Das Milgram Experiment Exkurs zu Das Böse

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Jörn Budesheim
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Mi 6. Nov 2019, 16:39

Man muss meines Erachtens unterscheiden zwischen dem, was man für wahr, gut und schön hält und was objektiv wahr, gut und schön ist. Das sollte man nicht vermischen. Und nur eine "transzendentes" Wesen, also z.b. der Gott der Philosophen weiß alles! Und heute vielleicht auch noch Google :-)

Du schreibst: "Ethik & Moral sind keine natürlichen Eigenschaften, sondern Schöpfungen des Menschen." Dem ersten Teil des Satzes stimmte ich (bedingt) zu. Bedingt, weil vielleicht auch andere Primaten manche basale ethische Gebote erkennen, man siehe oben das Beispiel mit den Affen. (Hier wäre zu fragen, ob es reicht, die "Ungerechtigkeit" zu fühlen oder ob man einen etwas reflektierteren Begriff davon braucht.) Die Ethik (natürlich nicht als philophische Disziplin) ist jedoch nach meiner Ansicht keine Schöpfung des Menschen. Bei Geld könnte man von einer Schöpfung sprechen, aber es kann Menschen auch ohne Geld geben. Wo es Menschen gibt, da ist auch Ethik im Spiel, das ist nichts, was erst später noch hinzu kommen kann. Denn das betrifft die Beziehungen der Menschen und ihr Sosein und das kann nicht erst später kommen.

Das, was Menschen für ethisch geboten halten und mit welchen ethischen Fragen sie sich beschäftigen müssen, das ist natürlich historisch veränderlich. Dass wir uns über selbstfahrende Autos Gedanken machen müssen, aber Steinzeitmenschen nicht, das liegt auf der Hand :-)




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Jörn Budesheim
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Mi 6. Nov 2019, 19:30

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mi 6. Nov 2019, 14:33
Wie zu sehen, ist es noch so, dass die Priorität auf die Ökonomie und nicht auf den Mensch bezogen ist; das lässt den Menschen als Anhängsel der Wirtschaft, als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck erscheinen. Das halte ich ich für würdelos, besonders in einem solchen reichen Land wie D.
Es gibt m.e. einen noch zu großen Unterschied zwischen einer sauber formulierten Ethik und der gesellschaftlichen Realität.
Vieles, was du in diesem Beitrag sagst, würde ich auch unterschreiben. Was mir noch fehlt, ist der Aspekt der "Freizügigkeit" (Oops, mir fehlt gerade die richtige Vokabel/wie heißt es richtig?). Mittelfristig müsse jeder von uns ein Weltbürger sein und dort leben können, wo er will. Außerdem müsste es unbedingt Welt-Gesetze gebe. Zur Würde gehört natürlich auch, dass die Grundbedürfnisse der Menschen erfüllt sind - und das muss natürlich weltweit der Fall sein.




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Friederike
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Do 7. Nov 2019, 15:58

Tangens Alpha hat geschrieben :
Di 5. Nov 2019, 02:06
Aus dieser sozialen Notwendigkeit hat sich dann eine vor allem religiös motivierte Ethik, aber auch zB handwerkliche Berufsethiken entwickelt.
Nur theoretisch: Ist es denkbar, daß Menschen ihr Zusammenleben ohne Moral organisieren? Der sozialen Notwendigkeit könnte man ja auch nachkommen, indem man Regeln erstellt - ähnlich der Regelung des Straßenverkehrs.

Ich meine, es ist nicht möglich, weil die Verständigung über ein solches Regelwerk am Ende, d.h. bei jeder Begründung, immer auf ein "gut" oder "schlecht" hinausläuft. Selbst diejenigen, die ein Regelwerk für überflüssig erachten und also gar keins erstellen wollen, müßten in ihrem ablehnenden Plädoyer sagen, warum sie es für besser befänden, das soziale Zusammenleben nicht durch Regeln zu organisieren. In welcher Hinsicht oder in welchen Hinsichten dieses Verfahren "gut" ist. Der Eck- und Endpunkt ist, soweit ich es durchgespielt habe, immer das moralische "gut" oder "schlecht".

Oder???




