Was ist Freiheit?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Stefanie
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Sa 9. Dez 2017, 14:11

Zu dieser Frage gibt es etliche Antworten, Ansichten und Theorien, wie der negative und der positive Freiheitsbegriff. Handlungsfreiheit, Willensfreiheit, Meinungsfreiheit.
Mit der Freiheit scheint es ähnlich zu sein wie mit der Menschenwürde, denn was Freiheit ist, lässt sich oft nur negativ definieren, nämlich dann, wenn man sie nicht mehr hat, wenn sie weggenommen, unterdrückt oder ungerecht verteilt wird. Ist Freiheit, all das tun zu können, was man möchte oder gar will? Was ist mit der Freiheit anderer?

Mir kam der Gedanke, die Frage „Was ist Freiheit“ mal anders anzugehen.
Auslöser war ein Kapitel in dem Buch von Axel Hacke und Giovanni di Lorenzo „Wofür stehst Du?“ Kiwi Taschenbuch 1. Auflage 2012, ab Seite 212.

Hier beziehen sich die Autoren auf eine Rede von David Foster Wallace „Was ist Wasser“ aus dem Jahr 2005 vor dem Kenyon College.
Wallace* beginnt mit folgender Geschichte:
„„Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und fragt: >Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?< Und die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen , bis der eine schließlich zum anderen rüber sieht und sagt: >Was zur Hölle ist Wasser?< „
Was ist Wasser?
Wallace erklärt dies wie folgt:
„Wasser, das sind die Standardeinstellungen, default settings, unseres Lebens und unseres Empfindens. Das ist der Glaube: Ich bin die Mitte der Welt. Alles Geschehene dreht sich um mich und meine Ziele. Er führt mehrere Beispiele an, wie kein Gedanke daran, dass die Alten eben alt sind, die Kinder eben Kinder und die Grüblerinnen jedes Recht auf Grübeln haben.
Kein Gedanke, kein Gedanke – nur: ich, ich, ich.“

Wir leben nach Wallace in Standardeinstellungen, das ist die Art, wie wir die Welt heute quasi automatisch sehen und erleben, ohne weiter nach zu denken. Wir leben in einer Welt der Leistung, der erwünschten Leistungsbereitschaft, des Gewinnen wollens, in vielen Bereichen, wir sollen Funktionieren. Wallace wollte damit sagen, so Hacke und di Lorenzo, dass Freiheit auch bedeuten kann, sich für etwas anderes als die Standardeinstellungen zu entscheiden, sich für etwas anderes zu entscheiden, als sich selbst als Lebensmittelpunkt zu sehen.
Wallace drückt dies so aus:
„Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Bewusstheit und Disziplin und Bemühen und die Fähigkeit, sich anderen Menschen wahrhaftig zu zu wenden und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, jeden Tag, auf Myriaden von Arten, die trivial, klein und unsexy sind.
Das ist wirkliche Freiheit…ein Bewusstsein für das, was so wirklich und wesentlich ist, so unsichtbar, dass wir es uns wieder und wieder ins Gedächtnis rufen müssen: Das ist Wasser“.


*Es war mir nicht möglich, die Rede von Wallace in einer kompletten deutschen Übersetzung im Internetzu finden. Es gibt sie im Original im Netz, leider reicht mein Englisch dazu nicht aus. Die Übersetzungen einiger Passagen, die ich fand, sind zum Teil im Satzbau unterschiedlich.



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Stefanie
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Sa 9. Dez 2017, 14:13

Als ich das gelesen hatte, erinnerte es mich an etwas, was ich bei Levinas gelesen habe.

