Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Jörn Budesheim

Di 1. Jul 2025, 17:45

Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:02
Also ein selektives Bunt. Dann kritisiert man wie der fundamentale Christ, der Antisemit, der strenggläubige Muslim, der Antisemit, der Woke, der Homophobe andere Lebensentwürfe und versucht, die Farbauswahl nach seinem Gusto zu gestalten.
Die Aussagen „Ich schätze Vielfalt“ und „Ich schätze alles“ sind keineswegs synonym. Ich kann das Vielfältige schätzen, ohne damit verpflichtet zu sein, auch das moralisch Verwerfliche zu schätzen. Hier besteht kein logisches, begriffliches oder sonstiges Problem. Dass ich die Freiheit schätze, verpflichtet mich ja ebenfalls nicht dazu, auch Angriffe auf die Freiheit zu schätzen – das wäre schlichtweg eine absurde Schlussfolgerung.

Zum Vergleich: Ich kann mich abwechslungsreich ernähren und dennoch auf Dinge verzichten, die ungesund sind.

Der Widerspruch, den du hier konstruieren willst, existiert schlicht nicht.




Quk

Di 1. Jul 2025, 17:59

Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:28
Für Deutschland hätte man die Reichsgründung gerne wieder rückabwickeln können. Kleinere Länder können Demokratie sowieso meistens besser als große.

Gedankenexperiment:
Seit Weimar ist Deutschland eine demokratische Föderation; Hitler und der zweite Weltkrieg fanden nicht statt. -- Wie wirkt nun dieses Deutschland auf Dich? (Nichtironische Lernfrage.)




Jörn Budesheim

Di 1. Jul 2025, 18:08

Aus dem Gespräch:
  • Friedmann: ist das Plurale nicht synonym mit deutsch (auf dem Boden des Grundgesetzes)
  • Borchmeyer: Ja, war es aber immer ...
Ein wesentlicher Aspekt Borchmeyers Auffassung ist – nach meinen Recherchen – der kosmopolitische oder universale Charakter des Deutschseins, der von Anfang an, insbesondere seit der Zeit um 1800 (Weimarer Klassik, Romantik), in allen Definitionsversuchen des Deutschen wesentlich war. Deutschsein bedeutet für ihn, menschheitlich zu denken. Er betont, dass das Deutsche nie exklusiv deutsch ist, sondern immer ein universelles Element in sich birgt ...




Pragmatix
Beiträge: 313
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Di 1. Jul 2025, 18:16

Quk hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:59
Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:28
Für Deutschland hätte man die Reichsgründung gerne wieder rückabwickeln können. Kleinere Länder können Demokratie sowieso meistens besser als große.

Gedankenexperiment:
Seit Weimar ist Deutschland eine demokratische Föderation; Hitler und der zweite Weltkrieg fanden nicht statt. -- Wie wirkt nun dieses Deutschland auf Dich? (Nichtironische Lernfrage.)
Keine Ahnung. Mich gäbe es nicht, und das Gedankenspiel ist angesichts der realen Geschichte und den (preußischen) Voraussetzungen zu weit weg vom Denkbaren. Und noch einmal: Politik ist kein gutes Feature für Identitätsstiftung. Im Gegenteil, sie ist eher die Quelle aller Vergiftungen. Deutschland wurde eine Nation, als der Begriff schon ethnisch aufgeladen war, deshalb war sie tatsächlich eine „verspätete“. Alles, was damals positiv war, ist heute negativ. Eine demokratische Föderation wäre immer an den Machtverhältnissen gescheitert. Auch schon 1848, erst recht nach 1918.

Im Grunde sollte man wohl aufhören, die Frage zu stellen. Das Land ist, was es ist, man lebt in vielen Gegenden gut und kann es, wenn man möchte, verlassen. Das reicht.




