Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 10:23

Pragmatix hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 09:33
Was in der Verfassung steht, spielt dabei für den erlebten Lebensalltag noch weniger eine Rolle als das, was in der Bibel steht.
Was in der Verfassung steht, spielt für den erlebten Lebensalltag die allergrößte Rolle. Die Verfassung soll garantieren, dass das Leben tatsächlich frei ist und mit den Grund- und Menschenrechten übereinstimmt. In einem Unrechts- oder Polizeistaat hingegen sieht der gelebte Alltag ganz anders aus.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 10:33

Vielleicht fängt man erst an, die Luft zum Atmen zu schätzen, wenn sie einem genommen wird?!




Pragmatix
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Mi 2. Jul 2025, 11:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 10:23
Pragmatix hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 09:33
Was in der Verfassung steht, spielt dabei für den erlebten Lebensalltag noch weniger eine Rolle als das, was in der Bibel steht.
Was in der Verfassung steht, spielt für den erlebten Lebensalltag die allergrößte Rolle. Die Verfassung soll garantieren, dass das Leben tatsächlich frei ist und mit den Grund- und Menschenrechten übereinstimmt. In einem Unrechts- oder Polizeistaat hingegen sieht der gelebte Alltag ganz anders aus.
Der sieht aber aus praktischen Gründen anders aus. Die DDR und andere solche Staaten hatten durchaus hehre Verfassungsprinzipien. Die SOLLTEN auch dieses und jenes garantieren, was im Lebensalltag aber nicht ankam.

Der Punkt ist einfach: Was du hier formulierst, nehmen Menschen so nicht bewusst wahr oder nur selten, deshalb stiftet es auch keine Identität namens Verfassungspatriotismus. Ein entsprechendes Volksfest zur Verfassung von 1814 gibt es nur in Norwegen.

Der Verfassungspatriotismus schafft keine gelebte Alltagskultur, keine von unten kommende Identifikation, keine Rituale von unten her, keine Emotionalität - und ist darüber Teil des wüsten politischen Parteiengezänks.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 11:24

Pragmatix hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 11:15
solche Staaten
Was meinst du damit?




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 11:58

Der Verfassungspatriotismus ist – nach allem, was ich weiß – ein von Habermas und anderen Philosophen entwickeltes Konzept, ein normativer Entwurf für eine moderne, demokratische Identität. Er versteht sich nach meinem Verständnis (auch) als ein mögliches Ideal und nicht einfach als Beschreibung eines bereits erreichten Ist-Zustandes.
Consul hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 22:54
Şenocak hat recht, wenn er sagt, dass "dem viel zitierten Verfassungspatriotismus in Deutschland eine emotionale Grundlage [fehlt]." (Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift, S. 67)
Wir sind wir jetzt hierher gekommen? Ich hatte das Zitat kritisiert, weil ich durchaus die Möglichkeit sehe, dem sogenannten Verfassungspatriotismus eine emotionale Grundlage zu geben, bzw sie besser in den Blick zu rücken. Freiheit, Grund- und Menschenrechte sind meines Erachtens nämlich nicht bloß abstrakte Werte.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 12:49

Consul hat geschrieben :
Mo 30. Jun 2025, 22:02
ein hochinteressantes Gespräch
Ich versuche mich stückweise daran, aber es ist eine unglaubliche Quälerei. Friedmann ist ein Desaster. Was sein Gesprächspartner sagt, scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren, er unterbricht ihn andauernd, geht nicht in die Tiefe ... und drückt total gequollen aus.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 13:17

In dem Interview wird die Frage, was "deutsch" sei, als eine Frage beschrieben, die oft zu extremen Positionen führt. Friedmann fragt, warum die Debatte über "Deutsch", "wer ist deutsch", "deutsche Nation" und "deutsche Identität" immer wieder in solchen Extremen landet. Dieter Borchmeyer bestätigt, dass dies "ein großes Problem" ist.

Konkret werden zwei extreme Positionen genannt– pi mal Daumen: Die eine Position besagt, dass der Begriff "Deutsch" "überhaupt keine Bedeutung" hat. Und das andere Extrem geht von einem homogenisierten Deutschbegriff aus.

Ist das der Punkt, an dem wir hier sind?




