Das Toleranz Paradoxon

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Fr 2. Feb 2018, 06:03

der Vollständigkeit halber hier noch der Link zu Wikipedia > https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6ck ... prov=sfla1




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Alethos
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Sa 3. Feb 2018, 09:51

Hier ein kurzes Manuskript einer Rede von Johannes Gauck. Ich finde, sie passt gut zum Thema und nimmt gewisse Befürchtungen auf, die Gesellschaft überfordere sich mit ihrem omnipotenten Toleranzanspruch:
Dies ist das gekürzte Manuskript einer Rede, die Joachim Gauck am 31. Januar an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf gehalten hat:


Zunächst: Heine! Er hat mich begleitet, seit ich in literarischen Texten Inspiration und Orientierung suchte. Getröstet hat er mich nur selten. Aber eine eigene Haltung zu finden, dabei hat er mich bestärkt. Und oft habe ich Konstellationen oder Menschen besser verstanden durch das, was Heine dachte und schrieb.

Ganz besonders gilt das für «die Deutschen», über die Heine schrieb – zum Beispiel über ihr besonderes Verhältnis zu dem, wonach ich mich immer sehnte: Freiheit. «Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmässiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiss er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füssen mit den überspanntesten Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Grossmutter.»

Das Fremdeln der Ostdeutschen

Es war nicht negativ gemeint, als ich bei einer Rede im Bundestag 1999 über uns Ostdeutsche sagte, dass wir nach der Einheit Gefühle von Fremdheit hatten: «Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.» Mein Gedanke dabei war positiver als das, was Ihr Schmunzeln jetzt vermuten lässt. Nordrhein-Westfalen, das war für mich immer der Ort des gestalteten Lebens. Nicht der Ort, an dem ein Paradies errichtet werden soll. Sondern der Ort, an dem aus der Wirklichkeit heraus versucht wird, Gutes zu erreichen. Selten pathetisch, meistens realistisch, und wenn wir an den Wandel denken, den dieses Land gestaltet hat, kann man sagen: trotz allem erfolgreich. Es ist ein guter Ort zum Leben und Arbeiten. Ein Ort, dem ich mich nahe fühlen kann, auch wenn ich geografisch von weither komme.

Der Fremde hat so lange existiert, wie es den Menschen gibt. Aber mit der Entstehung von Nationalstaaten hat das Eigene noch an Bedeutung und die Abgrenzung vom Fremden noch an Schärfe gewonnen. Das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden scheint mir daher eines der schwierigsten politischen Probleme der Gegenwart. Lassen Sie uns also einen Blick auf die Rolle werfen, die dem Fremden im Kontext der Nationalstaaten zugewiesen worden ist.

Die Gefahr des Nationalstaats

Der Nationalstaat brachte in den letzten 200 Jahren einen erheblichen Demokratisierungsschub, indem er mit den alten Imperien die ständische Privilegienherrschaft abschaffte und das Volk als Souverän inthronisierte. Gleichzeitig aber tauchte mit dem Nationalstaat die Gefahr einer Überhöhung der eigenen Ethnie auf, verbunden mit einer scharfen Abgrenzung gegenüber anderen Staaten und einer teilweise aggressiven Abwertung von Minderheiten. Letztlich kulminierte der ethnisch reine Staat, wie es uns das 20. Jahrhundert gezeigt hat, in einer völkermörderischen Vorstellung.

Angesichts des destruktiven Potenzials im Umgang mit Fremdheit sollten wir die Zivilität umso höher schätzen, um die sich die Menschheit immer wieder bemüht hat. Wir wissen, dass es ohne Affektkontrolle keine Zivilität geben kann. Affektkontrolle aber, die durch reine Repression erreicht wird, löst den zugrunde liegenden Konflikt genauso wenig wie ein Krieg. Repression leugnet den Feind, und Krieg vernichtet ihn. Gewaltfreie Veränderungen hingegen setzen voraus, dass wir die Fremden «entfeinden» und das Eigene entidealisieren. Und dass wir stattdessen lernen, mit Ambivalenzen umzugehen. Mit Gefühlen, die die Eindeutigkeit von Gut und Böse aufheben und Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit zulassen. Das mag schwer sein, aber es ist auch entlastend. Und es vergrössert die Chance, im Fremden auch das «Bereichernde» zu entdecken: das noch nicht Gekannte, das noch nicht Gedachte, das noch nicht Praktizierte, das unsere bisherige Welt erweitert.