Pragmatix
Beiträge: 313
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Di 1. Jul 2025, 18:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:45
Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:02
Also ein selektives Bunt. Dann kritisiert man wie der fundamentale Christ, der Antisemit, der strenggläubige Muslim, der Antisemit, der Woke, der Homophobe andere Lebensentwürfe und versucht, die Farbauswahl nach seinem Gusto zu gestalten.
Die Aussagen „Ich schätze Vielfalt“ und „Ich schätze alles“ sind keineswegs synonym. Ich kann das Vielfältige schätzen, ohne damit verpflichtet zu sein, auch das moralisch Verwerfliche zu schätzen. Hier besteht kein logisches, begriffliches oder sonstiges Problem. Dass ich die Freiheit schätze, verpflichtet mich ja ebenfalls nicht dazu, auch Angriffe auf die Freiheit zu schätzen – das wäre schlichtweg eine absurde Schlussfolgerung.

Zum Vergleich: Ich kann mich abwechslungsreich ernähren und dennoch auf Dinge verzichten, die ungesund sind.

Der Widerspruch, den du hier konstruieren willst, existiert schlicht nicht.
Ja, ich schätze Vielfalt auch. Jetzt müsste man nur wissen, was jeweils das „moralisch Verwerfliche“ ist. Das wirst du anders beantworten als viele andere. Und auch darüber, was ungesund ist, und ob nicht jeder entscheiden darf, es zu wollen oder nicht, bestehen unterschiedliche Auffassungen. Sie werden ausnahmslos im Spiel der Machtkämpfe durchgesetzt. Deshalb heißt es auch: herrschende Moral. Aber das gehört dann in einen Strang über Moral, weil moralische Realisten wie du eben eine andere Auffassung vertreten als Ansätze, die sich anderen Begründungsmodellen verpflichtet sehen.




Jörn Budesheim

Di 1. Jul 2025, 18:30

Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 18:25
Sie werden ausnahmslos im Spiel der Machtkämpfe durchgesetzt
Na dann :)




Jörn Budesheim

Di 1. Jul 2025, 18:42

In diesem Kommentar , aus dem ich weiter oben schon zitiert habe, drückt sich Borchmeyer recht anschaulich aus: "Soll ich denn jemandem, der leugnet, daß es in Bayern Berge gibt, von der Zugspitze erzählen?"




Quk

Di 1. Jul 2025, 18:51

Pragmatix, alter Gallier, ich versuche nur herauszufinden, gegen welche "deutschen" Attribute sich Deine Ablehnung konkret richtet. Ich bin halt lernbegierig :-)

• Die deutsche Föderation scheint Dir zu erzwungen? Du magst es lieber klein und kompakt?
• Andererseits magst Du Europa?
• Du magst keine Identitätsuniformierung nach "woker" Art? (Aber "woke" ist nicht typisch deutsch?)
• Denn Du willst das Gegenteil: Nur das Unwoke sorge für unerzwungene und auch kritische Vielfalt?

Wäre Württemberg eine Nation, und enthielte diese verschiedene, friedlich miteinander lebende Kulturen -- Älbler, Allgäuer, Stuttgarter, ein paar schwäbische Wikinger, ein paar schwäbische Hippies, ein paar schwäbische Muslime, ein paar Punks, ein paar Hannes-Wader-Kerle, Kfz-Mechanikerinnen, Steuerberater, einige jüdische und christliche Bibliothekare, mehrere polnischstämmige Spargelstecher -- allesamt hochdeutsch bis schwäbisch sprechend --, wäre das eine Nation, die Dir sympathisch wäre? Mit "Dir" meine ich Deine jetzige Persönlichkeit hier und jetzt -- egal ob es sie in der genannten Fiktion gäbe oder nicht.

Meine Frage ist zwar lustig gestellt, aber ich meine sie ernst. Ich will das verstehen.




Pragmatix
Beiträge: 313
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Di 1. Jul 2025, 20:42

Quk hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 18:51
Pragmatix, alter Gallier, ich versuche nur herauszufinden, gegen welche "deutschen" Attribute sich Deine Ablehnung konkret richtet. Ich bin halt lernbegierig :-)

• Die deutsche Föderation scheint Dir zu erzwungen? Du magst es lieber klein und kompakt?
• Andererseits magst Du Europa?
• Du magst keine Identitätsuniformierung nach "woker" Art? (Aber "woke" ist nicht typisch deutsch?)
• Denn Du willst das Gegenteil: Nur das Unwoke sorge für unerzwungene und auch kritische Vielfalt?
„Woke“ ist eine politisch-moralische Vokabel. Kohl wollte seinerzeit die politisch-moralische Wende. Die wollte ich damals nicht, und die will ich heute nicht. Weil ich das Politische als identitätsstiftendes Merkmal skeptisch sehe. Die Säkularisierung war ein Gewinn. Ich will heute keine quasi-religiösen Erweckten, die die Pfaffen ablösen.
Quk hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 18:51

