Haben Flüsse Rechte? Sind Flüsse Lebewesen?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn P Budesheim
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Mo 15. Sep 2025, 09:23

Consul hat geschrieben :
So 14. Sep 2025, 01:46
Von welchen "anderen Erklärungsansätzen" sprichst du? Wie lässt sich die evolutionäre Abiogenese (Lebensentstehung) nichtchemisch erklären? Wie lässt sich die evolutionäre Apsychogenese (Bewusstseinsentstehung) nichtneurologisch erklären?
Dass Bewusstsein "entsteht", ist bereits umstritten, wie du weißt. Gerade weil sich Phänomene wie Leben und Bewusstsein bislang hartnäckig einer vollständigen Erklärung entziehen, ist es sinnvoll, nach anderen Erklärungsansätzen Ausschau zu halten. Das heißt nicht, gleich eine neue endgültige Lösung vorlegen zu müssen, sondern zunächst Vorschläge zu prüfen – etwa den Panpsychismus in seinen verschiedenen Spielarten. Natürlich haben auch diese Theorien ihre Probleme, aber das allein heißt nicht, dass sich ihre Erforschung nicht lohnen könnte. Chalmers hat einmal angemerkt, dass beim harten Problem des Bewusstseins auch „verrückte“ Ideen relevant sein könnten, zu denen er etwa auch den Eliminativismus Dennetts zählt. Um hier weiterzukommen, braucht es meines Erachtens also vor allem eine Haltung der Offenheit.

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Im folgenden zwei Videos, als Beispiele, die ich hier im Forum schon mal gepostet habe.
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Gibt es einen zweiten, bisher nicht bekannten Zeit-Pfeil?

Im Video wird, so wie ich es verstanden habe, die Hypothese eines bislang unbekannten Naturgesetzes diskutiert, das die Entstehung und Entwicklung von "Systemen" beschreibt – von Mineralien über Leben bis hin zu Technologien. Robert Hazen (und sein Team) argumentieren, zumindest nach meinem Verständnis, dass die bestehenden Naturgesetze allein nicht ausreichen, um die zunehmende Ordnung und Komplexität in der Natur zu erklären, die sich in diesem Systemen zeigt. Er schlägt daher ein neues Gesetz vor: das Gesetz der zunehmenden funktionalen Information. Dieses beschreibt eine zweite Zeitrichtung neben der Entropiezunahme und betont die Bedeutung der Selektion für Funktion in unterschiedlichen Systemen. Ordnung und Komplexität werden – wenn ich ihn richtig verstanden habe – hier nicht absolut verstanden, sondern kontextabhängig, immer im Hinblick auf den jeweiligen Zweck oder die Funktion eines Systems.

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Wir wissen nicht, was Leben ist, damit beginnt Lee Cronin und wiederholt es eindringlich. Für Cronin ist letztlich die Fähigkeit eines Systems, sich selbst zu kopieren und dadurch fortzubestehen, der Kern des Lebens. Damit wird nicht auf eine bestimmte Chemie gesetzt, sondern auf eine allgemeine Struktur, die auf anderen Planeten anders realisiert sein könnte, wenn ich richtig sehe.

https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_M._Hazen




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Consul
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Di 16. Sep 2025, 06:40

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 15. Sep 2025, 09:23
Consul hat geschrieben :
So 14. Sep 2025, 01:46
Von welchen "anderen Erklärungsansätzen" sprichst du? Wie lässt sich die evolutionäre Abiogenese (Lebensentstehung) nichtchemisch erklären? Wie lässt sich die evolutionäre Apsychogenese (Bewusstseinsentstehung) nichtneurologisch erklären?
Dass Bewusstsein "entsteht", ist bereits umstritten, wie du weißt. Gerade weil sich Phänomene wie Leben und Bewusstsein bislang hartnäckig einer vollständigen Erklärung entziehen, ist es sinnvoll, nach anderen Erklärungsansätzen Ausschau zu halten. Das heißt nicht, gleich eine neue endgültige Lösung vorlegen zu müssen, sondern zunächst Vorschläge zu prüfen – etwa den Panpsychismus in seinen verschiedenen Spielarten. Natürlich haben auch diese Theorien ihre Probleme, aber das allein heißt nicht, dass sich ihre Erforschung nicht lohnen könnte. Chalmers hat einmal angemerkt, dass beim harten Problem des Bewusstseins auch „verrückte“ Ideen relevant sein könnten, zu denen er etwa auch den Eliminativismus Dennetts zählt. Um hier weiterzukommen, braucht es meines Erachtens also vor allem eine Haltung der Offenheit.
Gegen alternative Erklärungsansätze innerhalb des materialistisch-naturalistischen Paradigmas habe ich nichts einzuwenden; doch der Panpsychismus ist von vornherein eine wissenschaftliche Sackgasse. Er ist wirklich zu "verrückt", als dass er es verdient, wissenschaftlich ernst genommen zu werden.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mo 15. Sep 2025, 09:23
…Robert Hazen…