Die Notwendigkeit von Heimat

Wir kennen die Folgen von Entwurzelung aus den Geschichten vieler Emigranten. «Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‹wir› sagen konnte», hat Jean Améry geschrieben, nachdem das NS-Regime ihn wegen seiner jüdischen Herkunft außer Landes getrieben hatte. Und nur noch gewohnheitsmässig, aber nicht mehr im Gefühl vollen Selbstbesitzes konnte er darum «ich» sagen. Er hatte Heimweh, «ein übles, zehrendes Weh» zu dem Land, das ihn doch verjagt hatte. Abgeschnitten von dem «Wir» wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie sehr der Mensch Heimat braucht, «um sie nicht nötig zu haben».

Ein Nationalstaat darf sich auch nicht überfordern. Wer sich vorstellt, quasi als imaginierter Vertreter eines Weltbürgertums alle Grenzen des Nationalstaates hinwegzunehmen, überfordert nicht nur die materiellen, territorialen und sozialen Möglichkeiten eines jeden Staates, sondern auch die psychischen Möglichkeiten seiner Bürger. Sogar der weltoffene Mensch gerät emotional und intellektuell an seine Grenzen, wenn sich Entwicklungen vor allem kultureller Art zu schnell und zu umfassend vollziehen. Wie oft habe ich gerade in letzter Zeit im Bekanntenkreis den Stossseufzer gehört: Ich komme nicht mehr mit!

Grosse Veränderungen für Europa

Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob wir uns schon wirklich klargemacht haben, wie schwerwiegend Migranten und Flüchtlinge die Gesellschaften in Europa verändern werden – in ihrer Bevölkerungsstruktur, in der Art ihres Zusammenlebens und auch in ihrer Kultur. Die Integrationspolitik, die der Zuwanderung folgt, wird einen langen Atem brauchen und viel Schwieriges zu gestalten haben. So ist zum Beispiel bekannt, dass Reibungen umso stärker auftreten, je fremder die Fremden sind. Und viele Fremde kommen heute aus autoritären Staaten, teilweise mit Clan-Strukturen zu uns, und viele sind als Muslime religiös ganz anders geprägt als Westeuropäer des 21. Jahrhunderts.

Selbst Migranten aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken tragen häufig eine regelrechte Distanz zur Moderne in sich – ein mangelndes Verständnis für Minderheiten- und Frauenrechte, für Toleranz und sexuelle Selbstbestimmung. Die Gefolgschaft gegenüber einer starken Führerpersönlichkeit erscheint ihnen «natürlicher» als die Loyalität gegenüber einem Rechtsstaat und seinen Institutionen. Andererseits ist das Bild nicht einheitlich. Bildungsstand, kulturelle Prägung oder soziale Position haben Migranten auch immer wieder geholfen, die Vorzüge der offenen Gesellschaft schnell schätzen zu lernen.

Verschiedene Reaktionsmuster haben sich bei Zuwanderung entwickelt: Die einen haben die Fremden aus Hilflosigkeit oder Gleichgültigkeit und so gut und so lange es ging einfach ignoriert. Andere, die umso lauter wurden, je mehr Migranten kamen, haben sie dämonisiert und pauschal zur Bedrohung erklärt. Noch andere haben sie umarmt und pauschal zur Bereicherung erklärt oder gar idealisiert – ausgerechnet Deutsche wollten sich keine Fremdenfeindlichkeit vorwerfen lassen. Wenn Probleme dieses positive Bild des Fremden störten, wurden sie minimiert oder gar wegdefiniert.