Wäre Württemberg eine Nation, und enthielte diese verschiedene, friedlich miteinander lebende Kulturen -- Älbler, Allgäuer, Stuttgarter, ein paar schwäbische Wikinger, ein paar schwäbische Hippies, ein paar schwäbische Muslime, ein paar Punks, ein paar Hannes-Wader-Kerle, Kfz-Mechanikerinnen, Steuerberater, einige jüdische und christliche Bibliothekare, mehrere polnischstämmige Spargelstecher -- allesamt hochdeutsch bis schwäbisch sprechend --, wäre das eine Nation, die Dir sympathisch wäre? Mit "Dir" meine ich Deine jetzige Persönlichkeit hier und jetzt -- egal ob es sie in der genannten Fiktion gäbe oder nicht.

Meine Frage ist zwar lustig gestellt, aber ich meine sie ernst. Ich will das verstehen.
Und ich sage: Ich weiß das nicht. Für mich persönlich ist eine Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Ein dauermeditierender Woker in seinem Garten ist mir dabei lieber als jeder andere, der täglich mit der Motorsense hantiert.

Aber ernsthaft: brauchst du denn umgekehrt „Deutsch“? Es ist in „Europa“ eingepreist ebenso wie in „Württemberg“. Die beiden bieten mir alles, was ich brauche, also setze ich das berühmte Rasiermesser an: Hat es übers Politische hinaus eine Bedeutung? Die beiden in der Diskussion zeigen doch den ganzen Krampf auf.




Quk

Di 1. Jul 2025, 21:09

Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 20:42
Und ich sage: Ich weiß das nicht. Für mich persönlich ist eine Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Ein dauermeditierender Woker in seinem Garten ist mir dabei lieber als jeder andere, der täglich mit der Motorsense hantiert.

Aber ernsthaft: brauchst du denn umgekehrt „Deutsch“? Es ist in „Europa“ eingepreist ebenso wie in „Württemberg“. Die beiden bieten mir alles, was ich brauche, also setze ich das berühmte Rasiermesser an: Hat es übers Politische hinaus eine Bedeutung? Die beiden in der Diskussion zeigen doch den ganzen Krampf auf.
Du weißt es nicht? Aber Du hast gerade etwas genannt, das uns weiter aufklärt: Dir ist die Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Falls es welche gibt, sollen sie wenigstens keinen Lärm machen. Der Politikbetrieb soll sich nicht in diese sparsam bemenschte Ruhe einmischen. -- Das kann ich alles gut nachvollziehen; auch ich suche die Ruhe -- und genieße die Weite der Landschaft. Wenn ich über längere Zeit keinen Horizont sehe, gehe ich ein.

Brauche ich das Deutsche? Überhaupt nicht. Ich fühle mich als Europäer. Ich sehe Europa als Beispiel für ein weitgehend friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen -- weitgehend, weil keine Region ständig völlig konfliktfrei sein kann. Aber überwiegend.

Und bei der klassischen Heimatfrage bin ich auch immer überfragt. Grob gesagt: Heimat empfinde ich dort, wo ich in Ruhe kacken kann. Sei es in einem Gartenhäuschen in Sydney oder in einer Pension auf Chios oder in einem Motel am Lake Tahoe.




Pragmatix
Beiträge: 313
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Di 1. Jul 2025, 21:40

Quk hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 21:09
Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 20:42
Und ich sage: Ich weiß das nicht. Für mich persönlich ist eine Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Ein dauermeditierender Woker in seinem Garten ist mir dabei lieber als jeder andere, der täglich mit der Motorsense hantiert.