…Lee Cronin…
Es gibt mehrere wissenschaftliche Theorien zur Abiogenese und zur Apsychogenese, wobei (noch) nicht klar ist, ob eine davon die richtige ist und, falls ja, welche. Aber die beiden erwähnten Wissenschaftler befürworten weder den Vitalismus noch den Panpsychismus, oder?
"Ein kurzer Moment des Nachdenkens offenbart, dass auch dem Holismus ein reduktionistischer Ansatz zugrunde liegt. Der ganzheitliche Systemansatz zum Verständnis der Komplexität eines biologischen Systems reduziert das komplexe System weiterhin auf einfachere Elemente, legt dabei aber größeren Wert auf die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen diesen Elementen. Mit anderen Worten: Der ganzheitliche Ansatz propagiert lediglich eine komplexere Form der Reduktion, die anerkennt, dass Kausalbeziehungen innerhalb eines Systems komplexer sein können als die einer einfachen Bottom-up-Kausalkette. Um den britischen Biologen Athel Cornish-Bowden zu zitieren:

Der klassische reduktionistische Ansatz in der Wissenschaft kann als ein Weg verstanden werden, die Funktionsweise eines Gesamtsystems anhand der Eigenschaften seiner Teile zu verstehen. Nun müssen wir lernen, die Teile im Hinblick auf das Ganze zu verstehen.

Reduktion als Erklärungsinstrument in der Wissenschaft ist schwer zu umgehen, da Reduktion ein zentrales Mittel zum Erlangen wissenschaftlichen Verständnisses ist. Trotz jahrzehntelangem, erwartungsvollem Herantasten an eine nicht-reduktionistische oder gar anti-reduktionistische Methodik scheint diese Aktivität bisher keine essbaren Früchte hervorgebracht zu haben. Trotz seines Namens kann man den Holismus als bloße reduktionistische Verfeinerung betrachten, eine potenziell wertvolle Verfeinerung sicherlich, aber dennoch eine Verfeinerung. Reduktion in ihren verschiedenen Formen und Unterformen war, ist und wird wahrscheinlich das zentrale konzeptionelle Werkzeug wissenschaftlicher Bemühungen bleiben. Soweit die Frage „Was ist Leben?“ zufriedenstellend gelöst werden kann, ist dies meiner Meinung nach nur durch einen grundsätzlich reduktionistischen Ansatz möglich – indem man die zugrunde liegenden Verbindungen zwischen Chemie und Biologie sucht und den Prozess identifiziert, der für die biologische Komplexierung verantwortlich ist. Letztendlich muss der Unterschied zwischen belebt und unbelebt auf Unterschiede in der Natur der Materialien innerhalb der beiden Welten reduziert werden und insbesondere auf die Art und Weise, wie diese Materialien interagieren und reagieren." [Google Translate]

(Pross, Addy. What is Life? How Chemistry becomes Biology. Oxford: Oxford University Press, 2012. pp. 56-7)



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Jörn P Budesheim
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Di 16. Sep 2025, 12:05

Consul hat geschrieben :
Di 16. Sep 2025, 06:40
materialistisch-naturalistischen Paradigma
Ich habe bei Fragen wie „Was ist Leben?“ oder „Wie steht es mit dem Bewusstsein?“ keine endgültige Wette am Laufen. (Sind Flüsse Lebewesen? Meine Antwort liegt irgendwo zwischen: Keine Ahnung, vielleicht und eher nein – obwohl die Argumente teilweise sehr stark sind.)

