Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Consul
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Sa 5. Jul 2025, 00:08

Pragmatix hat geschrieben :
Fr 4. Jul 2025, 20:17
Deutscher ist, wer einen deutschen Pass hat. Punkt. Aber es gibt halt keinen hessischen Pass.
Deshalb auch diese leidige Diskussion zwischen Friedmann und Borchmeyer. Verschwindet der Pass, verflüchtigt sich alles Deutsch.
(Sich zum Deutschtum bekennende) Rumäniendeutsche und Russlanddeutsche ohne deutschen Pass sind für dich also keine Deutschen.

Die meisten Fachleute und ich (als Nichtfachmann) halten es für einen grundlegenden begrifflichen Fehler, Völker als Ethnien oder Nationen mit Angehörigen bestimmter Staaten gleichzusetzen, was zum unerwünschten definitorischen Ausschluss der Möglichkeit von Vielvölkerstaaten sowie der Möglichkeit staatenloser Völker führen würde. Ethnische oder nationale Gebilde sind jedoch nicht dasselbe wie politische Staatsgebilde. Eine Nation und ein Nationalstaat sind auch begrifflich verschieden. Die Ethnologie lässt sich nicht auf die Politologie reduzieren.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Sa 5. Jul 2025, 01:24

Consul hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 00:08
…Die Ethnologie lässt sich nicht auf die Politologie reduzieren.
1936 ist eine deutsche Übersetzung eines Buches von Hipolit Olgerd Boczkowski mit dem Titel Grundlagen des Nationalproblems: Einführung in die Natiologie erschienen. Mit "Natiologie" (= "Nationenkunde/-lehre") haben wir eine taugliche Fachbezeichnung neben "Ethnologie", wobei sich die Frage stellt, wie sich Nationen und Ethnien zueinander verhalten. Die Natiologie beschäftigt sich jedenfalls auch mit nichtethnisch definierten "Bürgernationen" (civic nations vs. ethnic nations, Hans Kohn).



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Consul
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Sa 5. Jul 2025, 01:47

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Fr 4. Jul 2025, 09:12
Martenstein hat geschrieben : Sie werden offen ausgetragen, manchmal auch hart.
Der Artikel ist hinter einer Bezahlschranke.
Hier kann man Martenstein barrierefrei hören: https://www.ndr.de/kultur/sendungen/martenstein



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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 09:39

Ich habe mal die Online-Suche perplexity.ai bemüht:
Mit „austragen“ im demokratischen Sinn meint Martenstein nicht bloße Machtkämpfe, bei denen sich einfach die stärkere Seite durchsetzt und die andere überrollt wird. Das wäre tatsächlich das Gegenteil von dem, was er als demokratische Auseinandersetzung beschreibt.

Was meint Martenstein mit „austragen“?
Austragen im Sinne von Martenstein (und im demokratischen Ideal) bedeutet:

Offene, faire Debatte: Verschiedene Meinungen und Interessen werden öffentlich und transparent diskutiert.

Argumente statt bloßer Macht: Es geht darum, Argumente auszutauschen, Standpunkte zu erklären und andere zu überzeugen – nicht darum, den Gegner mit Machtmitteln mundtot zu machen.

Aushandeln von Kompromissen: Idealerweise führt das Austragen von Konflikten dazu, dass Kompromisse gefunden oder zumindest gegenseitiges Verständnis erreicht wird.

Respekt vor der Minderheit: Auch wenn am Ende Mehrheiten entscheiden, bleibt der Respekt vor abweichenden Meinungen erhalten. Die Minderheit wird nicht einfach unterdrückt, sondern bleibt Teil des Diskurses.

Was wäre „kein Austragen“?
Machtkampf ohne Dialog: Wenn eine Seite sich nur durchsetzt, weil sie mehr Macht, Einfluss oder Lautstärke hat, und die andere Seite keine Chance bekommt, ihre Sicht darzulegen, ist das kein echtes Austragen.