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Jörn Budesheim
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Do 7. Nov 2019, 18:13

Das sehe ich so ähnlich. Mit einem Regelwerk können wir die Ethik sowieso nicht starten, weil Regelwerke Ethik bereits voraussetzen, schließlich müssen die Regeln auch eingehalten werden! Dass man sich an das, was vereinbart ist, gebunden fühlt, liegt den Regeln bereits voraus.




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Tangens Alpha
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Do 7. Nov 2019, 19:17

Friederike hat geschrieben :
Do 7. Nov 2019, 15:58
Nur theoretisch: Ist es denkbar, daß Menschen ihr Zusammenleben ohne Moral organisieren? Der sozialen Notwendigkeit könnte man ja auch nachkommen, indem man Regeln erstellt - ähnlich der Regelung des Straßenverkehrs.
Ich meine, es ist nicht möglich, weil die Verständigung über ein solches Regelwerk am Ende, d.h. bei jeder Begründung, immer auf ein "gut" oder "schlecht" hinausläuft. Selbst diejenigen, die ein Regelwerk für überflüssig erachten und also gar keins erstellen wollen, müßten in ihrem ablehnenden Plädoyer sagen, warum sie es für besser befänden, das soziale Zusammenleben nicht durch Regeln zu organisieren. In welcher Hinsicht oder in welchen Hinsichten dieses Verfahren "gut" ist. Der Eck- und Endpunkt ist, soweit ich es durchgespielt habe, immer das moralische "gut" oder "schlecht".. Oder???
Hallo Friederike. Ich glaube, du benutzt jetzt zwei verschiedene Bedeutungen von "gut": eine Begründung muss nicht unbedingt auf das ethische "gut" hinauslaufen, sondern auf ein "gut" in Sinne von "effizient". Außerdem muss ein Gesetz ja nicht nur effizient sein, sondern auch "wasserdicht", sollte also keine Lücken enthalten für windige Advokaten.

Weil Ethik eben nicht natur- oder gottgegeben, sondern eine aus der Notwendigkeit heraus entwickelte Konstruktion ist, kann man sie sich aneignen oder nicht; das ist dann wieder eine Frage der Sozialisation: entweder man die ethischen Imperative verinnerlicht und handelt danach oder nicht. Es ist mehr oder weniger "freiwillig".

Die Ethik hat sich aber mittlerweile so weit entwickelt und verfeinert, dass sie als ein Hauptkriterium zur Unterscheidung Mensch / Tier angewendet wird. Menschen, die großen Wert darauf legen, sich klar & deutlich vom Tier abzuheben, brauchen dann die Ethik/Moral oder den freien Willen oder das Bewusstsein dafür, obwohl ich persönlich davon überzeugt bin, das manches tierische Verhalten schon Elemente dieser Eigenschaften zeigen; die Fürsorge & der Zusammenhalt einer Elefantensippe beschämt jede menschliche Sippe.

Ich denke, das ist dann eine Frage der Empfindsamkeit, der Empathie, die Tiere mit Sicherheit haben und das, kombiniert mit biologisch programmierter Arterhaltung, ergibt im Resultat ein erstaunlich ethisches Verhalten einiger Tiere.

Noch ein Wort zur Begründung: ich habe irgendwo gelesen, "die Wahrheit ist wahr, weil sie wahr ist." o.ä. Das ist aus logischer Sicht eine Tautologie: der Wahrheitswert einer Aussage A, die durch A begründet wird ist = Null, weil Begründungen einer anderen Wortgattung entnommen werden müssen (soweit ich mich erinnere). Es ist m.e. mehr ein Glaubenssatz, den man annehmen kann, aber nicht zwingend muss, weil er wahr wäre.



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Jörn Budesheim
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Do 7. Nov 2019, 20:02

Tangens Alpha hat geschrieben :
Do 7. Nov 2019, 19:17
Außerdem muss ein Gesetz ja nicht nur effizient sein, sondern auch "wasserdicht", sollte also keine Lücken enthalten für windige Advokaten.
Warum?




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Jörn Budesheim
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Do 7. Nov 2019, 21:11

Ich verstehe Friederikes Einwand so: wenn wir uns fragen, warum es in dem Experiment falsch ist, die Stromstöße zu verabreichen, kommen wir zu keiner ausreichenden Erklärung, wenn wir uns nur auf Regeln beziehen. Denn man wird fragen können, warum diese Regeln und keine anderen? Sind es denn die richtigen Regeln?

