Das Milgram Experiment Exkurs zu Das Böse

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Fr 15. Nov 2019, 18:16

Tangens Alpha hat geschrieben :
Fr 15. Nov 2019, 13:09
Wissenschaftliche Wahrheit ist für mich "das Ganze der objektiven Realität", alles das, "was der Fall ist" die "Totalität". Die historisch abhängige Erkenntnis dieser Wahrheit in Form von Theorien ist das "Fürwahrhalten". Dahinter steckt die Realität als Wahrheit.
Ethisch-moralische Wahrheit ist nach meiner Auffassung keine objektiv existierende Tatsache, sondern immer nur ein "Fürwahrhalten" oder "Fürwahrsetzen" im Gesetz. Man kann "Kinder quälen" verwerflich finden, muss es aber nicht (die Prügelstrafe ist bis heute nicht verboten).
Ich schätze, sehr viel weiter auseinander, als wir beide es sind, kann man kaum sein. :) Ich kann bei kaum etwas von dem, was du da schreibst, zustimmen. Also: Ich habe einen ganz anderen Wahrheitsbegriff als du. Ich glaube keine Sekunde, dass nur die Wissenschaften für die Wahrheit "zuständig" sind, oder wie immer man es ausdrücken will. (Ich vermute mal, dass du mit Wissenschaften die Naturwissenschaften meinst.) Ich glaube nicht, dass es so etwas wie eine "Totalität" überhaupt gibt. Und ich glaube auch nicht, dass die Wahrheit/Realität hinter unserem Fürwahrhalten steckt.

Es ist schwierig, bei so großen Differenzen, überhaupt einen Anknüpfungspunkt zu finden. Hmmm... schließlich kann es eigentlich keine Diskussionen geben, die nicht auf geteilten Überzeugung aufbaut.

Welche gemeinsamen Überzeugungen könnten das sein?




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Fr 15. Nov 2019, 18:26

Ich will dennoch versuchen, ein paar Schritte zu machen.

Wahrheit: Unsere alltägliche Ansicht von Wahrheit (nach meinem Dafürhalten) und meines Erachtens auch diejenige, die in der Philosophie zurzeit am weitesten verbreitet ist, kann man sich vielleicht am folgenden Beispiel ausmalen: wenn ich glaube, dass im Kühlschrank noch ein kaltes Bier ist, und es ist noch ein kaltes Bier im Kühlschrank, dann glaube ich etwas wahres. Wahr ist hier die Ansicht, der Glaube und nicht etwa das Bier im Kühlschrank.

Das entspricht sehr gut dem, was man in der Philosophie "Disquotation" nennt:

"p" ist wahr gdw wenn p

Für p kann man fürs erste den Gehalt einer Ansicht einsetzen. (p ist hier das Kürzel für Proposition.) "Gdw" ist das Kürzel für "genau dann wenn". Wahrheit ist nach gängiger und sehr weit verbreiteter Ansicht in der Philosophie also nicht einfach die Realität oder die Wirklichkeit. Das ist sicher noch nicht alles, aber es ist meines Erachtens zumindest ein guter Anfang. Natürlich gibt es in der Geschichte der Philosophie unübersichtlich viele Wahrheitstheorien, aber ich schätze diese ist zurzeit ziemlich gebräuchlich, insbesondere da sich realistische Philosophien im Moment wieder im Aufwind bewegen.

…….........

Du sprichst von "wissenschaftlicher Wahrheit". Ich bin mir nicht ganz sicher, was du damit meinst, ich schätze damit meinst du Wahrheiten, die naturwissenschaftlich abgesichert (oder erforschbar/erreichbar) sind oder etwas in der Art?!

Hier würde ich zunächst einwenden, dass die Wissenschaften kein vereinheitlichter Bereich sind. Zählen wir ein paar Wissenschaften auf, um das deutlich zu machen. Theaterwissenschaft, Physik, Philosophie, Biologie, Geschichte, Linguistik, Gesellschaftswissenschaften, Mathematik, Kunstgeschichte, Museums Theorie, Literaturwissenschaften, philosophische Ethik, philosophische Ästhetik, philosophische Metaethik, philosophische Meta-Ästhetik, Metaphysik und vieles andere mehr. Hier haben wir es also mit sehr vielen verschiedenen Bereichen zu tun, die von sehr vielen verschiedenen Disziplinen in sehr vielen verschiedenen Arten und Weisen untersucht werden.