Vielfalt galt als Wert an sich

Einen grossen Einfluss in der Integrationspolitik hat lange Zeit die Konzeption des Multikulturalismus gehabt: Was sich auch immer hinter den einzelnen Kulturen verborgen hat – Vielfalt galt als Wert an sich. Die Kulturen der Verschiedenen sollten gleichberechtigt nebeneinander existieren, für alle verbindliche westlich-liberale Wertvorstellungen wurden abgelehnt. Ich verstehe, dass es auf den ersten Blick tolerant und weltoffen anmuten mag, wenn Vielfalt derart akzeptiert und honoriert wird. Wohin ein solcher Multikulturalismus aber tatsächlich geführt hat, das hat mich doch erschreckt.

So finde ich es beschämend, wenn einige immer noch die Augen verschliessen vor der Unterdrückung von Frauen bei uns und in vielen islamischen Ländern, vor Zwangsheiraten, Frühheiraten, vor Schwimmverboten für Mädchen in den Schulen. Wenn Antisemitismus unter Menschen aus arabischen Staaten ignoriert oder mit Verweis auf israelische Politik für verständlich erklärt wird. Oder wenn Kritik am Islam sofort unter den Verdacht gerät, aus Rassismus und einem Hass auf Muslime zu erwachsen. Sehe ich es richtig, dass in diesen und anderen Fällen die Rücksichtnahme auf die andere Kultur als wichtiger erachtet wird als die Wahrung von Grund- und Menschenrechten?

Die Verbündeten der Islamisten

Ja, es gibt Hass und Diskriminierung von Muslimen in unserem Land. Um sich diesem Ressentiment und dieser Generalisierung entgegenzustellen, sind nicht nur Schulen und Politik gefordert, sondern jeder Einzelne. Beschwichtiger aber, die kritikwürdige Verhaltensweisen von einzelnen Migranten unter den Teppich kehren, um Rassismus keinen Vorschub zu leisten, bestätigen Rassisten nur in ihrem Verdacht, die Meinungsfreiheit in unserem Land sei eingeschränkt. Und sie machen sich zum Verbündeten von Islamisten, die jegliche, auch berechtigte Kritik an Muslimen abblocken, indem sie sie als rassistisch verunglimpfen.

Es ist, als scheuten viele davor zurück, die Werte der liberalen Demokratie zu verteidigen, obwohl sie so vielen Menschen ein würdiges Leben ermöglicht haben wie keine Gesellschaftsform zuvor.

Die Chancen der Verunsicherung

Wenn die Verunsicherung durch Zuwanderung nun dazu führen sollte, dass sich Einheimische wieder neu und selbstkritisch auf ihre ethischen und politischen Ideale besinnen und für sie werben, dann hat diese Verunsicherung etwas Gutes gehabt. Ein blosses Nebeneinander ist keine gute Voraussetzung für ein Zusammenleben, Konfliktvermeidung kein guter Weg zum Kennenlernen. Gemeinschaft bildet sich nur aufgrund einer gemeinsamen Vergangenheit und gemeinsam erlebter Gegenwart.

Zu viele Zugezogene leben augenblicklich noch zu abgesondert mit Werten und Narrativen, die den Gesetzen und Regeln und Denkweisen der Mehrheitsbevölkerung widersprechen, zu viele leben hier seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten, ohne die Geschichte dieses Landes zu kennen. Um das zu ändern und uns gemeinsam auf eine Zukunft in diesem Land zu verständigen, brauchen wir – wie einst zwischen einheimischen und vertriebenen Deutschen – vor allem eines: mehr Wissen übereinander. Mehr Dialog. Mehr Streit. Mehr Bereitschaft, im jeweils anderen unseren eigenen Ängsten, aber auch neuen Chancen zu begegnen.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

Rosita
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Sa 3. Feb 2018, 10:10

Stefanie hat geschrieben :
Mi 29. Nov 2017, 07:23
Nach dem Motto, was ich immer schon mal loswerden wollte und fragen wollte...und werfe folgenden Text in den Raum...mal schauen was passiert.