Aber ernsthaft: brauchst du denn umgekehrt „Deutsch“? Es ist in „Europa“ eingepreist ebenso wie in „Württemberg“. Die beiden bieten mir alles, was ich brauche, also setze ich das berühmte Rasiermesser an: Hat es übers Politische hinaus eine Bedeutung? Die beiden in der Diskussion zeigen doch den ganzen Krampf auf.
Du weißt es nicht? Aber Du hast gerade etwas genannt, das uns weiter aufklärt: Dir ist die Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Falls es welche gibt, sollen sie wenigstens keinen Lärm machen. Der Politikbetrieb soll sich nicht in diese sparsam bemenschte Ruhe einmischen. -- Das kann ich alles gut nachvollziehen; auch ich suche die Ruhe -- und genieße die Weite der Landschaft. Wenn ich über längere Zeit keinen Horizont sehe, gehe ich ein.

Brauche ich das Deutsche? Überhaupt nicht. Ich fühle mich als Europäer. Ich sehe Europa als Beispiel für ein weitgehend friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen -- weitgehend, weil keine Region ständig völlig konfliktfrei sein kann. Aber überwiegend.

Und bei der klassischen Heimatfrage bin ich auch immer überfragt. Grob gesagt: Heimat empfinde ich dort, wo ich in Ruhe kacken kann. Sei es in einem Gartenhäuschen in Sydney oder in einer Pension auf Chios oder in einem Motel am Lake Tahoe.
Klingt sympathisch. Damit könnten wir noch einmal zur Theorie zurückkommen. Was ist es uns nun, das „Deutsche“? Wir könnten sagen: das, was wir keinesfalls brauchen oder wollen.

Ich wäre gerne am 17. Mai mal in Norwegen. Großer Feiertag, an dem die u.a. auch ihre Identität feiern. In diesem Zusammenhang habe ich ChatGPT mal gefragt, ob es in der EU was Vergleichbares gebe.Das ist nicht der Fall. Trotzdem habe ich bei all den vielen Reisen in Europa immer das Gefühl gehabt, wenn ich mit den Menschen sprach, dass sie überall ein durchweg positives Gefühl für ihr Eigenes, ihr Land hatten. In Norwegen oder Finnland ebenso wie in Portugal oder Irland, in England so viel wie in Spanien oder Dänemark. Nur wir hier, wie man an uns beiden sieht, fremdeln mit dem Eigenen, das wir nicht einmal vernünftig eingrenzen können. Ich bin gespannt, ob mir die Lektüre des Buches Aufschlösse gibt. Ich glaube eher nicht.




Pragmatix
Beiträge: 313
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Di 1. Jul 2025, 21:41

Quk hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 21:09
Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 20:42
Und ich sage: Ich weiß das nicht. Für mich persönlich ist eine Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Ein dauermeditierender Woker in seinem Garten ist mir dabei lieber als jeder andere, der täglich mit der Motorsense hantiert.

Aber ernsthaft: brauchst du denn umgekehrt „Deutsch“? Es ist in „Europa“ eingepreist ebenso wie in „Württemberg“. Die beiden bieten mir alles, was ich brauche, also setze ich das berühmte Rasiermesser an: Hat es übers Politische hinaus eine Bedeutung? Die beiden in der Diskussion zeigen doch den ganzen Krampf auf.
Du weißt es nicht? Aber Du hast gerade etwas genannt, das uns weiter aufklärt: Dir ist die Landschaft wichtiger als seine Bewohner. Falls es welche gibt, sollen sie wenigstens keinen Lärm machen. Der Politikbetrieb soll sich nicht in diese sparsam bemenschte Ruhe einmischen. -- Das kann ich alles gut nachvollziehen; auch ich suche die Ruhe -- und genieße die Weite der Landschaft. Wenn ich über längere Zeit keinen Horizont sehe, gehe ich ein.

Brauche ich das Deutsche? Überhaupt nicht. Ich fühle mich als Europäer. Ich sehe Europa als Beispiel für ein weitgehend friedliches Zusammenleben verschiedener Kulturen -- weitgehend, weil keine Region ständig völlig konfliktfrei sein kann. Aber überwiegend.