Der Einwand von Friederike läuft meines Erachtens darauf hinaus, dass man nicht von außen in die Ethik hinein kommt. Nichtbiologische Wesen, die keine Schmerzen empfinden, wüssten sicher gar nicht, wovon wir dort überhaupt reden. Man muss vermutlich ein körperlich/geistiges Wesen, so wie wir sein, um zu verstehen, dass wir immer einen Grund haben, Schmerzen zu vermeiden. Und Gründe sind bereits etwas normatives, wir kommen aus dem Bereich des normativen einfach nicht heraus, ohne das Phänomen (Ethik) zu verlieren.




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Fr 8. Nov 2019, 13:20

Tangens Alpha hat geschrieben :
Do 7. Nov 2019, 19:17
Hallo Friederike. Ich glaube, du benutzt jetzt zwei verschiedene Bedeutungen von "gut": eine Begründung muss nicht unbedingt auf das ethische "gut" hinauslaufen, sondern auf ein "gut" in Sinne von "effizient". Außerdem muss ein Gesetz ja nicht nur effizient sein, sondern auch "wasserdicht", sollte also keine Lücken enthalten für windige Advokaten.
Nee, :lol: - also ich hatte es mir so überlegt, daß man, ich nehme Dein Beispiel, eine angestrebte Regelung zwar damit begründen kann, sie sei in einer bestimmten Hinsicht effizienter als eine andere Regelung, nur könnte die andere "Gesprächsseite" dann einwenden und entgegnen, warum die in einer bestimmten Hinsicht effizientere Regelung denn besser sei. Worauf man eigentlich nur antworten kann "weil das gut ist". Warum ist die effizientere Regelung der weniger Effizienz erbringenden Regelung vorzuziehen? Weil "Effizienz gut ist". Das wäre das Ende der Begründungsmöglichkeiten, und dieses "gut" ist doch ein moralisches "gut"? En bißchen komme ich ins Schwanken, ob es wirklich ein moralisches "gut" ist ... aber ich bleibe zunächst dabei.




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Fr 8. Nov 2019, 13:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 7. Nov 2019, 21:11
Der Einwand von Friederike läuft meines Erachtens darauf hinaus, dass man nicht von außen in die Ethik hinein kommt. Nichtbiologische Wesen, die keine Schmerzen empfinden, wüssten sicher gar nicht, wovon wir dort überhaupt reden. Man muss vermutlich ein körperlich/geistiges Wesen, so wie wir sein, um zu verstehen, dass wir immer einen Grund haben, Schmerzen zu vermeiden. Und Gründe sind bereits etwas normatives, wir kommen aus dem Bereich des normativen einfach nicht heraus, ohne das Phänomen (Ethik) zu verlieren.
Ich bin unschlüssig @Jörn, ob das, was Du normativ nennst, meinen Gedanken trifft. Jaschon, aber normativ ist weiter gefaßt als "gut"/"schlecht".




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Tangens Alpha
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Fr 8. Nov 2019, 14:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 7. Nov 2019, 21:11
Ich verstehe Friederikes Einwand so: wenn wir uns fragen, warum es in dem Experiment falsch ist, die Stromstöße zu verabreichen, kommen wir zu keiner ausreichenden Erklärung, wenn wir uns nur auf Regeln beziehen. Denn man wird fragen können, warum diese Regeln und keine anderen? Sind es denn die richtigen Regeln?
Regeln sind ja kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um unerwünschtes Verhalten zu kontrollieren bzw. um das Recht auf körperliche Unversehrtheit durchzusetzen.
Unerwünschtes Verhalten wäre zum Beispiel die Person, die einer anderen Schmerzen zufügt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Dementsprechend könnte man den ethischen Grundsatz formulieren, dass jeder das Recht auf körperliche Unversehrtheit hat und zur Durchsetzung dafür folgende Regeln aufstellen:
1. Experimente an lebenden Personen, die diesen Schmerzen zufügen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sollten unterlassen werden.
2. Experimente an lebenden Personen, die diesen Schmerzen zufügen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sind verboten und werden mit bis zu...Freiheitsentzug bestraft..

Ist Regel 2 nicht besser, weil sie effizienter schützt?