Ich zitiere aus einem Zeitungsartikel, da es dem Originaltext entspricht:

https://www.welt.de/print-welt/article1 ... eranz.html
"Weniger bekannt ist das Paradox der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.
Noch nicht mal Gandhi war immer tolerant. Er war den Brahmanen gegenüber immer sehr ungehalten, weil die ihre machtvolle Stellung nicht aufgeben wollten.

Auch Jesus nicht, er warf die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel.



Jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten!

Cee
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So 4. Feb 2018, 20:01

Friederike hat geschrieben :
Do 1. Feb 2018, 18:39
Du gehst ja noch weiter als Böckenförde, wenn Du sagst/schreibst, die dt. Gesellschaft habe insgesamt Probleme mit der Homogenität und der moralischen Substanz.
Naja, in Zeiten falscher Doktorarbeiten, Dieselbetrugs, eines nicht fertigwerdenden BER (wobei die begleitenden Korruptionsprozesse schon in zweiter Instanz durch sind), ist es sicher nicht falsch, von Problemen mit der Moral zu sprechen. Natürlich nicht hinsichtlich der Mehrheit des Volkes. Wenn aber staatliche Eliten versagen, ist die Breitenwirkung enorm.

Mit Homogenität meine ich nicht die von Herkunft, Religion, politischer Anschauung, Geld etc., sondern die, dass man sich bei allen Unterschieden doch zum selben Gemeinwesen zugehörig fühlt, mit seiner Grundordnung und seinen Grundwerten.
Segler hat geschrieben :
Do 1. Feb 2018, 20:15
Toleranz hat Grenzen, wenn sie nicht als vollständige Selbstaufgabe definiert wird.
...
1. ... Religion, die Menschenopfer zwingend vorschreibt.
...
2. ...Gruppe von Mitbürgern ... Migrationshintergrund sieht es als Notwendigkeit an, Frauen zu entrechten und zu unterdrücken.
...
3. ...politische Partei ... Intoleranz gegenüber jeder abweichenden Meinung zum obersten Ziel.
...
4. ... politische Partei ... Einführung von Vernichtungslagern für Semiten.
...
5. Eine politische Partei verfolgt erklärtermaßen das Ziel die freiheitlich-rechtliche Grundordnung der Bundesrepublik in eine Diktatur zu verändern.
...
Wie tolerant kann man sein? ... Kann man eine dieser Position anerkennen? Kann man sie auch nur dulden?
Segler Du hättest den Aufwand für rhetorisch-polemische Verkürzungen und Fragewiederholungen besser in die gedankliche Präzisierung gesteckt :-)

Denn es ist misslich, wenn man Straftaten, politische Parteibetätigung, mediale Meinungsfreiheit und Bewertung von Meinungen in einen Topf wirft.

Natürlich darf jeder *meinen* und sagen, schreiben, publizieren, dass er Männer für die Krone der Schöpfung hält, stark und mächtig und befugt, Frauen zu unterdrücken.

Genauso, wie man den Wunsch äußern darf, dass D in eine Diktatur umzuwandeln sei, abweichende Meinung nicht gelten und Araber in Arabien bleiben und Niederländer in D Wohnwagenmaut zahlen sollen.

Denn fröhlich nur das vom Staat/der Mehrheit vertretene Wertebild äußern - das darf man sogar in Nordkorea!

Bei der *politischen Betätigung* macht es Sinn, wenn der Staat (der diese ja auch finanziert und besonders schützt) nachschaut, ob er die jeweilige Richtung noch erlaubt: die Säge am eigenen Stamm verbietet er.