Ich glaube jedoch, dass das materialistisch-naturalistische Paradigma mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist. Panpsychismus fällt mir zwar auch schwer – ich kann mir kaum vorstellen, dass Bäume* eine Form von Bewusstsein haben ... Aber noch weniger kann ich mir vorstellen, dass das materialistisch-naturalistische Paradigma richtig ist. Es hat schlicht keinen Platz für uns, und deswegen scheidet es meines Erachtens mit großer Sicherheit aus.

* Damit stehe ich in meinem Bekanntenkreis eher allein; viele, die ich kenne, haben damit gar kein Problem.




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Consul
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Mi 17. Sep 2025, 05:41

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Sep 2025, 12:05
Ich habe bei Fragen wie „Was ist Leben?“ oder „Wie steht es mit dem Bewusstsein?“ keine endgültige Wette am Laufen. (Sind Flüsse Lebewesen? Meine Antwort liegt irgendwo zwischen: Keine Ahnung, vielleicht und eher nein – obwohl die Argumente teilweise sehr stark sind.)
Wie bitte?! Ich kann nicht glauben, dass deine ernsthafte Antwort auf die Frage, ob Flüsse selbst (abgesehen von den darin enthaltenen Lebewesen) Lebewesen sind, "vielleicht und eher nein" lautet und nicht "definitiv nein". Denn Flüsse sind nicht einmal Grenzfälle von Leben wie Viren, sondern genauso eindeutig keine Lebewesen, wie ein 1,50m großer Mensch kein Riese ist.
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Sep 2025, 12:05
Ich glaube jedoch, dass das materialistisch-naturalistische Paradigma mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch ist. Panpsychismus fällt mir zwar auch schwer – ich kann mir kaum vorstellen, dass Bäume* eine Form von Bewusstsein haben ... Aber noch weniger kann ich mir vorstellen, dass das materialistisch-naturalistische Paradigma richtig ist. Es hat schlicht keinen Platz für uns, und deswegen scheidet es meines Erachtens mit großer Sicherheit aus.
Du hast unrecht, denn es hat sehr wohl einen Platz für uns als körperliche, leibliche, fleischliche Wesen.
"Der Mensch ist ein Tier. Manchmal sind wir Monster, manchmal großartig, aber immer Tiere. Wir halten uns vielleicht lieber für gefallene Engel, aber in Wirklichkeit sind wir emporgestiegende Affen." [Google Translate mit einer Änderung meinerseits]

(Morris, Desmond. The Human Animal: A Personal View of the Human Species. London: BCA, 1994. p. 6)
Antimaterialisten/Antinaturalisten unterschiedlicher Couleur "glauben an enorme Mengen nichtphysischer, nichträumlicher und sogar nichtzeitlicher Realität, jenseits der Verderbnis durch Motten und Rost, welche die materielle Realität entweder ergänzt oder ersetzt: Geister, Seelen, spirituelle Wesen und Ideen, transzendente Ideale und ewige Objekte, Zahlen, Prinzipien, Engel und reines Sein." (*
Für solche überphysischen/übernatürlichen Sachen ist im materialistisch-naturalistischen Paradigma allerdings kein Platz.
(* Williams, Donald Cary. "Naturalism and the Nature of Things." In Principles of Empirical Realism: Philosophical Essays, 212-238. Springfield, IL: Charles C Thomas, 1966. p. 224)

Wenn der reduktive Materialist Jack Smart (in Anspielung auf La Mettrie's berühmt-berüchtigtes Buch L’Homme-Machine von 1747) Folgendes sagt, dann bestreitet er damit mitnichten, dass wir lebende, fühlende, denkende und schöpferisch tätige physische Mechanismen oder "Maschinen" sind.
"Meine These ist, dass der Mensch ein physischer Mechanismus ist, und häufig drücke ich dies salopp in der Form 'Der Mensch ist eine Maschine' aus." [meine Übers.]