Und bei der klassischen Heimatfrage bin ich auch immer überfragt. Grob gesagt: Heimat empfinde ich dort, wo ich in Ruhe kacken kann. Sei es in einem Gartenhäuschen in Sydney oder in einer Pension auf Chios oder in einem Motel am Lake Tahoe.
Klingt sympathisch. Damit könnten wir noch einmal zur Theorie zurückkommen. Was ist es uns nun, das „Deutsche“? Wir könnten sagen: das, was wir keinesfalls brauchen oder wollen.

Ich wäre gerne am 17. Mai mal in Norwegen. Großer Feiertag, an dem die u.a. auch ihre Identität feiern. In diesem Zusammenhang habe ich ChatGPT mal gefragt, ob es in der EU was Vergleichbares gebe.Das ist nicht der Fall. Trotzdem habe ich bei all den vielen Reisen in Europa immer das Gefühl gehabt, wenn ich mit den Menschen sprach, dass sie überall ein durchweg positives Gefühl für ihr Eigenes, ihr Land hatten. In Norwegen oder Finnland ebenso wie in Portugal oder Irland, in England so viel wie in Spanien oder Dänemark. Nur wir hier, wie man an uns beiden sieht, fremdeln mit dem Eigenen, das wir nicht einmal vernünftig eingrenzen können. Ich bin gespannt, ob mir die Lektüre des Buches Aufschlüsse gibt. Ich glaube eher nicht.




Quk

Di 1. Jul 2025, 22:36

Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 21:41
Nur wir hier, wie man an uns beiden sieht, fremdeln mit dem Eigenen, das wir nicht einmal vernünftig eingrenzen können.
Deswegen fragte ich testweise, wie wir wohl fühlen würden, wenn es die Hitler-Katastrophe nicht gegeben hätte. Ich war sieben, als ich zum ersten Mal Fotos aus dem Holocaust sah, die Leichenberge, die Verhungerten, das unendlich Brutale. Warum haben die Nazis das getan? Das habe ich nicht verstanden. Als ich zehn war, besuchten wir das KZ in Bergen-Belsen. Im Lauf meiner Kindheit habe ich gelernt, dass für die Nazis das Deutsche über alles zu stehen hat. In dieser Zeit hatte ich einen Ekel entwickelt gegen alles deutschtümelnde. In älteren Jahren wurde mir natürlich schon klar, dass diese schlimme Zeit mehr und mehr in die Vergangenheit rückt und neue Generationen nachrücken, und dass man das sogenannte "deutsche" differenzierter betrachten muss. Jedenfalls halte ich es für möglich, dass diese Kindheitserfahrung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich eine Abwehr entwickelte gegen "Deutschlandliebe". Viele andere Staaten hatten eine derartig riesige Katastrophe nicht in ihrer Geschichte; da konnte ich einsehen, dass die ihr Land lieben. Aber vielleicht irre ich mich; womöglich hätte ich die gleiche Abneigung entwickelt, wenn es keinen Hitler gegeben hätte. Ich bin grundsätzlich gegen Gruppenzwang. Wenn ich Franzose wäre und dort einen nationalen Gruppenzwang erlebte, würde ich vielleicht auch lieber weglaufen. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es eine Mischung aus mehreren Faktoren.




Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1330
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Di 1. Jul 2025, 22:54

Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 08:59
Das ist ein hübsches Bild - wobei ich „Deutscher“ immer auslassen würde für mich, sofern es mehr als Sprache oder Pass bedeuten soll.
Zum meinem Deutschsein gehört auch ein gewisses Nationalgefühl (nationales Heimatgefühl) samt kulturellem und historischem Verbundenheitsgefühl, das sich nicht allein auf die deutsche Sprache bezieht. Meine Enkulturation (d.i. das Hineinwachsen des Einzelnen in die Kultur der ihn umgebenden Gesellschaft) in die deutsche Kultur hat mehr umfasst als das Erlernen der deutschen Sprache.
Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 08:59
Der Hinweis Borchmeyers, dass Deutsch im Gegensatz zu anderen immer nur eine Sprache aber kein Stamm war, spielt dabei sicher auch eine Rolle. Es fehlt ein wichtiges Merkmal für eine Wir-Intentionalität.
Es stimmt, dass die Deutschen als Sprachgemeinschaft den Deutschen als Volksgemeinschaft geschichtlich vorausgingen; aber es stimmt nicht, dass sie vor der Zeit des modernen Nationalismus im 19. Jahrhundert und vor der Gründung des Deutschen Reiches 1871 als (National-)Staat keinerlei ethnisches oder nationales Wirbewusstsein entwickelt hatten, und somit davor von einem deutschen Volk als Ethnie/Ethnos oder Nation keine Rede sein kann.
Siehe das Scales-Zitat in diesem Beitrag von mir!
Ich setze eine Ethnie oder eine Nation wohlgemerkt nicht mit einem (National-)Staat oder einem Reich im politischen Sinn gleich.
Pragmatix hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 08:59
Der viel beschworene Verfassungspatriotismus ist ein polit-intellektuelles Abstraktum aus dem Labor.
Şenocak hat recht, wenn er sagt, dass "dem viel zitierten Verfassungspatriotismus in Deutschland eine emotionale Grundlage [fehlt]." (Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift, S. 67)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1330
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Di 1. Jul 2025, 23:12