Pragmatix
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Mi 2. Jul 2025, 13:47

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 13:17
In dem Interview wird die Frage, was "deutsch" sei, als eine Frage beschrieben, die oft zu extremen Positionen führt. Friedmann fragt, warum die Debatte über "Deutsch", "wer ist deutsch", "deutsche Nation" und "deutsche Identität" immer wieder in solchen Extremen landet. Dieter Borchmeyer bestätigt, dass dies "ein großes Problem" ist.

Konkret werden zwei extreme Positionen genannt– pi mal Daumen: Die eine Position besagt, dass der Begriff "Deutsch" "überhaupt keine Bedeutung" hat. Und das andere Extrem geht von einem homogenisierten Deutschbegriff aus.

Ist das der Punkt, an dem wir hier sind?
Normalerweise wird die Position 1 von Linken/Progressiven vertreten, wozu ich mich aber nicht rechnen möchte. Wenn man auch nicht zu anderen gehören möchte, streicht man die Frage eben. Es ist nicht zusammengewachsen, was angeblich zusammengehört- das zeigt, dass der Begriff die Bedeutung, die er für die Brandts und Kohls und Schäubles hatte, verloren hat. Nicht umsonst wollen nur 17% der Bundesbürger ihr Land mit der Waffe verteidigen. Einen schlagenderen Beweis für die fehlende Identität kann es doch nicht geben.




Jörn Budesheim

Mi 2. Jul 2025, 15:27

Den Gedanken, man müsse deutschstämmige Vorfahren haben, um Deutscher sein zu können, findet Dieter Borchmeyer "verwerflich" und "falsch". Hintergrund war, dass Friedmann eine Umfrage präsentierte, bei der über ein Drittel der deutschen Befragten diese Ansicht vertraten.

Bei der Suchmaschine perplexity.ai findet man folgende Angaben, die mit den Angaben im Interview ungefähr übereinstimmen, wobei Friedmann die Zahlen anders gelesen hat, als dieses Suchergebnis es beschreibt – sein Fokus lag eher darauf, dass immerhin ein Drittel dieses Kriterium akzeptieren und nicht wie in dieser Beschreibung, dass für die Mehrheit der Bevölkerung Abstammung heute kein zentrales Kriterium mehr ist:

Etwa 37 bis 40 Prozent der Deutschen glauben, dass man deutsche Vorfahren haben müsse, um als Deutscher zu gelten. Mehrere große Umfragen, darunter die Studie "Deutschland postmigrantisch" des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, zeigen, dass für die Mehrheit der Bevölkerung Abstammung heute kein zentrales Kriterium mehr ist. Viel wichtiger werden Merkmale wie das Beherrschen der deutschen Sprache (über 96 Prozent Zustimmung) und der Besitz eines deutschen Passes (etwa 79 Prozent Zustimmung) angesehen.




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Mi 2. Jul 2025, 22:34

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 13:17
In dem Interview wird die Frage, was "deutsch" sei, als eine Frage beschrieben, die oft zu extremen Positionen führt. Friedmann fragt, warum die Debatte über "Deutsch", "wer ist deutsch", "deutsche Nation" und "deutsche Identität" immer wieder in solchen Extremen landet. Dieter Borchmeyer bestätigt, dass dies "ein großes Problem" ist.

Konkret werden zwei extreme Positionen genannt– pi mal Daumen: Die eine Position besagt, dass der Begriff "Deutsch" "überhaupt keine Bedeutung" hat. Und das andere Extrem geht von einem homogenisierten Deutschbegriff aus.
Ist das der Punkt, an dem wir hier sind?
Es gibt die beiden ideologischen Pole eines linksextremen "Deutschland verrecke!"-Antinationalismus und eines rechtsextremen "Deutschland über alles!"-Ultranationalismus. Beide Extremismen lehne ich entschieden ab.