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Tangens Alpha
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Fr 8. Nov 2019, 14:13

Friederike hat geschrieben :
Fr 8. Nov 2019, 13:20
Nee, :lol: - also ich hatte es mir so überlegt, daß man, ich nehme Dein Beispiel, eine angestrebte Regelung zwar damit begründen kann, sie sei in einer bestimmten Hinsicht effizienter als eine andere Regelung, nur könnte die andere "Gesprächsseite" dann einwenden und entgegnen, warum die in einer bestimmten Hinsicht effizientere Regelung denn besser sei. Worauf man eigentlich nur antworten kann "weil das gut ist". Warum ist die effizientere Regelung der weniger Effizienz erbringenden Regelung vorzuziehen? Weil "Effizienz gut ist". Das wäre das Ende der Begründungsmöglichkeiten, und dieses "gut" ist doch ein moralisches "gut"? En bißchen komme ich ins Schwanken, ob es wirklich ein moralisches "gut" ist ... aber ich bleibe zunächst dabei.
Ich denke, die Letztbegründung ist die Fürsorgepflicht, die eine körperliche Unversehrtheit garantiert - eine Schutzfunktion (s. meine Antwort auf Jörn). Aber ein bisschen komme ich jetzt auch ins Trudeln...



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Jörn Budesheim
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Fr 8. Nov 2019, 14:15

Mir wird ehrlich gesagt, zunehmend unklarer, wofür oder wogegen du eigentlich argumentierst :-) Zu Beginn schien es mir, dass du für eine Art "Materialismus"/Relativismus argumentiert hast, mit dem "Unterton", dass es so etwas wie moralische Tatsachen nicht gibt. Beim vor-vorhergehenden Beitrag weiß ich jedoch nicht mehr, was dein eigentlicher Fokus ist.

Meine (metaethische) Sicht ist, dass es moralische Tatsachen gibt, die universell gelten. Das ist mein Punkt. Das kann ich auch gerne gegen Einwände gerne verteidigen.




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Friederike
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Fr 8. Nov 2019, 16:46

Tangens Alpha hat geschrieben :
Fr 8. Nov 2019, 14:13
Ich denke, die Letztbegründung ist die Fürsorgepflicht, die eine körperliche Unversehrtheit garantiert - eine Schutzfunktion (s. meine Antwort auf Jörn). Aber ein bisschen komme ich jetzt auch ins Trudeln...
Tangens Alpha hat geschrieben : Regeln sind ja kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um unerwünschtes Verhalten zu kontrollieren bzw. um das Recht auf körperliche Unversehrtheit durchzusetzen.
Unerwünschtes Verhalten wäre zum Beispiel die Person, die einer anderen Schmerzen zufügt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Dementsprechend könnte man den ethischen Grundsatz formulieren, [...]
Hi T.A., Damit der Kontext deutlicher wird, habe ich aus Deiner Antwort an Jörn die kurze Passage noch dazu zitiert.

Die Ausgangsfrage war doch, ob es möglich/denkbar ist, das soziale Zusammenleben von Menschen ohne Rückgriff auf Moral oder Ethik (ich gebrauche die Begriffe hier synonym) zu organisieren. "Körperliche Unversehrtheit" als angestrebtes Ziel, "Fürsorgepflicht" als "Letztbegründung", das sind doch aber Eigenschaften und Ziele, die der Moral angehören?!




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Fr 8. Nov 2019, 17:46

Jetzt weiß ich @T.A., wie ich auf "gut" und "schlecht" gekommen bin. Weil ich grundsätzlich Deine Auffassung teile, daß moralische Werte sich aus sozio-kulturellen, auch ökonomischen Bedingungen entwickeln, wollte ich, um diesen Punkt gleich abhakend zu überspringen, darauf hinaus, daß die Zeit- und Kulturbedingheit von Moral nichts daran ändert, daß die Werte entweder unter "gut" oder "schlecht" einsortiert werden. Körperliche Unversehrtheit ist für uns, gegenwärtig, ein Menschenrecht, fällt also unter "gut". Im Mittelalter oder in der Antike, denke nur an die Körperstrafen (grauslich), war dies gar kein Wert.




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Fr 8. Nov 2019, 17:57

Dann habe ich dich anscheinend gründlich missverstanden.