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 11:33
„Bunt“ ist für mich eine Möglichkeit zur Identifikation. Gerade heute Morgen wieder in der Straßenbahn: eine kleine Gruppe Schulkinder – wirklich sehr bunt zusammengewürfelt. Das hat mir gefallen. Damit kann ich mich identifizieren.
Kannst du dich als Deutscher auch mit Schulklassen an deutschen Schulen identifizieren, in denen (fast) kein deutschstämmiges oder muttersprachlich deutsch sprechendes Kind mehr sitzt?
Kannst du dich als Deutscher auch mit deutschen Schulen identifizieren, in denen die meisten Schüler Moslems sind?



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Benutzeravatar
Consul
Beiträge: 1330
Registriert: Mo 29. Apr 2024, 00:13

Di 1. Jul 2025, 23:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 18:08
Aus dem Gespräch:
  • Friedmann: ist das Plurale nicht synonym mit deutsch (auf dem Boden des Grundgesetzes)
  • Borchmeyer: Ja, war es aber immer ...
Ein wesentlicher Aspekt Borchmeyers Auffassung ist – nach meinen Recherchen – der kosmopolitische oder universale Charakter des Deutschseins, der von Anfang an, insbesondere seit der Zeit um 1800 (Weimarer Klassik, Romantik), in allen Definitionsversuchen des Deutschen wesentlich war. Deutschsein bedeutet für ihn, menschheitlich zu denken. Er betont, dass das Deutsche nie exklusiv deutsch ist, sondern immer ein universelles Element in sich birgt ...
Die ideologische Auseinandersetzung um das deutsche Volk (oder ein anderes) findet stets im Spannungsfeld zwischen einem (mehr oder weniger intoleranten) Exklusionismus (Antipluralismus, Monokulturalismus) und einem (mehr oder weniger toleranten) Inklusionismus (Pluralismus, Multikulturalismus) statt.
Die ultraexklusionistischen Rechtsextremen verstehen unter dem deutschen Volk als "Stammvolk" (Ethnos) im Grunde ein Volk deutschsprachiger Menschen, die "weiß" (europäisch = "europarassig"), christlich (oder "heidnisch"), heterosexuell und allgemein konservativ-traditionell sind. Nichtweiße und Moslems können demnach niemals "echte" Deutsche ("Ethnodeutsche") werden.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 07:15

Consul hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 23:12
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 11:33
„Bunt“ ist für mich eine Möglichkeit zur Identifikation. Gerade heute Morgen wieder in der Straßenbahn: eine kleine Gruppe Schulkinder – wirklich sehr bunt zusammengewürfelt. Das hat mir gefallen. Damit kann ich mich identifizieren.
Kannst du dich als Deutscher auch mit Schulklassen an deutschen Schulen identifizieren, in denen (fast) kein deutschstämmiges oder muttersprachlich deutsch sprechendes Kind mehr sitzt?
Kannst du dich als Deutscher auch mit deutschen Schulen identifizieren, in denen die meisten Schüler Moslems sind?
Vielfalt ist für mich eine Möglichkeit zur Identifikation. Wenn du mir erklärst, welche Argumentation du (fur den hier vorliegenden Zusammenhang!) mit deinen Fragen verfolgst, kann ich sie gegebenenfalls beantworten.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 09:02

Consul hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 22:54
Şenocak hat recht, wenn er sagt, dass "dem viel zitierten Verfassungspatriotismus in Deutschland eine emotionale Grundlage [fehlt]." (Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift, S. 67)
Vereinfacht gesagt, ist der Zweck der Verfassung, unsere Freiheit und unsere Grundrechte zu garantieren.