Aber natürlich geht es nicht nur in den Wissenschaften um die Wahrheit. Im alltäglichen Leben glauben wir vieles, und einiges davon ist auch wahr. Ohne wahre Überzeugung kämen wir wohl kaum einigermaßen durch die Welt. Auch Kommunikation wäre ohne Wahrheit überhaupt nicht möglich! Andere Bereiche, in denen es um die Wahrheit geht, dürften die verschiedenen Künste sein, auch wenn das mit Sicherheit schwierig auszubuchstabieren ist. Auch viele unsere Gefühle und natürlich unsere Wahrnehmungen können wahr oder falsch sein. (Es gibt die Wahrheit unseres Leibes und der damit verbundenen Atmosphären...)

Es dürfte ziemlich schwierig sein, alle Bereiche aufzuzählen, in denen es um die Wahrheit geht, vermutlich ist das unmöglich.

…….........

Es stimmt, dass man niemanden zwingen kann, zu glauben dass es falsch ist Kinder zu quälen. Man kann jedoch auch niemanden zwingen, zu glauben, dass die Erde näherungsweise rund ist und sich um die Sonne dreht. Daraus folgt jedoch nicht, dass es über die Erde und ihre Bahn um die Sonne keine Wahrheit gibt. Ansonsten würde die flat earth Theorie alI das widerlegen :)




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Fr 15. Nov 2019, 19:04

Tangens Alpha hat geschrieben :
Fr 15. Nov 2019, 13:09
(die Prügelstrafe ist bis heute nicht verboten).
In Deutschland und in weiten Teilen Europas schon:
anwalt.de hat geschrieben : Trotz der nach wie vor weit verbreiteten Ansicht, ein kleiner Klaps hätte noch keinem Kind geschadet, ist in Deutschland jede Form der Prügelstrafe gesetzlich verboten. Kinder haben ein Recht drauf, ohne körperliche und seelische Gewalt großgezogen zu werden. Die Geschichte von dem angeblich immer noch bestehenden angemessenen und maßvollen Züchtigungsrecht der Eltern ist daher ein längst überholtes Märchen. Vielmehr ist grundsätzlich jede Ohrfeige strafbar. Schlagenden Eltern droht deshalb strafrechtlich entweder eine Geldstrafe oder eine teilweise langjährige Haftstrafe. Familienrechtlich kann ihnen im schlimmsten Fall das Sorgerecht entzogen werden, wenn die Prügelstrafe das Kindeswohl gefährdet.




Benutzeravatar
Tangens Alpha
Beiträge: 91
Registriert: Mi 23. Okt 2019, 20:39

Mo 25. Nov 2019, 23:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 15. Nov 2019, 18:16
Ich schätze, sehr viel weiter auseinander, als wir beide es sind, kann man kaum sein. :) Ich kann bei kaum etwas von dem, was du da schreibst, zustimmen.
Ja, das geht mir auch so - aber da müssen wir jetzt durch!

Aber ich will doch eben kurz erläutern, was ich bei dir vermisse:
Aber natürlich geht es nicht nur in den Wissenschaften um die Wahrheit. Im alltäglichen Leben glauben wir vieles, und einiges davon ist auch wahr. Ohne wahre Überzeugung kämen wir wohl kaum einigermaßen durch die Welt. Auch Kommunikation wäre ohne Wahrheit überhaupt nicht möglich! Andere Bereiche, in denen es um die Wahrheit geht, dürften die verschiedenen Künste sein, auch wenn das mit Sicherheit schwierig auszubuchstabieren ist. Auch viele unsere Gefühle und natürlich unsere Wahrnehmungen können wahr oder falsch sein. (Es gibt die Wahrheit unseres Leibes und der damit verbundenen Atmosphären...)
Das kommt bei mir an wie ein Gemischtwarenladen von Glaubenssätzen, evolutionär- und medientheoretisch- klingenden Hypothesen, u.ä. Damit komme ich nicht klar!
Zudem gibt es eben so viele Wahrheiten , wie es Bereiche, Tendenzen, etc. gibt: logische, ....
Helfen würde mal, wenn du mit allgemeineren Begriffen beschreiben könntest, was du unter Wahrheit verstehst? Wo ist dein Begriff von Wahrheit einzuordnen? Ontologie, Theologie,... ?
Es stimmt, dass man niemanden zwingen kann, zu glauben dass es falsch ist Kinder zu quälen. Man kann jedoch auch niemanden zwingen, zu glauben, dass die Erde näherungsweise rund ist und sich um die Sonne dreht.
Das sind zwei völlig verschieden Ebenen.
Die eine ist die normative ethische Ebene mit dem als moralisch festgesetzten Regulativ: "Da Kinder empfindende Wesen sind, ist es falsch, sie zu quälen."
Die andere ist die naturwissenschaftliche Ebene mit mehr oder weniger klar definierten Begriffen von Wahrheit.