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Fr 8. Nov 2019, 18:25

Tangens Alpha hat geschrieben :
Do 7. Nov 2019, 19:17
Noch ein Wort zur Begründung: ich habe irgendwo gelesen, "die Wahrheit ist wahr, weil sie wahr ist."
Vielleicht meinst du damit die sog. "Methode" der Zitat Tilgung? Hier ist ein Beispiel dafür: Der Satz "Schnee ist weiß" ist genau dann wahr, wenn Schnee weiß ist.




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Alethos
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Sa 9. Nov 2019, 11:49

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mi 6. Nov 2019, 15:43
Alethos hat geschrieben :
So 3. Nov 2019, 19:11
Natürlich gibt es zwischen den Artefakten des Paläolithikums und der damaligen Moralvorstellung einen engen Zusammenhang. Wer nämlich nichts weiter zu tun fähig ist, als Steine zu schärfen oder Nüsse zu knacken, der hat wohl auch nicht umfassende Einsichtsfähigkeit in die Möglichkeiten, die ihm die Wahrheit sonst bietet.
Es wäre nämlich schon damals wahr gewesen, dass ein handelsüblicher Nussknacker aus dem Kaufhaus wesentlicher effizienter ist. Und ebenso wäre ein Laser geschärftes Steakmesser bei weitem effektiver gewesen. Es war damals also schon wahr, dass man sich irrte, wenn man glaubte, dass der Stein das beste aller möglichen Werkzeuge war. So wie man sich irrte, als man dachte, dass es besser wäre, den Beutedieb zu erschlagen, als die Beute mit ihm zu teilen.
Hi Alethos (wenn ich das richtig übersetze, passt dein Name ja hervorragend zum Thema),
natürlich kommt es erstmal darauf an, was man unter Wahrheit versteht: Wahrheit ist das Ganze, das Umfassende, das Wirkliche. So sehe ich es.

Und die Wirklichkeit des Paläolithikers ist der tägliche Kampf ums Überleben, das ist seine Wahrheit: er hat nur Steine und Nüsse.

Du überträgst einen gegenwärtigen Wirklichkeits- oder Wahrheitsbegriff gewaltsam ins Paläolithikum und legst ihn (mehr oder weniger willkürlich?) als Zielpunkt oder -vorgabe fest, nach dem sich die Entwicklung zu richten hat und kleidest es als Möglichkeit! So verstehe ich dich.

Ich weiß nicht, ob man den Begriff "Möglichkeit" so weit - über mehrere Mio Jahren Entwicklung - dehnen kann; es kommt mir etwas arg überstrapaziert vor. Möglich ist nach meiner Auffassung nur das, was die gerade herrschenden Bedingungen real zu- und erwarten lassen.
Danke für deine Ausführungen. Sie bestärken meinen Eindruck, dass wir von einem ganz anderen Wahrheitsbegriff ausgehen:

Wenn du z.B. sagst, dass ich einen "heutigen Wahrheitsbegriff" auf damalige Umstände "übertrage", dass es die "Wirklichkeit des Paläolithikers" gebe, die sich so und so ausgestalte, dann wird der epistemologische Charakter von Wahrheit deutlich. Wahrheit ist nach dieser Konzeption ein sich dem Denken erschliessender 'Wirklichkeitsraum', der sich um den Erkenntnisfortschritt des Denkens, also mit dem Wissensumfang dieses Denkens, vergrössert.
Es kann dann sein, dass es eine 'Wahrheit des Paläolithikers' gibt und eine 'Wahrheit des modernen Menschen', im Grunde kann es dann aber auch meine Wahrheit geben und deine. Denn ist die Wahrheit gekoppelt an meinen Erkenntnisfortschritt und differiert dieser von deinem: So haben wir zwei Wahrheiten (meine und deine); sie wären dann wahr je relativ zu etwas (zu mir oder dir).

Aber man kann die Wahrheit auch verstehen als 'Relation von Tatsachen', also davon ausgehen, dass es (in der Gedanken unabhängigen Wirklichkeit) Gründe gibt die Ansicht von etwas als wahr gibt. Diese Gründe liegen dann aber objektiv vor, denn sie entspringen nicht unserem Denken resp. sind nicht einmal wahr und einmal falsch, je nachdem, wer sie sich zugrunde legt oder sie auslässt, sondern sie sind durch sich selbst wahr als die Wirklichkeit begründende Tatsachen. Aus dieser Grundhaltung ist es nun, dass man über die Wahrheit von Sachverhalten Gewissheit beziehen kann: Dass es sich so und so verhält mit Grausamkeit, mit Gut oder Böse etc.



