Ist die Menschheit eine Gerechtigkeitsgemeinschaft?

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Dia_Logos
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Sa 17. Feb 2018, 07:26

Otfried Höffe in GERECHTIGKEIT hat geschrieben :
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Wegen der kulturen- und epochenübergreifenden, interkulturell anerkannten Gerechtigkeit läßt sich die gesamte Menschheit als eine Gerechtigkeitsgemeinschaft ansprechen. Das den Menschen Gemeinsame setzt beim Gleichheitsgebot an: „Gleiche Fälle sind gleich zu behandeln“. Sowohl in seiner negativen Gestalt, als Willkürverbot, als auch in seiner positiven Gestalt, als Gebot der Unparteilichkeit, fordert es, Streitfälle ohne Ansehen der Person zu schlichten. In diesem Sinn stellt die bildende Kunst die elementare Gerechtigkeit, die Göttin Justitia, mit einer Augenbinde dar. Ob Frau oder Mann, reich oder arm, mächtig oder schwach – nach der Unparteilichkeit erster Stufe, der der Regelanwendung, wird jeder nach der entsprechenden Regel gleich behandelt: Alle sind vor dem Gesetze gleich.

Für die weitere Aufgabe, jedem das ihm Gebührende genau zuzumessen, hält die Justitia häufig eine Waage in der Hand. Und das Schwert symbolisiert ihre doppelte Aufgabe, sowohl zu schützen als auch zu strafen. Diese Unparteilichkeit erster Stufe, die der Regelanwendung, genügt allerdings nicht. Sie ist vielmehr um eine Unparteilichkeit zweiter Stufe zu ergänzen, um die der Regelfestsetzung. Dabei ist nicht für alle Lebensbereiche eine einzige Regel zu erwarten. Bei den Grund- und Menschenrechten zählt die Gleichheit: „Jedem nach seinem Wert als Mensch überhaupt“.

Für die elementare Existenzsicherung drängt sich der Bedürfnisaspekt auf: „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. In der Arbeits- und Berufswelt kommt es auf das Leistungsprinzip an und in Strafverfahren auf die Schwere der Rechtsverletzung, verbunden mit dem Maß an subjektiver Schuld.

Interkulturell anerkannt sind auch Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit, ferner der Gedanke der Wechselseitigkeit oder Reziprozität, verbunden mit der Goldenen Regel („Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu“) und mit jener Gleichwertigkeit im Nehmen und Geben („Tauschgerechtigkeit“), die keineswegs nur für Wirtschaftsbeziehungen gilt. Ebenfalls zum gemeinsamen Gerechtigkeitserbe gehört der Gedanke einer ausgleichenden („korrektiven“) Gerechtigkeit. Im Zivilrecht verlangt er den Ausgleich für erlittene Schäden und im Strafrecht den für ein verschuldetes Unrecht. Ferner werden so gut wie allerorten dieselben Grundrechtsgüter geschützt. Überall werden Mord, Diebstahl und Raub sowie Beleidigungen, ferner Maß-, Gewichts- und UrkunUrkundenfälschungen, nicht zuletzt elementare Umweltverstöße, früher beispielsweise Brunnenvergiftungen, geahndet.

Einigkeit herrscht schließlich über das Gebot, nur Schuldige zu bestrafen, und das Anschlußgebot, leichtere Verstöße gegen das Strafrecht leichter, schwerere Verstöße schwerer zu bestrafen. Die Gemeinsamkeiten sind also eindrucksvoll groß, so daß die globale Zivilisation, die sich heute entwickelt, ihre interkulturellen Rechtsdiskurse am Begriff der Gerechtigkeit ausrichten kann. Andere Leitziele hat die Menschheit im Zuge der Aufklärung oder wegen ernüchternder Erfahrungen aufgegeben. Der Gerechtigkeit beläßt sie dagegen das überragende Gewicht bis heute.

Selbst einer der schärfsten Kritiker der abendländischen Moral, Friedrich Nietzsche (1844–1900), spendet ihr ein Lob, das kaum größer ausfallen könnte: „wenn sich selbst unter dem Ansturm persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mild blickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden“ (Zur Genealogie der Moral, 2. Abhandlung, Nr. 11).

Quelle: Otfried Höffe GERECHTIGKEIT, Eine philosophische Einführung, Verlag C.H.Beck
Was ist Gerechtigkeit? Ist die gesamte Menschheit tatsächlich eine Gerechtigkeitsgemeinschaft?