Unterdrückung von Meinungen: Wenn Konflikte durch Zensur, Einschüchterung oder Ausgrenzung „gelöst“ werden, ist das ebenfalls kein Austragen, sondern Unterdrückung.

Scheinlösungen: Wenn Konflikte nur oberflächlich beigelegt werden, ohne dass die unterschiedlichen Positionen wirklich gehört oder berücksichtigt wurden.

Fazit
Martenstein plädiert für ein Austragen von Konflikten, das auf offenem Streit, Dialog und Aushandlung basiert – nicht auf bloßer Machtlogik. Demokratie lebt davon, dass auch unterlegene Meinungen sichtbar bleiben und der Diskurs nie ganz abgeschlossen ist.
Schlichte Machtkämpfe, bei denen nur das Recht des Stärkeren gilt, sind das Gegenteil von dem, was er als demokratische Spaltung und Vielfalt meint.

Kurz:
Martenstein meint mit „austragen“ nicht das Niederkämpfen, sondern das Austragen im Sinne von offenem, fairem und respektvollem Streit.
Also genau das Gegenteil von Spaltung.




Pragmatix
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Sa 5. Jul 2025, 09:44

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 09:39
Ich habe mal die Online-Suche perplexity.ai bemüht:
Mit „austragen“ im demokratischen Sinn meint Martenstein nicht bloße Machtkämpfe, bei denen sich einfach die stärkere Seite durchsetzt und die andere überrollt wird. Das wäre tatsächlich das Gegenteil von dem, was er als demokratische Auseinandersetzung beschreibt.

Was meint Martenstein mit „austragen“?
Austragen im Sinne von Martenstein (und im demokratischen Ideal) bedeutet:

Offene, faire Debatte: Verschiedene Meinungen und Interessen werden öffentlich und transparent diskutiert.

Argumente statt bloßer Macht: Es geht darum, Argumente auszutauschen, Standpunkte zu erklären und andere zu überzeugen – nicht darum, den Gegner mit Machtmitteln mundtot zu machen.

Aushandeln von Kompromissen: Idealerweise führt das Austragen von Konflikten dazu, dass Kompromisse gefunden oder zumindest gegenseitiges Verständnis erreicht wird.

Respekt vor der Minderheit: Auch wenn am Ende Mehrheiten entscheiden, bleibt der Respekt vor abweichenden Meinungen erhalten. Die Minderheit wird nicht einfach unterdrückt, sondern bleibt Teil des Diskurses.

Was wäre „kein Austragen“?
Machtkampf ohne Dialog: Wenn eine Seite sich nur durchsetzt, weil sie mehr Macht, Einfluss oder Lautstärke hat, und die andere Seite keine Chance bekommt, ihre Sicht darzulegen, ist das kein echtes Austragen.

Unterdrückung von Meinungen: Wenn Konflikte durch Zensur, Einschüchterung oder Ausgrenzung „gelöst“ werden, ist das ebenfalls kein Austragen, sondern Unterdrückung.

Scheinlösungen: Wenn Konflikte nur oberflächlich beigelegt werden, ohne dass die unterschiedlichen Positionen wirklich gehört oder berücksichtigt wurden.

Fazit
Martenstein plädiert für ein Austragen von Konflikten, das auf offenem Streit, Dialog und Aushandlung basiert – nicht auf bloßer Machtlogik. Demokratie lebt davon, dass auch unterlegene Meinungen sichtbar bleiben und der Diskurs nie ganz abgeschlossen ist.
Schlichte Machtkämpfe, bei denen nur das Recht des Stärkeren gilt, sind das Gegenteil von dem, was er als demokratische Spaltung und Vielfalt meint.

Kurz:
Martenstein meint mit „austragen“ nicht das Niederkämpfen, sondern das Austragen im Sinne von offenem, fairem und respektvollem Streit.
Also genau das Gegenteil von Spaltung.
Der Titel der Kolumne hieß: Ein Hoch auf die Spaltung. Und man las dort, dass ein Weltbild, das auf Spaltung beruht, Demokratie heißt. Insofern: Nein.




