teil dessen, was er nicht ist). Aber was sagt das nun zur Frage, ob Flüsse leben? Kann man sagen, dass Flüsse in einem systemischen oder ökologischen Sinne „leben“, da sie dynamische, sich selbst erhaltende Systeme und Knotenpunkte im biosphärischen Netz sind?Naess, Arne. "The Shallow and the Deep, Long-Range Ecology Movement. A Summary." Inquiry 16 (1973): 95–100. p. 95 hat geschrieben : Organismen als Knoten im biosphärischen Netz oder Feld intrinsischer Beziehungen"
Viel (wenn nicht alles?) hängt hier an einer angemessenen Definition von Leben.
In jede Definition fließt ein Vorverständnis ein. Das heißt: Eine bestimmte Weise, Biologie zu betreiben, legt auch eine bestimmte Auffassung von Leben nahe – manchmal, ohne dass dies immer explizit reflektiert wird. Natürlich ist es sinnvoll, Leben auch – aber eben nicht nur – auf der Ebene chemischer Prozesse zu untersuchen. Aber reicht dieser Blick aus? Der Begriff Leben stammt ja ursprünglich aus der Lebenswelt – also mitten aus dem gelebten Alltag. Ihn ausschließlich aus einer Außenperspektive zu betrachten, die den Gegenstand gewissermaßen von der Seite (als eines Ding) analysiert, könnte zu kurz greifen.
Was Leben ist, weiß man – zumindest in einem vortheoretischen Sinn – auch als Erlebewesen: durch das eigene Lebendigsein. Dieses Wissen ist kein theoretisches, sondern ein leiblich erfahrenes. Natürlich bedeutet das nicht, dass man damit schon eine gut formulierte Definition in der Hand hätte. Wichtig: Nicht jede Definition ist sprachlich beschreibend; es gibt auch hinweisende – sogenannte ostensive oder indexikalische – Definitionen. Blau etwa lässt sich nicht rein sprachlich definieren, man kann nur darauf zeigen. Und das gilt womöglich für vieles, was qualitativ ist.
Wichtig für Leben ist Intentionalität in einem weiten Sinn. Dabei ist wichtig zu unterscheiden: Die Logik der Intentionalität – ihre Struktur, ihr Bezug auf etwas – ist nicht dasselbe wie ihre konkrete materielle Realisierung. Dies zu verwechseln, wäre ein verkürzender Fehlschluss. Natürlich zählt das Materielle – matter matters –, aber es ist nicht alles. Zwar lässt sich die Logik der Intentionalität möglicherweise nur in biologischer Materialität realisieren, doch man muss ihre Struktur "unabhängig" von dieser Realisierung analysieren – und das ist eine genuin philosophische Aufgabe.
Kurz gesagt: Neben biologisch-chemischer Forschung brauchen wir auch Begriffsanalysen. Denn nur, wenn wir wenigstens im Groben wissen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von „Leben“ sprechen, können wir auch beurteilen, ob unsere Forschungen überhaupt das erfassen, worauf es uns ankommt.
Nachtrag: In den Naturwissenschaften gibt es keine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition von Leben; der israelische Chemiker Noam Lahav sammelte 1999 beispielsweise 48 verschiedene Definitionen von Experten der letzten 100 Jahre ... ob man 25 Jahre später viel weiter ist, weiß ich nicht.
Was Leben ist, weiß man – zumindest in einem vortheoretischen Sinn – auch als Erlebewesen: durch das eigene Lebendigsein. Dieses Wissen ist kein theoretisches, sondern ein leiblich erfahrenes. Natürlich bedeutet das nicht, dass man damit schon eine gut formulierte Definition in der Hand hätte. Wichtig: Nicht jede Definition ist sprachlich beschreibend; es gibt auch hinweisende – sogenannte ostensive oder indexikalische – Definitionen. Blau etwa lässt sich nicht rein sprachlich definieren, man kann nur darauf zeigen. Und das gilt womöglich für vieles, was qualitativ ist.