Aber hat das auch etwas mit Emotionen zu tun? Ich finde schon. Das Leben in einem freien Land, in dem die eigene Sicherheit durch den Staat im Großen und Ganzen geschützt wird, hat zweifellos eine andere emotionale Qualität als das Leben in einem Staat, in dem Freiheit und Selbstentfaltung systematisch eingeschränkt sind.

Das entspricht vielleicht nicht exakt dem, was du (mit Şenocak) im Sinn hattest, aber ich finde, es ist ein wichtiger Aspekt, der zur Diskussion dazugehört.




Pragmatix
Beiträge: 313
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Mi 2. Jul 2025, 09:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 09:02
Consul hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 22:54
Şenocak hat recht, wenn er sagt, dass "dem viel zitierten Verfassungspatriotismus in Deutschland eine emotionale Grundlage [fehlt]." (Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift, S. 67)
Vereinfacht gesagt, ist der Sinn der Verfassung unserer Freiheit und unsere Menschenrechte zu garantieren, zumindest im Großen und Ganzen. Ich meine, sich frei und sicher fühlen zu können, ist durchaus so etwas wie eine Emotion.
Ob Menschen sich frei und sicher fühlen, hat etwas zu tun mit ihren konkreten Lebensumständen und wie sie die Wirklichkeit auf der Basis ihrer konkreten Erfahrungen und/oder dem, was sie an Informationen verarbeiten. Was in der Verfassung steht, spielt dabei für den erlebten Lebensalltag noch weniger eine Rolle als das, was in der Bibel steht. Deshalb fehlt dem Verfassungspatriotismus tatsächlich jede alltagstaugliche emotionale Grundlage. Er bleibt eine Idee aus der intellektuellen Retorte, ein typisch elitäres Projekt. Das Grundgesetz beantwortet, anders als etwa die Bibel für Gläubige, keine Fragen der individuellen moralischen Lebensführung. Daher erzeugt es auch keine Wir-Intentionalität, dazu ist der Inhalt viel zu abstrakt.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 10:14

Beispiele für Wir-Intentionalität sind: Gemeinsam einen Tisch von a nach b tragen, zusammen spazieren gehen oder gemeinsam tanzen. So etwas gibt es meines Erachtens nur in einigermaßen überschaubaren Gruppen. Das bezieht sich auf ganz konkrete geteilte Absichten. „Geteilt“ heißt auch, dass alle voneinander wissen, dass sie diese konkrete Absicht gemeinsam verfolgen. Solche Handlungen sind intrinsisch normativ, weil man sich implizit verpflichtet hat, das Ergebnis gemeinsam zu erzielen. Jeder schuldet dem anderen etwas.

Wenn zwei Menschen nur zufälligerweise in dieselbe Richtung gehen, liegt keine Wir-Intentionalität vor. Wenn ich jemanden mit Waffengewalt zwinge, mit mir zusammen den Tisch von a nach b zu tragen, liegt ebenfalls keine Wir-Intentionalität vor.

Unabhängig davon, was die Zugehörigkeit zu einer Nation – sei es Deutsch, Japanisch, Brasilianisch oder Nigerianisch – ausmacht, ist diese Zugehörigkeit nicht identisch mit der phänomenologisch dichten Struktur von Wir-Intentionalität, wie sie etwa bei Tomasello oder Searle beschrieben wird (grob: eine bewusste, geteilte und gegenseitig anerkannte Absicht).

Nachtrag: Entspricht das „Wir“ in „wir Deutsche“ überhaupt dem alltäglichen Sprachgebrauch von „wir“?

*Mit ‚etwas schulden‘ ist hier keine juristische Schuld gemeint, sondern nur eine allgemeine wechselseitige Verpflichtung bei gemeinschaftlichen Handlungen o. Ä.*




Antworten