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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 09:51

Wo Konflikte oder Streit noch "ausgetragen" werden, dort herrscht keine Spaltung.




Pragmatix
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Sa 5. Jul 2025, 10:13

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 09:51
Wo Konflikte oder Streit noch "ausgetragen" werden, dort herrscht keine Spaltung.
In deinem Zitat nennt er das „demokratische Spaltung“.




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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 10:34

Das ändert ja nichts. Wo Konflikte noch "ausgetragen" werden, dort herrscht keine Spaltung.




Pragmatix
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Sa 5. Jul 2025, 10:45

Burkart hat geschrieben :
Fr 4. Jul 2025, 23:43
Pragmatix hat geschrieben :
Fr 4. Jul 2025, 20:17
Deutscher ist, wer einen deutschen Pass hat. Punkt.
Formal kann man das natürlich so sagen.
Aber ich finde es kritisch, wenn man mit zwei Pässen dann zu zwei Ländern gehören soll, insbesondere, wenn sie erhebliche Unterschiede haben.
Zwei Pässe empfinde sowieso leicht als kritisch, wenn derjenige sich das beste der Länder herauspicken und sich ggf. vor ungeliebten drücken kann. So etwas spricht für mich dann nicht gut für die staatliche Zugehörigkeit.

Was gefühlt deutsch ist, lässt sich sicher nicht klar sagen, ändert sich im Laufe der Zeit, ist in Regionen verschieden, kann man nicht klar von anderen Nationen trennen usw.
Mein Punkt ist auch formaler Art: so soll (!) Deutsch verstanden werden in der bunten Version. Deshalb, das hatte ich deskriptiv gemeint, läuft es eben darauf hinaus, dass „Deutsch“ ein formaljuristischer Rechtsbegriff ist, der dann weder ein deutsches Ethos und noch nicht einmal Sprache umfasst, sondern nur Anspruchs- und Schutzrechte. In diesem Sinne gehört man nur funktionalistisch zu einem Land, nicht kulturalistisch. Zieht man das Funktionalistische ab, bleibt nichts als die absolute Freiheit des Individuums, sich zu fühlen als was es mag.

Darauf zielte auch meine Frage ab: ist Hesse oder Dakota, wer sich als Hesse oder Dakota fühlt? Falls die Antwort Nein lautet, müsste es doch ein Ethos geben. Dann aber würde man wiederum in Widersprüche verwickelt, wenn man für Hesse oder Dakota gelten ließe, was man für Deutsch nicht haben möchte. Man könnte „Deutsch“ eine Verkrampfung nennen.




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Sa 5. Jul 2025, 10:48

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 10:34

Das ändert ja nichts. Wo Konflikte noch "ausgetragen" werden, dort herrscht keine Spaltung.
Du kannst ja mal einen AfD-Wähler einladen. Dann sehen wir, ob du Konflikte noch austragen kannst. :lol:




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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 11:00

Das heißt, du stimmst der Diagnose von Martenstein gar nicht zu? Denn der Begriff des "Austragens" (den du nicht erläutern wolltest) stammt ja von ihm und nicht von mir.

Ich glaube, ich verstehe auch unter Spaltung etwas anderes. Was ist eine gesellschaftliche Spaltung? Unter einer Spaltung verstehe ich in diesem Zusammenhang, dass sich entgegengesetzte Kräfte unversönlich gegenüberstehen und die Mitte quasi ausgehöhlt ist. Im Prinzip bedeutet es so viel wie Polarisierung. Wenn ich mich an meine Lektüre des Buches TriggerPunkte korrekt entsinne, gibt es in Deutschland eine Spaltung – entgegen vielfältiger "Einschätzungen" – in diesem Sinne gar nicht – "this is not america".




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Sa 5. Jul 2025, 11:21

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 11:00
Das heißt, du stimmst der Diagnose von Martenstein gar nicht zu? Denn der Begriff des "Austragens" (den du nicht erläutern wolltest) stammt ja von ihm und nicht von mir.