Wichtig für Leben ist Intentionalität in einem weiten Sinn. Dabei ist wichtig zu unterscheiden: Die Logik der Intentionalität – ihre Struktur, ihr Bezug auf etwas – ist nicht dasselbe wie ihre konkrete materielle Realisierung. Dies zu verwechseln, wäre ein verkürzender Fehlschluss. Natürlich zählt das Materielle – matter matters –, aber es ist nicht alles. Zwar lässt sich die Logik der Intentionalität möglicherweise nur in biologischer Materialität realisieren, doch man muss ihre Struktur "unabhängig" von dieser Realisierung analysieren – und das ist eine genuin philosophische Aufgabe.
Kurz gesagt: Neben biologisch-chemischer Forschung brauchen wir auch Begriffsanalysen. Denn nur, wenn wir wenigstens im Groben wissen, was wir eigentlich meinen, wenn wir von „Leben“ sprechen, können wir auch beurteilen, ob unsere Forschungen überhaupt das erfassen, worauf es uns ankommt.
Nachtrag: In den Naturwissenschaften gibt es keine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition von Leben; der israelische Chemiker Noam Lahav sammelte 1999 beispielsweise 48 verschiedene Definitionen von Experten der letzten 100 Jahre ... ob man 25 Jahre später viel weiter ist, weiß ich nicht.
"Angesichts der vielen Merkmale, die zur Charakterisierung von Lebewesen erforderlich sind, ist es nicht verwunderlich, dass sich der Begriff „Leben“ nur schwer definieren lässt. Tatsächlich ist es selbst unter Wissenschaftlern derselben Generation praktisch unmöglich, sich auf eine Definition von Leben zu einigen." [Google Translate]
(Lahav, Noam. Biogenesis: Theories of Life's Origin. New York: Oxford University Press, 1999. p. 110)
Das ist eine komplizierte Auflistung von Merkmalen; aber Lahav zählt Flüsse und Berge vermutlich nicht zu den Lebewesen."Die wichtigsten Eigenschaften von Lebewesen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Lebewesen sind komplexe, weit vom Gleichgewicht entfernte Strukturen, die durch den Energiefluss von Quellen zu Senken aufrechterhalten werden. Sie sind kompartimentierte, organische, homochirale Einheiten, die eng mit ihrer Umwelt (einschließlich anderer Lebewesen) verbunden sind und mit ihr kommunizieren, gleichzeitig aber durch eine Grenze (bei heutigen Organismen eine Lipiddoppelschicht) von ihr getrennt sind und in ihren Aktivitäten auf einen kontinuierlichen Energie- und Materiefluss aus ihrer Umgebung durch diese Membran angewiesen sind. Sie können sich replizieren, mutieren, Materie und Energie mit ihrer Umwelt austauschen und sich in Prozessen entwickeln, die durch ein breites Arsenal organischer Katalysatoren katalysiert werden. Die Eigenschaften der meisten oder aller dieser Prozesse und Moleküle, wie sie sich in ihren chemischen Kreisläufen, ihrer Regulation, Kommunikation, Komplementarität und Rhythmen sowie den potenziellen Lebenskriterien jedes Organismus widerspiegeln, bestätigen das Prinzip der Kontinuität. Aus unbelebter Materie entstanden, stellen sie autokatalytische, evolvierbare, teleonomische organische Systeme dar, die Information übertragen, speichern und verarbeiten können, die auf vorlagen- und sequenzgesteuerten Reaktionen basieren, die alle autopoietische Einheiten charakterisieren." [Google Translate]
(Lahav, Noam. Biogenesis: Theories of Life's Origin. New York: Oxford University Press, 1999. p. 113)
In einem anderen Buch ist zu lesen:
"Die acht Säulen des Lebens sind also Kompartimentierung, Energiestoffwechsel, Katalyse, Regulation, Wachstum, Programm, Reproduktion und Anpassung."