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Mi 2. Jul 2025, 22:55

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 17:45
Die Aussagen „Ich schätze Vielfalt“ und „Ich schätze alles“ sind keineswegs synonym. Ich kann das Vielfältige schätzen, ohne damit verpflichtet zu sein, auch das moralisch Verwerfliche zu schätzen. Hier besteht kein logisches, begriffliches oder sonstiges Problem. Dass ich die Freiheit schätze, verpflichtet mich ja ebenfalls nicht dazu, auch Angriffe auf die Freiheit zu schätzen – das wäre schlichtweg eine absurde Schlussfolgerung.
Deine Einschränkung ist wichtig; denn Vielfalt um der bloßen Vielfalt willen ist nicht wünschenswert, da Extremisten und Verbrecher ja auch zur gesellschaftlichen Vielfalt als solcher beitragen. Der liberale Multikulturalismus ist nicht omnitolerant und darf es auch nicht sein, damit er sich nicht selbst untergräbt. Wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Rahmenwerk von bestimmten sozialen oder ethnokulturellen Gruppen abgelehnt und angegriffen wird, dann hört seine pluralistische oder "diversistische" Toleranz auf.
"Liberaler Multikulturalismus

Zwischen Liberalismus und Multikulturalismus besteht ein komplexes und in vielerlei Hinsicht ambivalentes Verhältnis. Manche betrachten Liberalismus und Multikulturalismus als rivalisierende politische Traditionen, wobei ersterer Individualismus und Entscheidungsfreiheit betont, während letzterer Kollektivismus und Gruppenidentität betont. Seit den 1970er Jahren haben liberale Denker jedoch das Thema kultureller Vielfalt zunehmend ernst genommen und eine Form des liberalen Multikulturalismus entwickelt. Dies wird manchmal als Ausdruck einer Verschiebung innerhalb des Liberalismus gesehen, von der Betonung des Universalismus hin zur Betonung des Pluralismus. Der Eckpfeiler des liberalen Multikulturalismus ist das unerschütterliche Bekenntnis zur Toleranz und der Wunsch, die Entscheidungsfreiheit im moralischen Bereich zu wahren, insbesondere in Bezug auf Angelegenheiten, die für bestimmte kulturelle oder religiöse Traditionen von zentraler Bedeutung sind. Dies hat zu der Vorstellung beigetragen, dass der Liberalismus in Bezug auf die moralischen, kulturellen und sonstigen Entscheidungen der Bürger „neutral“ sei. John Rawls beispielsweise vertrat diese Überzeugung mit der Argumentation: Der Liberalismus strebt danach, Bedingungen zu schaffen, unter denen Menschen ein gutes Leben führen können, so wie jeder es definiert („das Richtige“). Er schreibt jedoch keine bestimmten Werte oder moralischen Überzeugungen („das Gute“) vor oder versucht, diese zu fördern. In diesem Sinne ist der Liberalismus „differenzblind“: Er behandelt Faktoren wie Kultur, Ethnizität, Rasse, Religion und Geschlecht als faktisch irrelevant, da alle Menschen als moralisch autonome Individuen bewertet werden sollten. Toleranz ist jedoch nicht moralisch neutral und bietet nur eine begrenzte Anerkennung kultureller Vielfalt. Insbesondere erstreckt sich Toleranz nur auf Ansichten, Werte und soziale Praktiken, die selbst tolerant sind; das heißt auf Ideen und Handlungen, die mit persönlicher Freiheit und Autonomie vereinbar sind. Liberale können daher keine „tiefe“ Vielfalt akzeptieren. Beispielsweise könnten liberale Multikulturalisten Praktiken wie weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsehen (und möglicherweise arrangierte Ehen) und Kleiderordnungen für Frauen ablehnen, so sehr die betroffenen Gruppen auch argumentieren mögen, dass diese für die Aufrechterhaltung von ihre kulturelle Identität. Die Rechte des Einzelnen, insbesondere seine Entscheidungsfreiheit, müssen daher vor den Rechten der jeweiligen kulturellen Gruppe stehen.

Das zweite Merkmal des liberalen Multikulturalismus ist die wichtige Unterscheidung zwischen dem „privaten“ und „öffentlichen“ Leben. Ersteres wird als ein Bereich der Freiheit betrachtet, in dem Menschen ihre kulturelle, religiöse und sprachliche Identität frei ausleben können oder können sollten, während Letzteres zumindest durch ein Fundament gemeinsamer bürgerlicher Bindungen geprägt sein muss. Staatsbürgerschaft wird somit von kultureller Identität getrennt, was letztere im Wesentlichen zu einer Privatsache macht. Eine solche Haltung impliziert, dass Multikulturalismus mit bürgerlichem Nationalismus vereinbar ist. Dies zeigt sich in der sogenannten „Bindestrich-Nationalität“, die in den USA praktiziert wird, durch die sich Menschen als Afroamerikaner, Polnisch-Amerikaner, Deutsch-Amerikaner usw. sehen. In dieser Tradition wird im öffentlichen Raum eher Integration als Diversität betont. Die USA beispielsweise betonen Englischkenntnisse und Kenntnisse der US-amerikanischen politischen Geschichte sind Voraussetzungen für die Einbürgerung.