Das heißt, dass du etwas wissen wolltest, das in dem, was ich zitiert habe, nicht als Diagnose vorhanden war. Der Welttag der Rabulistik ist erst im Herbst.




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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 11:29

Ich habe keine Ahnung, was Du damit sagen willst. Du hast einen Beitrag gepostet zu einem Artikel, der hinter einer Bezahlschranke liegst, und warst für keine der Rückfragen offen. Ich habe keine Ahnung, warum du dich so zierst, den Begriff "austragen" von Martenstein zu erläutern. Das gleiche scheint mir jetzt für den Begriff der "Spaltung" der Fall zu sein.




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Sa 5. Jul 2025, 12:08

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 11:29
Ich habe keine Ahnung, was Du damit sagen willst. Du hast einen Beitrag gepostet zu einem Artikel, der hinter einer Bezahlschranke liegst, und warst für keine der Rückfragen offen. Ich habe keine Ahnung, warum du dich so zierst, den Begriff "austragen" von Martenstein zu erläutern. Das gleiche scheint mir jetzt für den Begriff der "Spaltung" der Fall zu sein.
Er hat ihm im Artikel nicht erläutert. Ist das so schwer zu verstehen?




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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 12:15

Er muss den Begriff ja nicht erläutern, damit du ihn erläutern kannst, er wird ihn ja sicherlich in einer gewissen nachvollziehbaren Art und Weise gebraucht haben, die du erklären könntest.




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Sa 5. Jul 2025, 19:10

Consul hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 00:08
Pragmatix hat geschrieben :
Fr 4. Jul 2025, 20:17
Deutscher ist, wer einen deutschen Pass hat. Punkt. Aber es gibt halt keinen hessischen Pass.
Deshalb auch diese leidige Diskussion zwischen Friedmann und Borchmeyer. Verschwindet der Pass, verflüchtigt sich alles Deutsch.
(Sich zum Deutschtum bekennende) Rumäniendeutsche und Russlanddeutsche ohne deutschen Pass sind für dich also keine Deutschen.

Die meisten Fachleute und ich (als Nichtfachmann) halten es für einen grundlegenden begrifflichen Fehler, Völker als Ethnien oder Nationen mit Angehörigen bestimmter Staaten gleichzusetzen, was zum unerwünschten definitorischen Ausschluss der Möglichkeit von Vielvölkerstaaten sowie der Möglichkeit staatenloser Völker führen würde. Ethnische oder nationale Gebilde sind jedoch nicht dasselbe wie politische Staatsgebilde. Eine Nation und ein Nationalstaat sind auch begrifflich verschieden. Die Ethnologie lässt sich nicht auf die Politologie reduzieren.
Das ist aber exakt das, was in der Praxis, im Recht, in der Politik gemacht wird - jedenfalls dann, wenn es um „Deutsch“ geht. Die Rest“Bestände“ von Rumänien- oder Russlanddeutschen werden nur deshalb ausgenommen, weil sie in ungeliebten Systemen Minderheiten sind. Was man ihnen da an den Resten des Deutschen Ethos zugesteht, wird für die Mehrheit hier abgelehnt.

Ich habe vorher ein wenig in Borchmeyers Buch geblättert. Es fängt ja schon an: Was ist deutsch? galt schon lange als die Antwort auf die Frage. Die Frage, das steht auch irgendwo vorn, war ja bis zur Wiedervereinigung überhaupt unter Verschluss. Genau da liegt die Sozialisierung, wenn man im Westen aufwuchs. Man mag sich der Lücken bewusst sein, deshalb werden Narrative wie „Verfassungspatriotismus“ erfunden.

Die Bayern haben kein Problem mit dem Ausbleiben einer Antwort. Weil sie immer zuerst Bayern waren. Das ist vernünftig. Es ist nicht der Pass, der Identität stiftet. Und in dem Augenblick, in dem das Selbstverständnis eben seiner Region/Landsmannschaft gehört, bleibt für Deutsch - sofern man sich nicht mit Philosophie und Weltbildern beschäftigt - nur noch das Funktionale übrig. Und Europa hat mir persönlich in dieser Hinsicht mehr zu bieten als Deutschland. Ich würde lieber in Portugal oder Finnland, England oder Irland leben als in Niedersachsen oder sonstwo nördlich oder östlich.




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Sa 5. Jul 2025, 19:11

Jörn P Budesheim hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 12:15
Er muss den Begriff ja nicht erläutern, damit du ihn erläutern kannst, er wird ihn ja sicherlich in einer gewissen nachvollziehbaren Art und Weise gebraucht haben, die du erklären könntest.
Ich will aber deine Nebelkerzen nicht bedienen.




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Jörn P Budesheim
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Sa 5. Jul 2025, 19:12

Europa – und damit auch Deutschland – wäre ohne den geistigen Reichtum der arabischen Welt ein anderer Kontinent. Ein Beispiel: Zahlreiche bedeutende Texte der griechischen Antike hatten ohne arabische Übersetzungen und Kommentare nicht "überlebt". Philosophie, Mathematik, Medizin, Astronomie – all das wurde im arabischsprachigen Raum nicht nur bewahrt, sondern in eigener Originalität weiterentwickelt. Auch Theologie und Mystik standen im Austausch – etwa über jüdisch-arabische Philosophen oder über die Rezeption des islamischen Denkens durch die Scholastik. In gewisser Hinsicht gehört das zu unserer – also zur deutschen Geschichte.

Auf der anderen Seite: Europa hat sein Selbstbild aber auch durch Abgrenzung geformt. Der „Orient“  wurde zum Gegenbild Europas, er galt als irrational, rückständig oder was auch immer. Was aufgeklärt, modern, westlich war, definierte sich nicht selten im Kontrast zu einem imaginierten „arabischen Anderen“. 

Zynisch gesagt: Wir verdanken der arabischen Welt einiges – einerseits das tatsächliche Erbe, andererseits die Kulisse, vor der wir unsere eigene Identität in Szene gesetzt haben.

Das ist ja nur ein Beispiel, wie sollen solche Einflüsse in das "Bild" von "Deutschland" integriert werden? Welche Rolle sollen solche Einflüsse – es gibt sicherlich viele andere mehr – bei der Beantwortung der Frage spielen?




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Sa 5. Jul 2025, 23:25

Pragmatix hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 10:45
Mein Punkt ist auch formaler Art: so soll (!) Deutsch verstanden werden in der bunten Version. Deshalb, das hatte ich deskriptiv gemeint, läuft es eben darauf hinaus, dass „Deutsch“ ein formaljuristischer Rechtsbegriff ist, der dann weder ein deutsches Ethos und noch nicht einmal Sprache umfasst, sondern nur Anspruchs- und Schutzrechte. In diesem Sinne gehört man nur funktionalistisch zu einem Land, nicht kulturalistisch. Zieht man das Funktionalistische ab, bleibt nichts als die absolute Freiheit des Individuums, sich zu fühlen als was es mag.
Hier ist die wichtige Unterscheidung zwischen öffentlicher Kultur und privater Kultur zu erwähnen.
Anthony Smith definiert "Nation" als "eine benannte menschliche Gemeinschaft, die in einem als solchem betrachteten Heimatland lebt und gemeinsame Mythen und eine gemeinsame Geschichte, eine eigene öffentliche Kultur sowie gemeinsame Gesetze und Bräuche für alle Mitglieder hat." [Google Translate mit Änderungen meinerseits] (Smith, Anthony D. Nationalism. 2nd ed. Cambridge: Polity, 2010. p. 13)