Die Essenz von Levinas Ansicht ist die, dass Freiheit nur in der Verantwortung für den Anderen existiert. Nur in der Begegnung mit dem Anderen und die Verantwortung für den Anderen ist für das Subjekt Freiheit möglich.
Dies leitet er wie folgt her:
Für Levinas gibt es zwei Freiheiten, die erste Freiheit und die zweite Freiheit. Die erste Freiheit besteht in der Setzung des Ich selber. Ich werde „Ich“. Dies bedeutet gleichzeitig die Abgrenzung von anderen Subjekten, bzw. die anderen Subjekte werden ausgegrenzt und verdrängt, in dem das Subjekt sich seinen Platz in der Welt nimmt und diesen Platz – Levinas nennt dies den Platz an der Sonne- behauptet. Das bewirkt eine Selbstgenügsamkeit des Ichs, und damit eine Einsamkeit des Ichs. (Verweis zu Wallace, „nur ich, ich ich.) Um daraus befreit zu werden, braucht es den Anderen, das sich einlassen auf den Anderen, das Verantwortung übernehmen für den Anderen. Nur so sei für das Subjekt Freiheit möglich. (Siehe dazu auch das Antlitz des Anderen).
Levinas nennt als Beispiel das Verzeihen (Arendt lässt grüßen).Im Verzeihen befreit der Andere das Subjekt von der Last des unabänderlichen Geschehens, und erlaubt dem Subjekt, neu anzufangen, ohne wieder in die Selbstgenügsamkeit des Ichs leben zu müssen.
Wobei Levinas dann wieder beim Anfangen können als Freiheit ist; nämlich die es dem Subjekt gestattet, die Kette von Ursachen und Wirkungen zu durchbrechen und Handlungen immer wieder von selbst anfangen zu können.

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Stefanie
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Mo 22. Jan 2018, 20:54

Ein weiterer Gedanke zur Freiheit:

Imre Kertesz in "Der Betrachter", Taschenbuch Seite 109.
"Schließlich ist doch die Freiheit, die konkrete, geistige und persönliche Freiheit, der einzige sich aus dem Lauf meines Lebens entfaltene, wahre, unerschütterliche Wert, für den ich stets alles auf Spiel gesetzt habe und der mich, sei es auch gegen meine Daseinsinteressen, geleitet hat. Mein Freiheitsdrang erwies sich oft stärker als die Realität - die sogenannte Realität -, und dass er schließlich die Oberhand gewann, ist teils glücklichen Umständen, in nicht geringerem Maß jedoch dem Wesen der Realität zuzuschreiben: Energien wie der Freiheitsdrang gehören nicht weniger zu den Realien als die ihm gegenüberstehende Wirklichkeit selbst."



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Jörn Budesheim
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Di 23. Jan 2018, 13:18

Stefanie hat geschrieben :
Sa 9. Dez 2017, 14:11
„„Schwimmen zwei junge Fische daher und treffen auf einen älteren Fisch, der in die andere Richtung schwimmt, ihnen zunickt und fragt: >Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?< Und die beiden jungen Fische schwimmen noch ein bisschen , bis der eine schließlich zum anderen rüber sieht und sagt: >Was zur Hölle ist Wasser?<
Dazu hab ich mal ein Bild gemalt mit einem Fliegenfisch :-) Der Text darauf lautet: "Das letzte, was der Fisch bemerkt, ist das Wasser" (Quaisar Mahmood)

Bild




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Stefanie
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Di 23. Jan 2018, 20:16

Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es feinen Unterschied zwischen den Fischen bei Wallace und seiner Schlussfolgerung und dem Fliegenfisch mit dem anderem Zitat gibt.

Nur beschreiben kann ich es noch nicht.



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Jörn Budesheim
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Di 23. Jan 2018, 20:21

Der Fliegenfisch weiß sowieso, was Wasser ist :-) das ist schon mal ein Unterschied.




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Alethos
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Mi 24. Jan 2018, 19:56

Finde noch keinen Zugang zu Levinas These der Freiheit durch Verantwortung.

Verantwortung zu übernehmen für den Anderen hat doch auch mit einer verbindlichen Zusage an ihn zu tun, ihm beizustehen und dazusein, in einem engen Sinne also auch mit einer Verpflichtung. Nun kann man sich zwar auch freiwillig verpflichten, aber nicht mehr einfach zurückgehen hinter diese Linie des Füreinanders?



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Mi 24. Jan 2018, 21:46

Alethos, zu Levinas antworte ich später, also nicht mehr heute.