Der dritte und letzte Aspekt des liberalen Multikulturalismus besteht darin, dass er die liberale Demokratie als das einzig legitime politische System betrachtet. Aus dieser Sicht besteht der Vorteil der liberalen Demokratie darin, dass sie sicherstellt, dass die Regierung auf der Zustimmung des Volkes beruht, und indem sie persönliche Freiheit und Toleranz garantiert, bietet sie einen politischen Raum für den Ausdruck unterschiedlicher Ansichten und Werte. Dies führt jedoch nicht zu einem freien Spiel, in dem alle Ansichten und Werte zum Ausdruck gebracht werden können. Die liberale Demokratie ist ihr eigener Torwächter: Gruppen und politische Bewegungen können verboten werden, wenn ihre Ziele und Überzeugungen mit den wichtigsten liberal-demokratischen Prinzipien unvereinbar sind. Gruppen haben daher nur dann Anspruch auf Toleranz und Respekt, wenn sie im Gegenzug bereit sind, andere Gruppen zu tolerieren und zu respektieren." [Google Translate]

(Heywood, Andrew. Political Ideologies: An Introduction. 7th ed. London: Red Globe/Macmillan, 2021. pp. 238-9)




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Mi 2. Jul 2025, 23:21

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 07:15
Consul hat geschrieben :
Di 1. Jul 2025, 23:12
Kannst du dich als Deutscher auch mit Schulklassen an deutschen Schulen identifizieren, in denen (fast) kein deutschstämmiges oder muttersprachlich deutsch sprechendes Kind mehr sitzt?
Kannst du dich als Deutscher auch mit deutschen Schulen identifizieren, in denen die meisten Schüler Moslems sind?
Vielfalt ist für mich eine Möglichkeit zur Identifikation. Wenn du mir erklärst, welche Argumentation du (fur den hier vorliegenden Zusammenhang!) mit deinen Fragen verfolgst, kann ich sie gegebenenfalls beantworten.
Meine Frage ist, ob du als vielfaltsliebender Deutscher die oben beschriebenen und an vielen Schulen (und Kindergärten) längst wirklich gewordenen Zustände begrüßt und gutheißt.
Ist es dir gesamtgesellschaftlich gleichgültig, wie viel Prozent das deutsche Ethnos (das autochthone [alteingesessene, eingeborene, einheimische] deutsche Volk als Heimat-/Kern-/Stamm-/Urvolk im deutschsprachigen Raum) innerhalb des deutschen Demos (deutsche Staatsbürger) bzw. des deutschen Plethos (deutsche Staatsbürger + Ausländer in Deutschland) ausmacht?



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Do 3. Jul 2025, 00:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 11:58
…Wie sind wir jetzt hierher gekommen? Ich hatte das Zitat kritisiert, weil ich durchaus die Möglichkeit sehe, dem sogenannten Verfassungspatriotismus eine emotionale Grundlage zu geben, bzw sie besser in den Blick zu rücken. Freiheit, Grund- und Menschenrechte sind meines Erachtens nämlich nicht bloß abstrakte Werte.
Ja, aber die Frage ist, ob unsere nationale Identität in nichts weiter als einem ethisch-politischen "Gesellschaftsvertrag" bestehen soll—in einem (verpflichtenden) Bekenntnis zur liberalen Verfassungsdemokratie. Dann wären allerdings alle deutschen Staatsbürger, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen, keine wahrhaften Deutschen, weil sie den deutschen "Nationalcharakter" im verfassungspatriotischen Sinn nicht verkörpern.



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Do 3. Jul 2025, 00:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 12:49
Consul hat geschrieben :
Mo 30. Jun 2025, 22:02
ein hochinteressantes Gespräch
Ich versuche mich stückweise daran, aber es ist eine unglaubliche Quälerei. Friedmann ist ein Desaster. Was sein Gesprächspartner sagt, scheint ihn überhaupt nicht zu interessieren, er unterbricht ihn andauernd, geht nicht in die Tiefe ... und drückt total gequollen aus.
Hm…Wir scheinen verschiedene Sendungen gesehen zu haben, denn mein Eindruck ist ein anderer.