Tosa Inu
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Sa 17. Feb 2018, 20:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Feb 2018, 07:26
Was ist Gerechtigkeit? Ist die gesamte Menschheit tatsächlich eine Gerechtigkeitsgemeinschaft?
Ich glaube, ja.
Zwar ist die Welt oft nicht gerecht, aber wir empfinden, dass es so ist.
Allerdings ist das Gerechtigkeitsempfinden etwas, was sich entwickelt.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Alethos
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So 18. Feb 2018, 11:31

Die Fragen zur Gerechtigkeit sind wohl so alt wie die Menschheit selbst, jedenfalls sicherlich so alt wie die Philosophie. Sie zählte bei den Altgriechen als δικαιοσύνη (dikaiosüne) zu den Kardinaltugenden
und hat sich über die früh- und spätmittelalterliche Tradition in die Rechtsdiskurse der Neuzeit und der modernen Zeit hinübergerettet und weiterentwickelt.

Aber was Gerechtigkeit sei, das hat doch kein Philosoph, ob Rechts- oder Moralphilosoph, je darlegen können. Insbesondere fehlen Antworten auf die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit im Allgemeinen und Angemessenheit im Besonderen aufgelöst werden kann.


Ein Gesellschaft besteht ja aus einer Vielzahl verschiedener Individuen mit je besonderen Lebensumständen. Jede Situation ist für sich genommen, d.h. aus des Optik des Einzefalls, eine besondere, so dass man sagen kann, die Umstände, die zu ihr geführt haben, seien ebenso besondere.
Als gerecht empfinden wir aber in aller Regel, dass ein Wertmassstab gradlinig angewendet werde, ungeachtet aller Besonderheiten. Nun wird aber als ebenso ungerecht empfunden, wenn der Einzelfall nicht gewürdigt wird, so dass in jedem Fall eine Güterabwägung gefordert wird zwischen dem Gleichheitsgrundsatz (Gleiches gleich behandeln) und dem Grundsatz der Angemessenheit (Würdigung der Ungleichheit unter Rücksichtnahme auf das Besondere des Einzelfalls).

Die Frage, ob die Menschheit eine Gerechtigkeitsgemeindchaft ist, lässt sich demnach nicht beantworten, weil die Frage, was Gerechtigkeit ist, keine Frage der Gemeinschaft ist, sondern eine Frage des individuellen Empfindens. Es gibt ja keine Institution, die empfinden kann, ob etwas gerecht ist oder nicht, es gibt auch keinen zu uns sprechenden Gott, der entscheiden würde, was gerecht ist und was nicht. Auch die Statue Justitia schweigt.
So bleibt es immer Sache des Ermessens, des richterlichen oder des eigenen, ob etwas als gerecht oder ungerecht zu gelten habe. Gerechtigkeit ist keine Frage der Politik, sondern Politik ist eine Frage von Interessen.

Gerechtigkeit ist aber ein Ideal, das in Gesellschaften als Korrektiv wirkt. Aber es lässt sich gesellschaftlich nur anstreben als Bestrebungen der Einzelnen. Sie lässt sich als Ideal gesellschaftlich auch nie verwirklichen, insofern sie nicht demokratisch hergestellt werden kann. Nicht die Mehrheit kann entscheiden, was gerecht ist, sondern nur die einzelnen Bürger in gegenseitiger Übereinstimmung im Einzelfall. Das, was gerecht ist, ist slso eine situative Absprache zwischen Einzelnen und nie eine Sache des Ganzen, weil das Ganze das Einzelne nie in umfassender und daher in angemessener Weise würdigen kann. Aber wo es keine Angemesseheit immer geben kann, kann es auch keine Gerechtigkeit immer geben.

Das ist zugegeben eine pessimistische Position in Bezug auf Gesellschaftsgerechtigkeit.



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Jörn Budesheim
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Ich vermute, bin aber natürlich nicht sicher, dass der Autor unter GerechtigkeitsGemeinschaft versteht, dass es die Idee der Gerechtigkeit überall auf der Welt gibt und nicht etwa nur hier, aber da nicht. Die Idee der Gerechtigkeit ist universell, und nicht partikular. Allerdings ist es offensichtlich so dass ihre Ausprägungen verschieden sind. Was unter Gerechtigkeit im Einzelfall verstanden wird, wie sie umgesetzt wird, ist bisher keineswegs universell. Hier ist Universalität eher ein Ziel, eine regulative Idee, ein unabschließbarer Weg.

Dass das Gerechtigkeitsempfinden etwas Individuelles ist, scheint mir eine analytische Wahrheit zu sein. Dass Gerechtigkeit hingegen etwas Individuelles ist, scheint mir eine contradictio in adjecto zu sein.