Also, wie sind wir überhaupt zur Wahrheit gekommen?



"Knowledge speaks but Wisdom listens" [Jimi Hendrix]

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 26. Nov 2019, 05:24

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mo 25. Nov 2019, 23:48
Helfen würde mal, wenn du mit allgemeineren Begriffen beschreiben könntest, was du unter Wahrheit verstehst?
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 15. Nov 2019, 18:26
Wahrheit: Unsere alltägliche Ansicht von Wahrheit (nach meinem Dafürhalten) und meines Erachtens auch diejenige, die in der Philosophie zurzeit am weitesten verbreitet ist, kann man sich vielleicht am folgenden Beispiel ausmalen: wenn ich glaube, dass im Kühlschrank noch ein kaltes Bier ist, und es ist noch ein kaltes Bier im Kühlschrank, dann glaube ich etwas wahres. Wahr ist hier die Ansicht, der Glaube und nicht etwa das Bier im Kühlschrank.

Das entspricht sehr gut dem, was man in der Philosophie "Disquotation" nennt:

"p" ist wahr gdw wenn p

Für p kann man fürs erste den Gehalt einer Ansicht einsetzen. (p ist hier das Kürzel für Proposition.) "Gdw" ist das Kürzel für "genau dann wenn". Wahrheit ist nach gängiger und sehr weit verbreiteter Ansicht in der Philosophie also nicht einfach die Realität oder die Wirklichkeit. Das ist sicher noch nicht alles, aber es ist meines Erachtens zumindest ein guter Anfang. Natürlich gibt es in der Geschichte der Philosophie unübersichtlich viele Wahrheitstheorien, aber ich schätze diese ist zurzeit ziemlich gebräuchlich, insbesondere da sich realistische Philosophien im Moment wieder im Aufwind bewegen.

…….........

Du sprichst von "wissenschaftlicher Wahrheit". Ich bin mir nicht ganz sicher, was du damit meinst, ich schätze damit meinst du Wahrheiten, die naturwissenschaftlich abgesichert (oder erforschbar/erreichbar) sind oder etwas in der Art?!

Hier würde ich zunächst einwenden, dass die Wissenschaften kein vereinheitlichter Bereich sind. Zählen wir ein paar Wissenschaften auf, um das deutlich zu machen. Theaterwissenschaft, Physik, Philosophie, Biologie, Geschichte, Linguistik, Gesellschaftswissenschaften, Mathematik, Kunstgeschichte, Museums Theorie, Literaturwissenschaften, philosophische Ethik, philosophische Ästhetik, philosophische Metaethik, philosophische Meta-Ästhetik, Metaphysik und vieles andere mehr. Hier haben wir es also mit sehr vielen verschiedenen Bereichen zu tun, die von sehr vielen verschiedenen Disziplinen in sehr vielen verschiedenen Arten und Weisen untersucht werden.

Aber natürlich geht es nicht nur in den Wissenschaften um die Wahrheit. Im alltäglichen Leben glauben wir vieles, und einiges davon ist auch wahr. Ohne wahre Überzeugung kämen wir wohl kaum einigermaßen durch die Welt. Auch Kommunikation wäre ohne Wahrheit überhaupt nicht möglich! Andere Bereiche, in denen es um die Wahrheit geht, dürften die verschiedenen Künste sein, auch wenn das mit Sicherheit schwierig auszubuchstabieren ist. Auch viele unsere Gefühle und natürlich unsere Wahrnehmungen können wahr oder falsch sein. (Es gibt die Wahrheit unseres Leibes und der damit verbundenen Atmosphären...)