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Do 3. Jul 2025, 00:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 2. Jul 2025, 15:27
Den Gedanken, man müsse deutschstämmige Vorfahren haben, um Deutscher sein zu können, findet Dieter Borchmeyer "verwerflich" und "falsch". Hintergrund war, dass Friedmann eine Umfrage präsentierte, bei der über ein Drittel der deutschen Befragten diese Ansicht vertraten.
Borchmeyers Ansatz ist kulturalistisch, nicht ethnistisch. Wenn die deutsche Nation als Kulturnation aufgefasst wird, dann tritt der genealogische Aspekt in den Hintergrund oder er verschwindet völlig von der Bühne.
"Dieter Borchmeyer's Buch "Was ist deutsch?" untersucht die deutsche Identität, wobei er die Idee der Kulturnation in den Vordergrund stellt. Er argumentiert, dass Deutschland sich weniger als Staatsnation, sondern vielmehr als Kulturnation definiert, die durch ihre Kunst, Kultur und Geistesgeschichte geprägt ist. Borchmeyer beleuchtet, wie sich der Begriff des Deutschen im Laufe der Zeit gewandelt hat und welche vielfältigen Antworten es auf die Frage nach der deutschen Identität gibt. 

Borchmeyer zeigt auf, dass die deutsche Kulturgeschichte, von Goethe bis Wagner und darüber hinaus, immer wieder neue Perspektiven auf das Deutsche eröffnet hat. Er betont, dass Größen der deutschen Geistesgeschichte oft eine kosmopolitische Sichtweise vertraten und sich nicht auf eine enge nationale Definition beschränken wollten. Gerade die deutsche Provinz, wie etwa Weimar und Bayreuth, habe eine besondere Rolle bei der Schaffung von Weltkultur gespielt. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Borchmeyer in seinem Buch die deutsche Identität als eine dynamische und facettenreiche Größe darstellt, die stark von kulturellen Einflüssen geprägt ist. Er plädiert für ein Verständnis Deutschlands als Kulturnation, die durch ihre Kunst und Geistesgeschichte eine wichtige Rolle in der Welt spielt."

(Quelle: Google Suche KI)
Borchmeyer beendet sein Buch mit den folgenden Worten:
"Deutschland könnte so wieder, wie es das in seinen besten Zeiten war, ein «Land der Kultur» werden. In der Mitte und im Herzen eines politisch und ökonomisch geeinten Europas sollten – damit dieses wirklich ein Herz hat – auch die Musen wieder ihren Gesang ertönen lassen dürfen, sollte Deutschland, das, lange bevor es Staat wurde, eine Kulturnation war, ein Kulturstaat sein. Dann brauchte Uta von Naumburg in der wunderbaren Skulptur im Naumburger Dom ihren transzendenten Blick nicht mehr fragend in die Ferne zu richten, sondern ihr läge vielleicht die letztgültige Antwort zur Frage auf den Lippen: «Was ist deutsch?»"

(Borchmeyer, Dieter. Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst. Berlin: Rowohlt, 2017.)



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Do 3. Jul 2025, 01:34

"Es gibt keinen allgemein anerkannten und eindeutigen Begriff der Nation. Das liegt in der vielschichtigen Funktion dieses und ähnlicher Begriffe begründet: Sie haben sowohl erklärende wie legitimierende und normierende Aufgaben. Begriffe dieser Art wollen nicht nur die Wirklichkeit erfassen oder analysieren, sondern sie setzen auch politische Ziele für die Zukunft und werden zur Rechtfertigung der Gegenwart eingesetzt.