(Smart, J. J. C. Philosophy and Scientific Realism. London: Routledge & Kegan Paul, 1963. p. 107)
Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Di 16. Sep 2025, 12:05
* Damit stehe ich in meinem Bekanntenkreis eher allein; viele, die ich kenne, haben damit gar kein Problem.
Erstaunlich!



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Mi 17. Sep 2025, 08:13

Consul hat geschrieben :
Mi 17. Sep 2025, 05:41
Du hast unrecht, denn es hat sehr wohl einen Platz für uns als körperliche, leibliche, fleischliche Wesen.
Das ist doch dasselbe, was ich sagte, nur in anderen Worten :-) Wir sind zwar auch (und notwendig!) körperliche, leibliche, fleischliche Wesen, aber eben nicht nur. Wir sind geistige Wesen im weiten Umfang des Begriffs Geist. "Mensch" ist meines Erachtens nicht zuerst ein biologischer Begriff (das auch), sondern hauptsächlich ein normativer Begriff, denn wir haben eine Würde (das Grundgesetz hat recht) sowie Rechte und Pflichten gegenüber uns und den anderen Lebewesen. Dafür hat das fragliche Paradigma keinen Platz.




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Do 18. Sep 2025, 02:23

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Mi 17. Sep 2025, 08:13
Consul hat geschrieben :
Mi 17. Sep 2025, 05:41
Du hast unrecht, denn es hat sehr wohl einen Platz für uns als körperliche, leibliche, fleischliche Wesen.
Das ist doch dasselbe, was ich sagte, nur in anderen Worten :-) Wir sind zwar auch (und notwendig!) körperliche, leibliche, fleischliche Wesen, aber eben nicht nur. Wir sind geistige Wesen im weiten Umfang des Begriffs Geist. "Mensch" ist meines Erachtens nicht zuerst ein biologischer Begriff (das auch), sondern hauptsächlich ein normativer Begriff, denn wir haben eine Würde (das Grundgesetz hat recht) sowie Rechte und Pflichten gegenüber uns und den anderen Lebewesen. Dafür hat das fragliche Paradigma keinen Platz.
Wenn "nur physisch" "nicht biotisch oder psychisch" bedeutet, dann sind wir nicht nur physische Wesen. Aber zu sagen, dass wir (gänzlich) physische Wesen sind, bedeutet eben nicht, dass wir nur physische Wesen in jenem Sinn sind; denn wir sind als physische Wesen auch biophysische und psychophysische Wesen.
Zum Wörtchen "nur", siehe das betreffende Smart-Zitat in diesem Beitrag von mir!

Die Menschenwürde hat auch im materialistisch-naturalistischen Weltbild ihren Platz, aber nicht im Sinn einer objektiv-realen moralischen Eigenschaft. Die Menschenwürde gründet darin, dass (den meisten von) uns unser eigenes Leben und Wohlsein sowie das unserer Mitmenschen sehr viel wert ist. Es gibt freilich auch Menschen, denen das Leben & Wohlsein anderer nichts wert ist, oder die sich selbst und ihr eigenes Leben als wertlos erachten.



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Jörn P Budesheim
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Do 18. Sep 2025, 07:44

Consul hat geschrieben :
Do 18. Sep 2025, 02:23
Die Menschenwürde hat auch im materialistisch-naturalistischen Weltbild ihren Platz, aber nicht im Sinn einer objektiv-realen moralischen Eigenschaft.
Aber das ist eine in sich widersprüchliche Aussage. Im ersten Teil des Satzes sagst du, es gibt sie, im zweiten sagst du, es gibt sie nicht.




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Fr 17. Okt 2025, 17:15




die KI des Forums / ich kann und werde Fehler machen

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Consul
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Sa 18. Okt 2025, 16:52

Wenn Macfarlane sagte, dass er den Begriff Lebewesen in Bezug auf Flüsse in einem übertragenen und nicht im wörtlichen wissenschaftlichen Sinn gebrauche, dann ließe ich ihn gewähren. Doch wenn er diesen Begriff ernsthaft im wörtlichen wissenschaftlichen Sinn auf Flüsse anwendet, dann muss man ihm vorwerfen, dass er Unsinn redet. Denn daran, dass Flüsse (als sich bewegende Wassermassen) nicht wirklich Lebewesen sind, gibt es nichts zu rütteln.



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