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Jörn Budesheim
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Sa 9. Nov 2019, 12:21

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mi 6. Nov 2019, 15:43
Hi Alethos (wenn ich das richtig übersetze, passt dein Name ja hervorragend zum Thema),
natürlich kommt es erstmal darauf an, was man unter Wahrheit versteht: Wahrheit ist das Ganze, das Umfassende, das Wirkliche. So sehe ich es.
Auch (und gerade) in diesem Fall lebt der Steinzeitmenschen dann natürlich derselben Wahrheit wie wir alle ...




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Sa 9. Nov 2019, 12:57

Friederike hat geschrieben :
Fr 8. Nov 2019, 17:46
Jetzt weiß ich @T.A., wie ich auf "gut" und "schlecht" gekommen bin. Weil ich grundsätzlich Deine Auffassung teile, daß moralische Werte sich aus sozio-kulturellen, auch ökonomischen Bedingungen entwickeln, wollte ich, um diesen Punkt gleich abhakend zu überspringen, darauf hinaus, daß die Zeit- und Kulturbedingheit von Moral nichts daran ändert, daß die Werte entweder unter "gut" oder "schlecht" einsortiert werden. Körperliche Unversehrtheit ist für uns, gegenwärtig, ein Menschenrecht, fällt also unter "gut". Im Mittelalter oder in der Antike, denke nur an die Körperstrafen (grauslich), war dies gar kein Wert.
Dass wir unsere Einstellungen letztlich immer damit begründen, wie wir zu etwas stehen, also z.B. dass wir dieses jenem vorziehen, weil wir es für 'besser' oder 'schlechter' halten, das sollte uns nicht zur Überzeugung führen, dass das Gute oder das Schlechte abhängig von unseren Einstellungen sei. Denn obwohl wir das Menschenrecht der leiblichen Unversehrtheit "gegenwärtig" mit unserer Einstellungen begründen mögen, dass wir es z.B. für 'moralisch gut' halten, wenn niemand an Leib und Leben Schaden nehme, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass es ein Recht an und für sich von Menschen ist, unversehrt zu sein.

Ich halte es für falsch, sowohl moralisch als auch logisch, zu sagen, dass ein Menschenrecht "gegenwärtig" als Menschenrecht gelte, denn es gilt universal: Entweder ist ein Menschenrecht, was mit dem Menschsein einher geht, unabhängig davon, um welche Zeitperiode oder Kultur es sich handelt und auch unabhängig davon, welche unsere Einstellungen sind (weil es ein Recht ist, das gegenwärtig ist, wo Menschen sind) oder es gibt gar keine Menschenrechte in einem universalen Sinn. Wenn man Relativismen einführt, dann bestreitet man Universalität. Nun aber ist Universalität das Geltungsprinzip von Wahrheit, die sich kaum darum schert, was ich oder ein anderer, was ein Zeitgeist oder eine Periode, geltend macht. Wahr ist, dass wir Menschen sind und Moralität ein Konstituens des Menschseins ist: Es gibt keine Moralität ohne die Wahrheit, dass wir ein Recht haben auf Unversehrtheit und ohne dieses Recht keine Menschlichkeit und ohne diese keine Menschheit. Denn Menschlichkeit macht uns überhaupt zu Menschen (und unterscheidet uns von Rechenmaschinen und anderen Dingen) Anders gesagt: Wo Menschen sind, da ist die Wahrheit ihrer humanitas und sie bezeugt die moralische Verfasstheit des menschlichen Seins, was die universale Eigenschaft darstellt, durch die wir Menschen sind (und eben nichts anderes).



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Sa 9. Nov 2019, 13:03

@Tanges Alpha:

Korrektur meines Satzes zur besseren Verständlichkeit:
Alethos hat geschrieben : Man kann die Wahrheit auch verstehen als 'Relation von Tatsachen', also davon ausgehen, dass es (in der Gedanken unabhängigen Wirklichkeit) Gründe für die Ansicht von etwas als wahr gibt.



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