Die nationalstaatlichen Bewegungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts haben den Begriff der Nation höchst unterschiedlich verwandt, der Anspruch auf Selbstbestimmung, auf Selbstorganisation nach innen und Unabhängigkeit nach außen war ihnen gemein. In der Nationalismusforschung wird gemeinhin zwischen vier verschiedenen Nationsbegriffen unterschieden: (a) „Volksnation“, welche die Zugehörigkeit zur Nation an eine ethnisch homogene Gruppe knüpft; (b) „Kulturnation“, welche die Gemeinsamkeit in Verhaltensweisen im Allgemeinen und der Sprache, Literatur, Musik im Speziellen hervorhebt; (c) „Staatsnation“, die keine spezifischen Kriterien für die Vorstellung der Nation angibt, sondern das Vorhandensein einer staatlichen Verbandsordnung bezeichnet, die auf der Grundlage der „Volksnation“ oder der „Kulturnation“ bestehen kann; (d) „Staatsbürgernation“, die sich durch Verfahren der demokratischen Partizipation und die individuelle Rechte ihrer Mitglieder (Staatsbürger) bildet."

Quelle: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/ha ... 74/nation/
Die deutsche Nation als politische Staatsbürgernation (Bürgernation/Zivilnation) schafft Raum für eine multiethnische und multikulturelle Gesellschaft in Deutschland. Ob man als Deutscher in einer solchen "kunterbunten" Gesellschaft leben möchte, in der ethnokulturelle Deutschheit nicht mehr vorherrschend (hegemonial), sondern nur noch ein Mosaikteilchen neben vielen anderen ist, ist eine andere Frage.



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

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Do 3. Jul 2025, 08:46

Consul hat geschrieben :
Do 3. Jul 2025, 00:52


Borchmeyers Ansatz ist kulturalistisch, nicht ethnistisch. Wenn die deutsche Nation als Kulturnation aufgefasst wird, dann tritt der genealogische Aspekt in den Hintergrund oder er verschwindet völlig von der Bühne.
Das Kulturalistische ist genau der Punkt, der heute bei den Kritikern abgelehnt wird. Kulturalismus impliziert - in dieser Lesart - immer eine Form Kommunitarismus. Das ist, wie man in Reckwitz‘ Buch über die Singularitäten nachlesen konnte, aber vorgestrig. Liberale Versionen wie etwa die Judith Shklars stellen ebenfalls individuelle Erfahrungen über kulturelle Loyalität oder kollektive Identitätsbehauptungen.

Der Verfassungspatriotismus als minimalistisches Narrativ über ein abstraktes Kollektiv der Singularitäten wäre das passende Ausgehkleidchen, wenn die Singularitäten sich unter Ausschluss der schnöden Kommunitaristen selbst feiern: keine organische Nation, kein kulturelles Erbe als politische Legitimation, nur der Schutz des absolut verstandenen Individuums durch Institutionen, die das garantieren. Deutsch wird hier also zu einem funktionalen Schutzbegriff: Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft, Teilhabe an einem institutionellen Rahmen, ein Schutzstatus, der bestimmte Rechte und Freiheiten garantiert.

Ich denke, das ist heute durchaus der vorherrschende Konsens von oben. Auch Borchmeyers „Geist“ kann da getrost draußen bleiben oder sich als funktionalistischer zwischen die Deckel des GG klemmen.




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Do 3. Jul 2025, 09:27

Ich bin kein Shklar-Kenner; aber einer ihrer Schüler, Bernard Yack, definiert "Nation" folgendermaßen in einem kommunitaristisch-kulturalistischen Sinn:
"A nation, then, is a categorical community in which the sharing of a singular and contingent cultural heritage inspires individuals to imagine themselves connected to each other—and to certain territories—through time by ties of mutual concern and loyalty."
———
"Eine Nation ist also eine kategorische Gemeinschaft, in der das Teilen eines einzigartigen und kontingenten kulturellen Erbes die Einzelnen dazu inspiriert, sich vorzustellen, sie seien über die Zeit hinweg durch Bande gegenseitiger Anteilnahme und Loyalität miteinander – und mit bestimmten Territorien – verbunden." [Google Translate mit Änderungen meinerseits]

(Yack, Bernard. Nationalism and the Moral Psychology of Community. Chicago: University of Chicago Press, 2012. p. 70)
"Die strikte Dichotomie zwischen ethnischen und bürgerlichen Nationen entspricht eher zwei Mythen oder einseitigen Auffassungen von Nation als zwei Arten der Organisation tatsächlicher Gemeinschaften. Der Mythos der ethnischen Nation suggeriert, man habe bei der Gestaltung seiner nationalen Identität keinerlei Wahl: Man sei das, was man von früheren Generationen geerbt habe, und nichts anderes. Der Mythos der bürgerlichen Nation hingegen suggeriert, die nationale Identität sei nichts anderes als die eigene Wahl: Man sei die politischen Prinzipien, die man mit anderen Gleichgesinnten teile. Echte Nationen hingegen verbinden Wahl und kulturelles Erbe.