(Thoms, Sven T. Ursprung des Lebens. Frankfurt/Main: Fischer, 2005. S. 7)

(Bildquelle: Thoms, S. 5)
Lahav erwähnt Ernst Haeckel in seiner Liste von Lebensdefinitionen, aber seltsamerweise nicht dieses Zitat:
Bei Flüssen und Bergen, die keine aus organischen Zellen aufgebaute Organismen sind, findet sich nichts dergleichen. (Wer die Verzweigung eines Flusses in zwei Flussarme als "Fortpflanzung" bezeichnet, der spricht metaphorisch und nicht im wörtlichen biologischen Sinn.)"Organismus. In dem Sinne, in dem gewöhnlich die Wissenschaft das Wort Organismus gebraucht, und in dem wir es auch hier verwenden, ist der Begriff gleichbedeutend mit 'Lebewesen' oder 'lebendigem Naturkörper'. Den Gegensatz dazu bildet im weitesten Sinne das Anorgan, der 'leblose oder anorgische' Naturkörper. Der Inhalt des Begriffes Organismus ist also in diesem Sinne ein physiologischer und wird wesentlich durch die sichtbare Lebenstätigkeit des Körpers bestimmt, durch den Stoffwechsel, die Ernährung und Fortpflanzung."
(Haeckel, Ernst. Die Lebenswunder: Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie. Stuttgart: Kröner, 1904. S. 33)
Abgesehen von einigen Grenzfällen von Lebewesen wie Viren, die über keinen eigenen, eigenständigen Stoffwechsel- und Fortpflanzungsmechanismus verfügen, und einem neulich entdeckten Archaeon (* ohne Stoffwechsel-, aber mit Fortpflanzungsmechanismus, wissen die Biologen doch ziemlich genau, welche Wesen zu den Lebewesen gehören und welche nicht. (* Die Archaeen bilden als zellkernlose Einzeller ein Reich von Lebewesen.)
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Was genau verstehst du darunter?Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Di 1. Jul 2025, 13:56Wichtig für Leben ist Intentionalität in einem weiten Sinn.
In Lahavs Buch ist in keinem einzigen der (unter "Definitions and characterizations of life" aufgeführten) 48 Zitate von Intentionalität die Rede.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
"Gerichtetheit bedeutet, dass das Leben "irgendwo hin" will. Das zumindest denken wir, können es aber in keine naturwissenschaftliche Formelsprache bringen" (Schwille)Consul hat geschrieben : ↑Mi 2. Jul 2025, 06:23Was genau verstehst du darunter?Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Di 1. Jul 2025, 13:56Wichtig für Leben ist Intentionalität in einem weiten Sinn.
In Lahavs Buch ist in keinem einzigen der (unter "Definitions and characterizations of life" aufgeführten) 48 Zitate von Intentionalität die Rede.
Intentionalität meine ich hier als sehr weiten Begriff. Von etwas handeln, Absichten haben, Ziele haben und ähnliches. Im Grunde ist bereits Selbsterhaltung etwas Intentionales. Jedem Leben geht es um etwas, sei es in seinen einfachsten Formen nur um es selbst, für jedes Leben steht immer etwas auf dem Spiel. Darin unterscheidet es sich meines Erachtens kategorial zum Beispiel von einem Stein.
Es geht also im weitesten Sinn um die Frage nach biologischer Teleologie, nach "Ziel-/Zweckursachen" (causae finales) im Reich der Lebewesen. Hier muss man klar zwischen psychologischer Teleologie—wozu mentale Intentionalität gehört—und nichtpsychologischer Teleologie unterscheiden. Mentale Intentionalität (mittels mentaler Repräsentationen) ist kein Wesensmerkmal des Lebens.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Mi 2. Jul 2025, 10:51"Gerichtetheit bedeutet, dass das Leben "irgendwo hin" will. Das zumindest denken wir, können es aber in keine naturwissenschaftliche Formelsprache bringen" (Schwille)
Intentionalität meine ich hier als sehr weiten Begriff. Von etwas handeln, Absichten haben, Ziele haben und ähnliches. Im Grunde ist bereits Selbsterhaltung etwas Intentionales. Jedem Leben geht es um etwas, sei es in seinen einfachsten Formen nur um es selbst, für jedes Leben steht immer etwas auf dem Spiel. Darin unterscheidet es sich meines Erachtens kategorial zum Beispiel von einem Stein.
Bezüglich nichtpsychologischer Teleologie unterscheidet der große Biologe Ernst Mayr zwischen teleomatischen und teleonomischen Vorgängen, deren Abläufe gänzlich durch Wirkursachen (causae efficientes) erklärt werden können. Siehe: viewtopic.php?p=81944#p81944
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding