Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst
Der Titel dieses Themenstrangs ist zugleich der Titel eines 1000-seitigen Buches des Germanisten Dieter Borchmeyer (*1941). Hier ist ein hochinteressantes Gespräch zwischem ihm und Michel Friedman, der ein ausgezeichneter Interviewer ist:
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Ich finde es nicht schwierig. Ich vergleiche meine "völkischen" Identitäten mit einer ineinander verschachtelten Matroschka-Holzpuppe: Ich bin Nürnberger, Franke, Bayer, Deutscher und Europäer.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Borchmeyer erwähnt (sowohl im Gespräch als auch in seinem Buch) den (von ihm geschätzten) deutsch-türkischen Autor Zafer Şenocak (*1961), der ein Buch übers Deutschsein geschrieben hat. Hier sind einige Zitate daraus:
"Das in unseren Tagen eingeforderte lockere Verhältnis zum Eigenen hat in Westdeutschland keine demokratische Tradition und im Osten eine ganz andere als im Westen. Die Brüchigkeit ist und bleibt der bestimmende Identitätsfaktor der Deutschen, die durch die Überwindung der deutschen Teilung keineswegs verschwunden ist. Vielmehr wirkt sie heute als eine wunde Stelle, die man ungern berührt.
Das Deutsche, das sich heute und hier dem Fremden entgegenstellt, fantasiert sich wieder stärker als eine homogene, unverletzte Einheit. Sie, die Einheit, aber ist lediglich ein Gefühl, eine fragmentierte Erinnerung an Traditionen und den Geschmack des Zusammenhalts, der lange Zeit gar nicht mehr wahrgenommen wurde. Ein wieder auf den Geschmack gekommenes deutsches Nationalgefühl sucht eine Sprache, um sich mitzuteilen. Doch bislang eher vergeblich. Die Deutschen sprechen ein »gebrochenes Deutsch«, wenn sie über ihre Identität, über ihr Deutschsein sprechen. Dieses gebrochene Deutsch ist eine Sprache, die nicht weniger wichtig ist als die Alltagssprache, in der man kommuniziert."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 28)
"Warum gelingt das, was in Ansätzen zwischen Ost- und Westdeutschland möglich war, nämlich ein Austausch über den unterschiedlichen Weg der Biografien, zwischen Deutschen und den anderen nicht? Deutsche, die sich über ihre Herkunft definieren, ziehen die Grenzen ihres Landes oft so, dass Eingewanderte ausgeschlossen werden. »Wir sind hier in Deutschland und fühlen uns fremd im eigenen Land«, »Ich erkenne mein Land nicht wieder«. Solche Aussagen sind in letzter Zeit immer häufiger zu hören. Sie stellen unverhohlen die Eigentumsfrage: Wem gehört dieses Land – Deutschland? Wer hat hier das Sagen? Wer spricht für uns? Wenn dann der Bundespräsident eine lapidare Aussage, nämlich dass der Islam auch zu Deutschland gehört, in eine feierliche Rede zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung aufnimmt, führt dies sofort zu unversöhnlichen Kontroversen. Wenn es deutsche Staatsbürger muslimischen Glaubens gibt, dann gehört der Islam selbstverständlich zu Deutschland. Was sonst? Doch die nationale kulturelle Identität der Deutschen, die sich eben nur gebrochen ausdrückt, fühlt sich durch eine solche Aussage entfremdet, missverstanden, falsch interpretiert."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 32-3)
"Das selbstvergessene Deutschland spricht gebrochen Deutsch und fantasiert sich als homogene kulturelle und ethnische Einheit gegenüber den anderen. Statt eine universelle Zivilisationssprache zu zitieren, die auf Menschenrechten und den Werten der Aufklärung beruht, wird in Integrationsdebatten immer wieder eine kulturalistische Selbstbeschreibung bemüht, in welche sich andere nur dann integrieren können, wenn sie sich mit den präsentierten Bruchstücken der deutschen Kulturtradition identifizieren können. Die völkische, abstammungszentrierte Grundlage des deutschen Selbstverständnisses bleibt dabei eine unausgesprochene, aber keineswegs überwundene Denkweise, die selbst eine assimilatorische Integration verhindert. Zu viele unbehandelte Fragen, verdrängte Denkmuster und Widersprüche lassen heute deutsche Identität eher als Minenfeld erscheinen denn als roten Teppich für Einwanderer oder als Partymeile, auf der ein fröhliches Zusammensein inszeniert wird.
Im öffentlichen Diskurs und in der offiziellen Integrationspolitik erscheinen die beiden Wege in ein deutsches Zuhause als unvereinbar. Das ist vielleicht ein Grund dafür, warum es einen geistigen Stillstand in Integrationsfragen, eine zunehmende Entfremdung zwischen Einheimischen und den anderen gibt, obwohl manche der Letzteren seit vier Generationen auf deutschem Boden leben, nicht wenige sehr angepasst sind und Deutschland sich durch Migration sichtbar verändert hat. Die Lösung dieses Knotens setzt viel Ehrlichkeit und auch einen schmerzlichen Eingriff in das Eigene voraus, und sie fordert beide Seite heraus, sowohl Einheimische als auch Einwanderer.
Heute aber leben wir in einem Zustand der Lüge und der Selbsttäuschung. Millionen Türken, Italiener, Spanier und andere werden als Deutsche angesprochen. Deutsche werden aufgrund ihres muslimischen Glaubens als Fremde oder Ausländer wahrgenommen. Der Gastarbeiter ist zwar kein Gast mehr, hat aber immer seltener Arbeit. Eine verworrene, für alle Seiten belastende Situation, bestens dazu geeignet, Ängste zu potenzieren, Vertrauen abzubauen und die Atmosphäre so zu vergiften, dass die Wirklichkeit krisenhafter erscheint, als sie bei nüchterner Betrachtung tatsächlich ist."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 33-5)
"Die massive Zuwanderung nach Deutschland seit den 1960er Jahren hat Deutschland in eine Vielvölkerrepublik verwandelt. Gleichzeitig hat dieser Wandel in der Bevölkerungsstruktur verdrängte Fragen nach nationaler Identität und Zugehörigkeit aufkommen lassen, für deren offene Diskussion aber bislang die Sprache fehlt. Die Frage der Integration ist also auf Gedeih und Verderb mit der Frage nach dem Deutschsein verknüpft, mit der Krise des deutschen Nationalgefühls, mit einer Frage, die sehr lange nicht mehr gestellt worden ist, weil sie zu sehr schmerzte, weil sie zu viele Albträume hervorrief, weil die Sprache versagte. Wo fühlen sich die Deutschen heute zu Hause? Auf Mallorca? Oder doch wieder mehr im eigenen Land? Vielleicht schauen sie sich ihr Land heute auch genauer an und entdecken dabei immer mehr Fremde, zumindest fremd aussehende Menschen. Warum bekommt uns Deutschland als Vielvölkerrepublik nicht? Warum lassen wir es in hitzig geführten Debatten immer wieder scheitern?"
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 55)
"Jede Einwanderungsgesellschaft braucht eine spezielle Zukunftsvision, die über ihre Selbstbeschreibung hinausgeht, die mehr sein muss als die Bewahrung bestehender Strukturen. Diese Vision kann als eine Gefährdung des eigenen Selbstverständnisses, aber auch als Chance wahrgenommen werden, dieses Eigene zu erweitern. Zunächst aber braucht die Gesellschaft einen Konsens über dieses Eigene."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 110)
"Kulturelle Vermischung ist nicht per se eine Bereicherung, sie ist eine Herausforderung und in unserer Zeit auch eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland werden die Fragen der Identität, der Einwanderung und der Integration als Projektionsfläche für Ängste und Sehnsüchte der Mehrheitsgesellschaft missbraucht. Die Massenwanderungen sind ein Phänomen unserer Zeit und werden ein solches Phänomen bleiben. Die Auseinandersetzung mit ihnen müsste erfolgsorientiert und pragmatisch geführt werden. Wir aber haben bislang keine Sprache gefunden, um diese Angst aufzufangen."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 123-4)
"Es gibt eine nicht ausgesprochene Wahrheit: In Deutschland wird die gelungene Integration der Ausländer meistens als Verschwinden fremder oder fremd empfundener Merkmale verstanden. Dabei ist die Integrationsfrage vor allem eine Frage der deutschen Identität, eines über Jahrzehnte klein geschriebenen, gar unterdrückten Nationalgefühls. Wie jede Unterdrückung verschafft sich auch diese von Zeit zu Zeit Luft. Mit Sätzen, die wie folgt eingeleitet werden: »Das wird man doch noch sagen dürfen!« Was dann aber folgt, ist selten eine Lobrede auf das Eigene, sondern eine Schmähung des Anderen. Dabei ist die Integration vor allem eine zivilisatorische Erfahrung. Zumindest in demokratischen, sich pluralistisch und offen definierenden Gesellschaften. Sie bedeutet, sich einzugliedern in ein modernes, demokratisches Gemeinwesen, das sich gerade gegenüber unterschiedlichen Herkünften offen und aufnahmebereit zeigt. Integration in die zivilisatorischen Grundwerte hat nichts damit zu tun, dass keine fremden Sprachen auf der Straße gesprochen werden, und auch nichts damit, dass fremde Gotteshäuser aufgebaut werden. Sie hat aber wohl damit zu tun, dass Menschen nicht diskriminiert werden, nicht wegen ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 142-3)
"Nationen neigen zu Mythenbildung, wenn es um ihre Geschichte geht, Nationalidentität wird nicht selten auf Geschichtsfälschungen konstruiert. In Deutschland aber wurde die Gegenwart zum Mythos. Das auf die Geschichte nicht mehr projektierbare Nationalgefühl wird in Gegenwartsfragen ausgelebt, aber eben nur halbherzig, widersprüchlich, mit Komplexen beladen. Ohne die Lösung dieses »deutschen Knotens« ist ein Fortschritt in den Integrationsfragen vielleicht technisch möglich, aber nicht emotional. Eine Gesellschaft, die von Überfremdungsängsten geplagt wird und keine adäquate Sprache für diese Ängste findet, um sie anderen mitzuteilen, wird früher oder später zum Sperrbezirk."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 153-4)
"In der modernen Welt gibt es keine kulturelle Integration, die mit in sich geschlossenen Kulturkreisen beschrieben werden könnte. Es gibt lediglich Arrangements, die ein Zusammenleben, ein Zusammenwirken leichter oder mühsamer machen, effektiver oder unproduktiver. Demokratische Entscheidungsprozesse, das Austarieren von Interessen, die komplexe Vernetzung zwischen den Institutionen und das permanente Überschreiten von Grenzen erlauben keine Fixpunkte mehr, auf die man sich beziehen könnte, um Halt zu finden, kein Anlehnen, kein Ruhen. Umso stärker wird die Sehnsucht nach Glaubensgemeinschaft, Staat und Volksgemeinschaft – die Institutionen der Vergangenheit – begleitet von einer Schwäche der Parteien, Gewerkschaften, Schulen – den Institutionen der modernen Welt. In einer Zeit, in der alle zwei Jahre eine neue technologische Revolution ausgerufen wird, in der Güter und Menschen ständig in Bewegung sind, ist die Frage, wo man zu Hause ist, mitnichten nebensächlich. Wo und wie wird die Sehnsucht nach einer festen Adresse, nach Wiedererkennungsmerkmalen aufgefangen? Bodenständigkeit wird in einer wachstumsorientierten Gesellschaft zum Belastungsfaktor. Vielfalt bedeutet aber nicht Beliebigkeit. Sie braucht Orientierung und eine feste Wertestruktur."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 155-6)
"Eine Gesellschaft, die kruden Thesen von geschlossenen Kultursystemen und den Menschen ganz einfangenden und prägenden Glaubenssystemen nachläuft, verteidigt keine Aufklärung, sie öffnet das Tor in einen barbarischen Kulturkampf. Ihre Protagonisten sind Feinde der offenen Gesellschaft. Diese basiert aber auf der Zivilisierung des Menschen, auf seiner Erziehung zur Mündigkeit. Das Vermächtnis meiner Herkunft lese ich heute als eine Verpflichtung nach allen Richtungen. Meine muslimische Seite will weitergehen auf dem Weg zu einer zivilisatorischen Erneuerung, die keine Berührungsängste mit allen Himmelsrichtungen hat. Ich stehe in dieser Tradition eines türkischen Islam, der wie selbstverständlich aufgeklärt und europäisch ist. Dieser Islam ist heute lebendiger denn je. Dieser Islam hat es aber in Deutschland nicht einfach, weil viele Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen, ihn nicht verinnerlicht haben und weiter Traditionen anhängen, die nicht durch die Aufklärung gefiltert worden sind. Das Vermächtnis meiner Herkunft fordert aber auch jene Abendländer heraus, die ihr geistiges Erbe in eine kulturgeografische Landkarte mit klar gezogenen Grenzen einsperren wollen. Es gibt keinen Limes der Gedanken, wenn die Gedanken frei sind. An der Wiege der Zivilisation fließen die Kulturen zusammen, zu einem einzigen Herzschlag. Dieser Herzschlag ermöglicht uns, frei zu atmen und einander zu achten."
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 189-90)
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Ich verweise an dieser Stelle auf meinen Beitrag zu David Millers wichtiger Unterscheidung verschiedener Arten von Integration.Consul hat geschrieben : ↑Di 1. Jul 2025, 00:08"Das selbstvergessene Deutschland spricht gebrochen Deutsch und fantasiert sich als homogene kulturelle und ethnische Einheit gegenüber den anderen. Statt eine universelle Zivilisationssprache zu zitieren, die auf Menschenrechten und den Werten der Aufklärung beruht, wird in Integrationsdebatten immer wieder eine kulturalistische Selbstbeschreibung bemüht, in welche sich andere nur dann integrieren können, wenn sie sich mit den präsentierten Bruchstücken der deutschen Kulturtradition identifizieren können. …"
(Şenocak, Zafer. Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift. Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2011. S. 33-5)
In diesem Zusammenhang stellt sich die Grundsatzfrage, ob sich unsere Integrationspolitik auf die zivilen und sozialen Aspekte von Integration beschränken und den kulturellen Aspekt beiseiteschieben sollte.
Was genau bedeutet es für ein eingewandertes Volk B, sich innerhalb eines anderen Volkes A kulturell zu integrieren (oder zu assimilieren)?
Es kann einerseits eine Vereinigung mit der Kultur des einheimischen Volkes und die Bildung einer neuen, umfassenderen Gesamtkultur bedeuten: A + B –> C.
Es kann andererseits eine Vertilgung der fremdvölkischen/-ländischen Kultur bedeuten, indem das eingewanderte Volk seine Kultur aufgibt und diejenige des einheimischen Volkes übernimmt: A + B –> A.
Zuletzt geändert von Consul am Di 1. Jul 2025, 01:14, insgesamt 1-mal geändert.
"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding
Dieter Borchmeyer hat geschrieben : ...deutsche Kultur ist in der Tat schwieriger identifizierbar als etwa die französische, englische oder spanische. Weil das jahrhundertelang kleinstaatlich zersplitterte Deutschland anders als die früh zu fester Form gelangten europäischen Nationalstaaten nie zu einem rechten Nationalstil gelangt ist, wie von Goethe bis Nietzsche immer wieder beklagt wurde. Was deutsch an der deutschen Kultur ist, läßt sich schwerer bestimmen als die nationalen Eigenheiten der meisten anderen europäischen Völker. Und so ist die „kulturelle Vielfalt“ tatsächlich eine deutsche Eigenheit – aber auch ihr besonderer kosmopolitischer Vorzug.
In allen Versuchen seit dem 18. Jahrhundert, die Frage „Was ist deutsch?“ zu beantworten, kehrt immer der Gedanke wieder, daß das Deutsche nicht in nationalen Spezialitäten aufgeht, sondern über alles Nationale auf das Europäische, ja Menschheitliche ausgreift.„Wir sind, darf ich wohl behaupten“, so August Wilhelm Schlegel 1825, „die Kosmopoliten der europäischen Kultur.“ Das aber heißt für ihn natürlich nicht, daß es spezifisch deutsche Kultur nicht gibt, sondern daß deren Wesen in ihrer Selbstüberschreitung besteht. [Hervorhebungen von mir]
https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/d ... av_id=7268
Das ist ein hübsches Bild - wobei ich „Deutscher“ immer auslassen würde für mich, sofern es mehr als Sprache oder Pass bedeuten soll. Der Hinweis Borchmeyers, dass Deutsch im Gegensatz zu anderen immer nur eine Sprache aber kein Stamm war, spielt dabei sicher auch eine Rolle. Es fehlt ein wichtiges Merkmal für eine Wir-Intentionalität. Der viel beschworene Verfassungspatriotismus ist ein polit-intellektuelles Abstraktum aus dem Labor.
Es geht nicht um bunt oder nicht-bunt, sondern um Identifikationsmöglichkeiten und Sozialisierung. „Deutsch“ hat außer eine Sprache zu sein und einen Pass zu haben in meiner Generation nie ein positives Angebot gemacht. Ich bin Deutscher wie ich Atheist bin: es ist mehr eine Zuschreibung durch andere als ein Selbstverständnis. Ich würde auch sofort einen europäischen Pass nehmen, wenn er mir gleiche Möglichkeiten böte. Dann wäre ich auch offiziell, was ich vor all diesen Diskussionen immer war. Ein schwäbisches Kind Europas, mehrfach umgetopft von und nach Franken und Oberbayern. Und mit dem deutschen Norden, Westen und Osten fremdelnd.
Was meinst Du mit "positives Angebot"? Kannst Du ein Beispiel geben? Was gibt Europa für ein "positives Angebot", was vergleichsweise Deutschland nicht anbietet?
„Bunt“ ist für mich eine Möglichkeit zur Identifikation. Gerade heute Morgen wieder in der Straßenbahn: eine kleine Gruppe Schulkinder – wirklich sehr bunt zusammengewürfelt. Das hat mir gefallen. Damit kann ich mich identifizieren.
Für mich ist „bunt“ nichts. Denn entweder, es bedeutet Hautfarben, oder aber es gehören christliche, islamische, nationalistische, antisemitische, homophobe und sonstige ideologische Grüppchen dazu. Insofern ist für mich „bunt“ keine sinnvolle Kategorie für Identifikation, denn die wesentliche Eigenschaft eines wir-intentionalen Identifikationsmerkmals für mich wäre dessen Common Sense-Potential. Das ist für mich der Lackmustest für ein positives Identifikationsmerkmal.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Di 1. Jul 2025, 11:33„Bunt“ ist für mich eine Möglichkeit zur Identifikation. Gerade heute Morgen wieder in der Straßenbahn: eine kleine Gruppe Schulkinder – wirklich sehr bunt zusammengewürfelt. Das hat mir gefallen. Damit kann ich mich identifizieren.
Wenn „bunt“ das Merkmal des Kosmopolitischen ist, dann würde ich es als eine elitäre Formel bezeichnen - und warum ich den Kosmopolitismus ablehne, habe ich schon irgendwo begründet.
Vielfalt ist für mich ein gutes Identifikationsmerkmal - das kann ich schätzen und zugleich sexistische, antisemitische, homophobe Sichten für falsch halten. Das Bunte zu lieben, verpflichtet mich keineswegs darauf, alles zu lieben.
Also ein selektives Bunt. Dann kritisiert man wie der fundamentale Christ, der Antisemit, der strenggläubige Muslim, der Antisemit, der Woke, der Homophobe andere Lebensentwürfe und versucht, die Farbauswahl nach seinem Gusto zu gestalten. Das ist dann aber Politik, und die Politik eines Landes halte ich persönlich für keine besonders gute Voraussetzung für Wir-Intentionalität, im Gegenteil sogar für eine ausnehmend schlechte. In diesem Sinne kann ich überall auf der Welt, wo Politik in meinem Sinne oder gegen ihn gemacht wird, zuhause sein buw. eben nicht. Aber Politik schafft wie die Mitgliedschaft bei einem Fußballverein keine stabile Wir-Intentionalität außerhalb der eigenen Gruppe. Und vielleicht ist das heute Deutsch: Everyman for himself.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Di 1. Jul 2025, 16:17Vielfalt ist für mich ein gutes Identifikationsmerkmal - das kann ich schätzen und zugleich sexistische, antisemitische, homophobe Sichten für falsch halten. Das Bunte zu lieben, verpflichtet mich keineswegs darauf, alles zu lieben.
Und welche Sprache spricht bunt eigentlich? Die Grundvoraussetzung für die Herausbildung von Wir-Intentionalität und Common Sense ist aus meiner Sicht eine gemeinsame Sprache. Notwendig, aber nicht hinreichend. Die Dialekte sind hier stärker als das sterile Fernsehdeutsch.
Ich hol mir am Samstag Borchmeyers Buch. Ich hatte schon mal darin geschmökert beim Erscheinen, kann mich aber nicht mehr erinnern.
Zuletzt geändert von Pragmatix am Di 1. Jul 2025, 17:03, insgesamt 1-mal geändert.
Deinem Einwand stimme ich natürlich zu, und dementsprechend muss ich meine Anfrage präzisieren: Wenn ich in diesem Kontext das Wort "bunt" verwende, impliziere ich -- als friedlicher Mensch -- in dieser bunten Menge eine gewisse Toleranz, in der jedes Element dem anderen Element möglichst viel Freiheit lässt. Homophobe Elemente, die Schwule bedrängen, sind daher in meiner Implikation abwesend.
Also, ich denke wir sind uns darin einig, dass es weder einen monochromen Faschismus noch eine sich gegenseitig bekriegende Buntheit geben sollte. Der gemeinsame Nenner sollte darin liegen, dass die verschiedenen Individuen ihre speziellen Freiheiten untereinander in einem jeweils ausgeglichenen Rahmen halten, so dass des einen Freiheit nicht die des anderen bedrängt. Das ist ein Gebilde aus bunt und monochrom. Monochrom ist dieser gemeinsame Nenner. Und bunt ist dasjenige, was dieser Nenner entfalten lässt.
Darf ich Dir trotzdem nochmal diese Verständnisfrage stellen?
Ich weiß, aber ich kann die Frage nicht beantworten. Ich sehe nirgends irgendein Angebot, das mich veranlassen könnte, zwischen das landsmannschaftliche/regionale Zugehörigkeitsgefühl und das europäische noch Deutschland als Identifikationsmerkmal zu brauchen. Wozu? Was gäbe es? Letztendlich ist „Europa“ eben der Ursprung meines Welt- und Menschenbildes, des normativen Rahmens, der weiter gefasst ist als der deutsche. Aus Deutschland komme ich weltbildtheoretisch raus, aus Europa nicht. Bei aller Liebe und Sympathie für bestimmte asiatische sowie auch für die amerikanischen/australischen Weltbilder: ich bleibe eben das (schwäbische) Kind Europas. Für Deutschland hätte man die Reichsgründung gerne wieder rückabwickeln können. Kleinere Länder können Demokratie sowieso meistens besser als große.