Es dürfte ziemlich schwierig sein, alle Bereiche aufzuzählen, in denen es um die Wahrheit geht, vermutlich ist das unmöglich.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 26. Nov 2019, 05:30

Tangens Alpha hat geschrieben :
Mo 25. Nov 2019, 23:48
Das sind zwei völlig verschieden Ebenen.
Die eine ist die normative ethische Ebene mit dem als moralisch festgesetzten Regulativ: "Da Kinder empfindende Wesen sind, ist es falsch, sie zu quälen."
Die andere ist die naturwissenschaftliche Ebene mit mehr oder weniger klar definierten Begriffen von Wahrheit.
Richtig, das sind verschiedene Ebenen. Aber daraus folgt keineswegs, dass es bei beiden nicht um die Wahrheit geht.




Benutzeravatar
Cosma
Beiträge: 13
Registriert: So 24. Nov 2019, 23:44

Mi 4. Dez 2019, 10:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 26. Nov 2019, 05:30
Tangens Alpha hat geschrieben :
Mo 25. Nov 2019, 23:48
Das sind zwei völlig verschieden Ebenen.
Die eine ist die normative ethische Ebene mit dem als moralisch festgesetzten Regulativ: "Da Kinder empfindende Wesen sind, ist es falsch, sie zu quälen."
Die andere ist die naturwissenschaftliche Ebene mit mehr oder weniger klar definierten Begriffen von Wahrheit.
Richtig, das sind verschiedene Ebenen. Aber daraus folgt keineswegs, dass es bei beiden nicht um die Wahrheit geht.
Aber mit völlig unterschiedlichem Gehalt:
Das moralische Regulativ, die Wahrheit, wird gesetzt oder vereinbart; die naturwiss. Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Theorie & Experiment und muss eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten.



Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!
* Rosa Luxemburg *

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 4. Dez 2019, 11:21

Unter Gehalt verstehe ich im Grund dasselbe wie Inhalt. Der Satz "die Erde dreht sich um die Sonne" und der Satz "1 Liter Wasser wiegen auf der Erde 1 Kilo" haben verschiedenen Gehalt. Der Unterschied zwischen "praktischen Tatsachen" und "theoretischen Tatsachen" besteht nach meinem Verständnis darin, dass es bei "praktische Tatsachen" (bzw. moralische Tatsachen) um Normen und Werte geht, was für "theoretische Tatsachen" nicht gilt.

Moralische Tatsachen werden meines Erachtens ebenso entdeckt wie theoretische. Während man noch bis vor kurzem glaubte, dass Homosexualität verwerflich ist, wurde zum Glück später entdeckt, dass dies einfach ein Irrtum ist. Dass sexuelle Selbstbestimmung einen hohen Wert darstellt, ist meines Erachtens keine "Setzung", sondern eine Tatsache. Dass die Nazis Schwule verfolgt und ermordet haben, war moralisch objektiv verwerflich.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Mi 4. Dez 2019, 15:52

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 11:21
Unter Gehalt verstehe ich im Grund dasselbe wie Inhalt. Der Satz "die Erde dreht sich um die Sonne" und der Satz "1 Liter Wasser wiegen auf der Erde 1 Kilo" haben verschiedenen Gehalt. Der Unterschied zwischen "praktischen Tatsachen" und "theoretischen Tatsachen" besteht nach meinem Verständnis darin, dass es bei "praktische Tatsachen" (bzw. moralische Tatsachen) um Normen und Werte geht, was für "theoretische Tatsachen" nicht gilt.

Moralische Tatsachen werden meines Erachtens ebenso entdeckt wie theoretische. Während man noch bis vor kurzem glaubte, dass Homosexualität verwerflich ist, wurde zum Glück später entdeckt, dass dies einfach ein Irrtum ist. Dass sexuelle Selbstbestimmung einen hohen Wert darstellt, ist meines Erachtens keine "Setzung", sondern eine Tatsache. Dass die Nazis Schwule verfolgt und ermordet haben, war moralisch objektiv verwerflich.
Cosma hat geschrieben : Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Theorie & Experiment und muss eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten.
Mittels welcher Methode entdeckt man praktische bzw. moralische Tatsachen? (die immer "wahr" sind, oder gibt es auch "falsche" Tatsachen?). Ich frage anders: Wie überprüft man die Wahrheit der praktischen Tatsachen?