Erstmal zu dem Fliegenfisch.
Die Fische bei Wallace sind quasi blind, selbst verschuldet. Sie nehmen sich nach Wallace selbst die Freiheit.
Der arme Fliegenfisch bemerkt als letztes das Wasser. Vorher hat er was anderes bemerkt, das was in dem Bild über ihm ist. Das interpretiere ich als vieles Etwas, was da nicht hingehört, weswegen er das Wasser vor lauter zu viel Algen und Müll nicht sehen kann. Ihm wird die Freiheit genommen, seine Lebensumwelt wird im genommen. So.



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Fr 26. Jan 2018, 20:15

Rosita hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 21:58
Was sagt das über Menschen aus, die die Religion in die sie zufällig hineingeboren wurden , als die einzig richtige halten.
Ist das nicht genau die selbe Frage wie die nach dem Wasser, welches die Fische als letztes sehen? Das Alltägliche, das Gewöhnliche (woran man also gewöhnt ist) ist immer auch zugleich das unsichtbarste. Die Muster in die wir zufällig hineingeboren werden, sehen wir oft gar nicht.




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Sa 27. Jan 2018, 07:07

Es gibt ja auch den berühmten Topos, dass Künstler versuchen, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Und das geschieht oft mit den Mitteln der Verfremdung. Verfremdung heißt, dass man das Gewöhnliche so darstellt, dass es plötzlich fremd erscheint. Dann wird das Wasser für jeden Fisch sichtbar. Das heißt, man kann dann zu den Dingen, die einen gegebenenfalls bestimmen, Stellung nehmen. Und das ist ein Gewinn an Freiheit.




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So 28. Jan 2018, 21:07

Ist unser Wasser das WWW?




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So 28. Jan 2018, 22:27

Vielleicht eher Bewusstsein.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Mo 29. Jan 2018, 05:21

Tosa Inu hat geschrieben :
So 28. Jan 2018, 22:27
Vielleicht eher Bewusstsein.
Das war vielleicht etwas knapp, was ich da geschrieben habe. Das WWW ist unser Medium und wir machen uns praktisch nie zum Thema ... ist für uns unsichtbar?




Tosa Inu
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Mo 29. Jan 2018, 09:34

Philosophie schließt ja in gewisser Weise aus, dass wir uns zum Thema machen, weil das dort unter Fehlschluss laufen würde.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Mo 29. Jan 2018, 16:39

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 09:34
Philosophie schließt ja in gewisser Weise aus, dass wir uns zum Thema machen, weil das dort unter Fehlschluss laufen würde.
Das verstehe ich nicht. Warum sollten wir uns nicht zum Thema machen? Das läuft meines Erachtens unter Selbstreflexion und nicht unter Fehlschluss :-)




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Mo 29. Jan 2018, 17:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Jan 2018, 16:39
Das verstehe ich nicht. Warum sollten wir uns nicht zum Thema machen? Das läuft meines Erachtens unter Selbstreflexion und nicht unter Fehlschluss :-)
Aber ist die Selbstreflexion denn ein Thema der Philosophie? Heute noch? Das läuft doch eher unter biographischer oder psychologischer Arbeit, wird der Kreis größer gezogen, ist es Soziologie.

Philosophisch ist man doch trainiert, auf das Argument zu schaunen und den objektivsten und allgemeinsten Radius zu ziehen. "Das klingt nach Neid" oder so etwas, kann man ja kaum sagen, was ja irgendwie auch gut ist, weil es die reinen ad hominems eindämmt.



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?




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Welche größere philosophische Selbstrefelxion ist in den letzten 100 Jahren erschienen?



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Mo 29. Jan 2018, 18:03

Nachdenken über das Nachdenken ist in der Philosophie so an der Tagesordnung, dass ich nicht weiß, was du meinst. Und auch die Frage, was Philosophie überhaupt ist, ist der Philosophie nicht unbekannt. Aber was hat das alles mit dem WWW zu tun?




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Nichts, aber dass das www unser Wasser ist, gaube ich nicht.
Um ins www zu kommen müssen wir ja immer noch etwas tun.
Bewusstsein ist unser Wasser, glaube ich. Wir sind Bewusstsein, das sich viel mehr mit seinem Bewusstsein identifiziert, als mit seinem Körper.



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