Der Mythos der bürgerlichen Nation ist ein Mythos des Konsenses. Er verfälscht die selektive Bejahung überlieferter politischer Prinzipien und Symbole als gemeinsame Entscheidung darüber, wie wir uns am besten regieren. Anders ausgedrückt: Er suggeriert, dass uns in bürgerlichen Nationen die Übereinkunft über die Gestaltung unseres politischen Lebens auf eine bestimmte Weise zusammenbringt, und nicht die Bejahung überlieferter politischer Ideale und Institutionen. Dadurch verwandelt er die generationenübergreifende Gemeinschaft der Nation in einen freiwilligen Zusammenschluss zum Ausdruck gemeinsamer politischer Prinzipien. Denn selbst Nationen, die durch ausdrückliche Vereinbarungen gegründet wurden, etwa in einer Unabhängigkeitserklärung oder einem Föderationseid, bestehen durch die Bestätigung des Erbes, das sie von ihren Gründern erhalten haben, durch spätere Generationen fort.

Der Mythos der ethnischen Nation hingegen ist ein Mythos der Abstammung. Er stellt die gemeinsame Bestätigung eines Teils unseres gemeinsamen kulturellen Erbes als Geburtsmerkmal dar. Dabei ignoriert er die Selektivität, die uns dazu bringt, gemeinsame Abstammung als Quelle gegenseitiger Verbindungen zu bejahen, anstatt eines der vielen anderen Dinge, die wir mit unseren Mitmenschen teilen. Darüber hinaus ignoriert er, wie selbst die Behauptung unserer gemeinsamen Abstammung die selektive Bestätigung eines Teils unseres kulturellen Erbes anstelle eines anderen beinhaltet." [Google Translate]

(Yack, Bernard. Nationalism and the Moral Psychology of Community. Chicago: University of Chicago Press, 2012. p. 30)



"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst." – Juliane Werding

Pragmatix
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Do 3. Jul 2025, 09:45

Consul hat geschrieben :
Do 3. Jul 2025, 09:27
Ich bin kein Shklar-Kenner; aber einer ihrer Schüler, Bernard Yack, definiert "Nation" folgendermaßen in einem kommunitaristisch-kulturalistischen Sinn:
"A nation, then, is a categorical community in which the sharing of a singular and contingent cultural heritage inspires individuals to imagine themselves connected to each other—and to certain territories—through time by ties of mutual concern and loyalty."
———
"Eine Nation ist also eine kategorische Gemeinschaft, in der das Teilen eines einzigartigen und kontingenten kulturellen Erbes die Einzelnen dazu inspiriert, sich vorzustellen, sie seien über die Zeit hinweg durch Bande gegenseitiger Anteilnahme und Loyalität miteinander – und mit bestimmten Territorien – verbunden." [Google Translate mit Änderungen meinerseits]

(Yack, Bernard. Nationalism and the Moral Psychology of Community. Chicago: University of Chicago Press, 2012. p. 70)
Das ist nicht mehr im Geiste Shklars. Die stellt sich eindeutig gegen alle großen Erzählungen kultureller Gemeinsamkeiten, weil sie exkludierend und gewaltverdächtig sind. Das Zitat würde besser zu einem Taylor- oder Sandel-Schüler passen. Bei Shklar wird die politische Zugehörigkeit über Recht und Verletzbarkeit definiert.




Pragmatix
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Do 3. Jul 2025, 10:16

Ich habe nur „Ganz normale Laster“ von Shklar selbst im Regal stehen. Aber man kann vielleicht diesen Satz als Bestätigung dessen nehmen, dass sie allen Kollektivismen mehr als skeptisch gegenübersteht: „Grausamkeit mehr als jedes andere Übel zu hassen, bedeutet eine radikale Ablehnung sowohl religiöser als auch politischer Konventionen. Es verdammt einen zu einem Leben voller Zweifel, Unentschlossenheit, Ekel und oft Menschenhass.“ (S. 16)




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