Die gesellschaftlich geteilte und überlieferte öffentliche Kultur einer Nation lässt einen mehr oder weniger großen Spielraum für unterschiedliche private Lebensstile der Einzelnen oder einzelner Gruppen. Je liberaler, toleranter eine Gesellschaft bzw. das darin herrschende Regime ist, desto größer ist der individuell gestalt- und lebbare Privatbereich; und je illiberaler, intoleranter sie/es ist, desto kleiner ist er.
Das Verhältnis des Öffentlichen und des Privaten ist allerdings Teil ideologischer Auseinandersetzungen.
"…Ein weiterer Irrtum besteht darin, anzunehmen, dass die für eine nationale Identität erforderliche gemeinsame öffentliche Kultur monolithisch und allumfassend sein muss. Eine öffentliche Kultur kann als eine Reihe von Übereinkünften darüber verstanden werden, wie eine Gruppe von Menschen ihr Zusammenleben gestalten soll. Dazu gehören politische Prinzipien wie der Glaube an Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, aber sie reicht darüber hinaus. Sie erstreckt sich auf soziale Normen wie Ehrlichkeit bei der Steuererklärung oder das Anstehen in der Schlange, um zu entscheiden, wer zuerst in den Bus steigt. Sie kann auch bestimmte kulturelle Ideale umfassen, zum Beispiel religiöse Überzeugungen oder die Verpflichtung, die Reinheit der Landessprache zu bewahren. Ihre Bandbreite variiert von Fall zu Fall, lässt aber Raum für unterschiedliche private Kulturen innerhalb einer Nation. So sind die Wahl des Essens, die Kleidung oder die Musik, die man hört, normalerweise nicht Teil der öffentlichen Kultur, die Nationalität definiert. Die Grenze zwischen öffentlicher und privater Kultur ist oft Gegenstand von Kontroversen…. Erinnern wir uns zunächst daran, dass nationale Identitäten nicht allumfassend sind und dass die gemeinsame öffentliche Kultur, die sie erfordern, möglicherweise Raum lässt für die Entfaltung vieler privater Kulturen innerhalb der Grenzen der Nation." [Google Translate]

(Miller, David. On Nationality. Oxford: Oxford University Press, 1995. p. 26)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Pragmatix
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So 6. Jul 2025, 08:44

Consul hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 23:25
Pragmatix hat geschrieben :
Sa 5. Jul 2025, 10:45
Mein Punkt ist auch formaler Art: so soll (!) Deutsch verstanden werden in der bunten Version. Deshalb, das hatte ich deskriptiv gemeint, läuft es eben darauf hinaus, dass „Deutsch“ ein formaljuristischer Rechtsbegriff ist, der dann weder ein deutsches Ethos und noch nicht einmal Sprache umfasst, sondern nur Anspruchs- und Schutzrechte. In diesem Sinne gehört man nur funktionalistisch zu einem Land, nicht kulturalistisch. Zieht man das Funktionalistische ab, bleibt nichts als die absolute Freiheit des Individuums, sich zu fühlen als was es mag.
Hier ist die wichtige Unterscheidung zwischen öffentlicher Kultur und privater Kultur zu erwähnen.
Anthony Smith definiert "Nation" als "eine benannte menschliche Gemeinschaft, die in einem als solchem betrachteten Heimatland lebt und gemeinsame Mythen und eine gemeinsame Geschichte, eine eigene öffentliche Kultur sowie gemeinsame Gesetze und Bräuche für alle Mitglieder hat." [Google Translate mit Änderungen meinerseits] (Smith, Anthony D. Nationalism. 2nd ed. Cambridge: Polity, 2010. p. 13)
Ja, eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Mythen und eine gemeinsame öffentliche Kultur, gemeinsame Bräuche: genau das geht nun einmal in jeder Einwanderungsgesellschaft verloren. Syrer, Ukrainer, Türken, um drei große Gruppen zu nennen, haben das weder untereinander noch mit den Menschen des Aufnahmelandes. Gesetzen - siehe Verfassungspatriotismus - fehlt, wie oben festgestellt wurde, der emotionale Bindungsfaktor.

Aber unabhängig davon: das alles liefert keine Antwort auf die Ausgangsfrage.




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