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Jörn Budesheim
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Alethos hat geschrieben :
So 18. Feb 2018, 11:31
Ein Gesellschaft besteht ja aus einer Vielzahl verschiedener Individuen mit je besonderen Lebensumständen. Jede Situation ist für sich genommen, d.h. aus des Optik des Einzefalls, eine besondere, so dass man sagen kann, die Umstände, die zu ihr geführt haben, seien ebenso besondere.
Als gerecht empfinden wir aber in aller Regel, dass ein Wertmassstab gradlinig angewendet werde, ungeachtet aller Besonderheiten. Nun wird aber als ebenso ungerecht empfunden, wenn der Einzelfall nicht gewürdigt wird, so dass in jedem Fall eine Güterabwägung gefordert wird zwischen dem Gleichheitsgrundsatz (Gleiches gleich behandeln) und dem Grundsatz der Angemessenheit (Würdigung der Ungleichheit unter Rücksichtnahme auf das Besondere des Einzelfalls).
Gerecht urteilen zu können, will gelernt sein. Vielleicht (auch) eine Frage des Talents, des Wissens und der Erfahrung... Wir sprechen z.b. von salomonischen Urteilen. Das heißt, wir wissen dass die Fähigkeit gerecht zu urteilen durchaus ungleich (man möchte fast sagen ungerecht) verteilt ist. Manchen gelingt die Vermittlung zwischen Einzelfall und Allgemeinen besser, anderen schlechter. Wenn jedoch gerecht Urteilen eine sehr geschätzte Fähigkeit ist, dann kann es nicht sein, dass Gerechtigkeit nach allgemeiner Ansicht einfach bloß etwas Individuelles ist.

Es scheint hier eine interessante Asymmetrie zu geben. Es scheint oft leichter zu sein, ein gerechtes Urteil zu erkennen, als es selbst zu fällen. Das heißt, das Gerechtigkeitsempfinden schlägt sich nicht automatisch in eigenen gerechten Urteilen nieder




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Jörn Budesheim
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Di 20. Feb 2018, 05:27





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Jörn Budesheim
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So 6. Mai 2018, 10:37

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 5. Mai 2018, 10:57
@ Jörn:

Was mich aber noch interessiert: Was ist denn Gerechtigkeit Deiner Meinung nach?
Aus meiner Erfahrung mit drei Kindern und sechs Enkeln weiß ich, dass bereits Kinder spätestens ab dem Kindergartenalter einen Begriff von Gerechtigkeit haben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir es hier mit einem der vielen undefinierbaren Grundbegriffe zu tun haben. Kinder finden es eine Ungerechtigkeit, wenn sie weniger (von den Gummibärchen) bekommen als andere oder schlechter behandelt werden. Jeder soll bekommen, was ihm zukommt. Die Frage wäre, ob man diese vorläufige "Definition" verstehen kann, ohne bereits einen Begriff von Gerechtigkeit zu haben?! Oder ist es umgekehrt? Man versteht die Definition, weil man einen Begriff von Gerechtigkeit bereits hat?!

Die Frage schließt im Grunde unmittelbar an den Thread "das objektive Selbst" an.




Tosa Inu
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Ich hatte das ja im Kontext der inzwischen wohl irgendwie beigelegten Diskussion um flechtlicht gefragt.
Da schien es mir so zu sein, als ob Du eine rechte genau Vorstellung von Gerechtigkeit hast.
Ich glaube, dass alle dort sehr kurz angerissenen Weltbilder den Anspruch haben, gerecht sein zu wollen.
Gerade der Karmagedanke ist ja am besten vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Gerechtigkeit nie ruht und der Ausgleich, der nicht notwendig als Strafe interpretiert werden muss, eben in einer folgenden Inkarnation stattfinden kann.

Auch in unserem religiösen Weltbild, kann (oder will) man sich Gott einfach nicht als ungerecht vorstellen. Daher ist die Theodizeediskussion ja so brisant.

Möglicherweise ist es aber auch so, dass man keine positive Defintion für Gerechtigkeit parat hat, wohl aber ein Empfinden für Ungerechtigkeit.
Ich vermute mal, dass auch hier ein angeborenes Empfinden kulturell überformt wird. Allerdings kann uns das nicht genügen, ich sehe da eine gewisse Verwandtschaft zum gesunden Menschenverstand, von dem es ja auch heißt, dass jeder über ihn verfügt, aber wenn man ihn dann in Aktion erlebt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er etwas ungleich verteilt ist.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Do 18. Apr 2019, 05:00

bpb > 7.2.2014 > Subtile Erscheinungsformen von Sexismus > http://m.bpb.de/apuz/178674/subtile-ers ... n-sexismus




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Stefanie
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Di 21. Mai 2019, 20:35

Zum Thema subtile Erscheinungsformen des Sexismus...oder eher die Methode direkt und unverblümt?

https://www.welt.de/sport/article193903 ... anien.html



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Mi 22. Mai 2019, 05:37

Krass.




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Stefanie
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Do 27. Jun 2019, 19:42

Die unangenehme Wahrheit sozialer Ungerechtigkeit
Männlich, weiß, heterosexuell, gut verdienende Eltern: Privilegien werden einem in die Wiege gelegt. Erfolg hingegen gilt als Folge individueller Leistungen. Wie lässt sich der Blick für Privilegien schärfen? Und was folgt daraus?

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ps ... _id=452441



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