Wenn es schließlich um zB Selbstmordkults, Gewalt gegen Frauen geht - dieser Bereich ist vom *Strafrecht* abgedeckt: in abgestuften Begehungsformen - von Tat, Beihilfe, über gemeinschaftliche Begehung oder Zurechnung zu einer Gruppe bis hin zum Versuch.

Es ist ein populärer Irrtum, Toleranz mit 'Anerkennen, Gutheißen' gleichzusetzen. Oder zu glauben, Toleranz verbiete es, Gesetze durchzusetzen oder die Geldwechsler aus dem Tempel zu werfen.

Ruft ein Pöbel Merkel und Gauck beim Betreten einer Kirche unflätige Schimpfworte hinterher, dann soll man das als Beleidigung ahnden. Aber nicht hintenherum legitime Methoden der politischen Meinungsäußerung als 'Aufforderung zu Straftaten' (Modellgalgen) oder 'Volksverhetzung' (drastischer Rassismus) nach freiem Belieben per Gummiparagraph in die strafrechtliche Verantwortung ziehen.

Cee




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Jörn Budesheim
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UNESCO hat geschrieben : Erklärung von Prinzipien der Toleranz

Die Erklärung von Prinzipien der Toleranz wurde auf der 28. Generalkonferenz (Paris, 25. Oktober bis 16. November 1995) von den Mitgliedstaaten der UNESCO verabschiedet.

Entschlossen, alle positiven Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um den Gedanken der Toleranz in unseren Gesellschaften zu verbreiten - denn Toleranz ist nicht nur ein hochgeschätztes Prinzip, sondern eine notwendige Voraussetzung für den Frieden und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Völker,

erklären wir:

Artikel 1: Bedeutung von 'Toleranz'

1.1 Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.

1.2 Toleranz ist nicht gleichbedeutend mit Nachgeben, Herablassung oder Nachsicht. Toleranz ist vor allem eine aktive Einstellung, die sich stützt auf die Anerkennung der allgemeingültigen Menschenrechte und Grundfreiheiten anderer. Keinesfalls darf sie dazu mißbraucht werden, irgendwelche Einschränkungen dieser Grundwerte zu rechtfertigen. Toleranz muß geübt werden von einzelnen, von Gruppen und von Staaten.

1.3 Toleranz ist der Schlußstein, der die Menschenrechte, den Pluralismus (auch den kulturellen Pluralismus), die Demokratie und den Rechtsstaat zusammenhält. Sie schließt die Zurückweisung jeglichen Dogmatismus und Absolutismus ein und bekräftigt die in den internationalen Menschenrechtsdokumenten formulierten Normen.

1.4 In Übereinstimmung mit der Achtung der Menschenrechte bedeutet praktizierte Toleranz weder das Tolerieren sozialen Unrechts noch die Aufgabe oder Schwächung der eigenen Überzeugungen. Sie bedeutet für jeden einzelnen Freiheit der Wahl seiner Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleichen Wahlfreiheit für die anderen. Toleranz bedeutet die Anerkennung der Tatsache, daß alle Menschen, natürlich mit allen Unterschieden ihrer Erscheinungsform, Situation, Sprache, Verhaltensweisen und Werte, das Recht haben, in Frieden zu leben und so zu bleiben, wie sie sind. Dazu gehört auch, daß die eigenen Ansichten anderen nicht aufgezwungen werden dürfen.

Quell: http://www.unesco.de/infothek/dokumente ... eranz.html




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Jörn Budesheim
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So 4. Feb 2018, 20:40

spiegel.de hat geschrieben : Jesus war nicht tolerant

Ständig wird von ihr gesprochen und ständig wird sie von allen Seiten eingefordert: Die Toleranz. Aber was bedeutet das Wort eigentlich?

Eine Begriffsanalyse von Jan Hedde.

Kaum eine Haltung hat eine derartig steile Karriere aufzuweisen - die der Toleranz. Sie gilt als Tugend, wenn nicht sogar die Tugend. Wer nicht tolerant ist, hat es zu Recht schwer; kein reflektierter Mensch wird sich selbst als intolerant bezeichnen, und schon leise geäußerte Zweifel an der Toleranz sind sozial desintegrierend. ...

Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellscha ... 83748.html




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Stefanie
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Mo 25. Mär 2024, 19:29

Aus dem Startbeitrag:
Ich zitiere aus einem Zeitungsartikel, da es dem Originaltext entspricht:
https://www.welt.de/print-welt/article1 ... eranz.html
"Weniger bekannt ist das Paradox der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.
(...)
Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.
Aus: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Mohr Siebeck, Tübingen. Zwei Bände. 524 und 575 S., je 29 EUR. "

Es gibt Themen, die wieder aktuell sind.

Wie weit geht denn die Toleranz für die AfD? Also für Positionen, die gegenüber bestimmten Gruppen intolerant sind.

Diese Autorin schlägt eine andere Vorgehensweise vor:
https://www.br.de/radio/bayern2/sendung ... r-100.html

Auch wenn sich vieles unterhalb des Straftatbestands abspielt, zersetzt der massive Rückgang von Toleranz die Grundlagen unserer pluralistischen Demokratie. Nur: wie lässt sich das Ertragen von Menschen und Positionen zurückgewinnen, die man noch nie mochte? An welche Traditionen und Kulturen der Toleranz können wir anknüpfen?
"Hinweise finden sich in der kleinen Schrift "Grenzen der Gemeinschaft" des Philosophen Helmuth Plessner. Plessner hat diesen Text 1924 und damit in einer Zeit veröffentlicht, die von Gewalt gegen politische Gegner bestimmt war. Die Quellen politisch motivierter Gewalt findet der Philosoph in einem Gemeinschaftspathos, das Rechts- und Linksextreme eint – und das auch heute wieder um sich greift. Gemeint ist ein Stammesdenken, das sich in Freund-Feind-Gegenüberstellungen bewegt, das politische Miteinander nach dem Vorbild familiärer und religiöser Gemeinschaften zu einer gemeinsamen Volks- beziehungsweise Moralgemeinschaft umgestalten will und das alle Andersdenkende und -lebende als moralisch minderwertig verachtet.
Er hält vielmehr ein glühendes Plädoyer für gesellschaftliche Entfremdung: für ein gesellschaftliches Miteinander unter Fremden, die einander nicht mögen. Er verteidigt die gesellschaftliche Öffentlichkeit als Sphäre der Entfremdung von den anderen und von sich selbst. Beides gehört zusammen. Toleranz unter Fremden geht nur mit Etikette, Höflichkeit, sozialen Rollenbildern – etwa als Politiker oder Journalistin –, in denen man nie ganz aufgeht, nicht ganz authentisch ist, aber vor persönlichen Übergriffen geschützt."
Zu denken ist an gesellschaftliche Verfahren mit verbindlichen Regeln. Aktuell heißt das etwa den Parteienproporz in politischen Gremien zu wahren und bei der Ämtervergabe wohl oder übel auch Vertreter der AfD zu berücksichtigen, solange diese Partei nicht verboten ist – ob einem dies gefällt oder nicht.
Wir brauchen eine Kultur der Toleranz, um einander zu ertragen und Pluralismus Tag für Tag zu leben. Wir brauchen sie, um als pluralistische Gesellschaft handlungsfähig zu bleiben. Und wir brauchen sie, um weiterhin bürgerliche Freiheiten leben zu können: geschützt durch soziale Rollen als besondere Individuen in die Öffentlichkeit zu treten – ohne Verletzungen fürchten zu müssen.
Meiner Meinung hat Toleranz Grenzen. Und zwar, wenn Positionen vertreten werden, die die Demokratie bedrohen, die die Rechte von ganz vielen Menschen einschränken will oder gar ganz abschaffen will.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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