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 4. Dez 2019, 16:19

Friederike hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 15:52
Mittels welcher Methode entdeckt man praktische bzw. moralische Tatsachen? (die immer "wahr" sind, oder gibt es auch "falsche" Tatsachen?). Ich frage anders: Wie überprüft man die Wahrheit der praktischen Tatsachen?
Welches Argument möchtest du damit verbinden? Worum geht es dir mit der Frage. Zwar kommt sie an dieser Stelle stets so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber tatsächlich gibt es keinen wirklichen Zusammenhang!

Noch wichtiger: Warum lässt du die Beispiele weg? Dass sie fehlen ist nämlich interessant! Glaubst du, es muss einen allgemeinen Weg der Wahrheitsfindung geben? Zeigt ein Blick auf die Geschichte, dass das nicht eine ganz und gar seltsame Vorstellung ist? Was machen wir hier in dem Forum? Wenn deine Frage stichhaltig wäre, sollte man den Laden Philosophie einfach schließen, denn es gibt offenbar keinen Königsweg zur Wahrheit. Das wissen wir sicher. Bei unglaublich vielen Fragen, die für uns wichtig sind, können wir deine Frage nicht beantworten und kein allgemeines Muster der Wahrheitsfindung angeben.

Warum kommt diese Frage dennoch immer?

Kann es Wahrheiten nur geben, wenn es einfach angebbare Methoden der Wahrheitsfindung gibt? Natürlich nicht. Das weiß jede/r. Denn Wahrheit ist radikal "nicht-epistemisch". Es gibt keinen einfachen und generellen Zusammenhang zwischen unseren Fähigkeiten, die Wahrheit zu entdecken und dem Umstand, dass es Wahrheit gibt. Viele Wahrheiten dürften uns für ewig verborgen bleiben, sind es deswegen keine Wahrheiten? Manche Wahrheiten liegen hingegen auf der Hand und wir können sie nicht mal begründen, aber sie bleiben wahr.

Dennoch ein kurzes Wort zu deiner Frage: Die Entdeckung, um die es geht ist nämlich eine ganz andere! Viele unserer ethischen Entdeckungen sind "negativ". Wir entdecken einfach, dass angebliche Gründe, die unsere Freiheit und Gleichheit umterminieren, überhaupt nicht stichhaltig sind. Man glaubte früher (und oft leider auch noch heute), es gäbe triftige Gründe, Menschen ihre Freiheit vorzuenthalten: Schwarzen, weil sie schwarz sind. Frauen, weil sie Frauen sind. Schwulen, weil sie schwul sind. Schließlich entdeckt man, dass die angeblichen Gründe alle Unsinn sind. Und darin besteht die Entdeckung, dass die vorgeschobenen Behauptungen, die eine Ungleichheit zementieren sollten, eben nicht standhalten: Könige sind gar nicht von Gott legitimiert. Dabei werden Irrtümer und Lügen aufgedeckt, so dass die ursprüngliche Wahrheit, dass wir alle frei und gleich sind nicht mehr davon verdeckt wird.

Dann stelle ich dir jetzt deine eigene Frage: Wie hast du herausgefunden, dass Männer und Frauen eigentlich gleichberechtigt behandelt werden sollten? Und wenn du das jetzt nicht letzt-begründen kannst aus dem Stegreif, wollen wir in diesem Punkt dann unsere Einsicht verleugnen? Willst du das im Ernst bezweifeln? Oder ist das nur ein sogenannter Paper Doubt? (Es gilt: auch Zweifel müssen gut begründet werden!)

Wie findet man heraus, dass man Menschen in Not helfen sollte? Ist das nicht seltsam, wenn man diese Frage im ernst stellt? All diese "Argumente" kommen nur, wenn man von unserem wirklichen Leben absieht und ganz abstrakt vorgeht. Aber in der Ethik kann man nicht vom Leben absehen, denn das ist ihr Gegenstand.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Mi 4. Dez 2019, 17:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 16:19
Worum geht es dir mit der Frage. [...] Dennoch ein kurzes Wort zu deiner Frage: Die Entdeckung, um die es geht ist nämlich eine ganz andere! Viele unserer ethischen Entdeckungen sind "negativ". Wir entdecken einfach, dass angebliche Gründe, die unsere Freiheit und Gleichheit umterminieren, überhaupt nicht stichhaltig sind. Man glaubte früher (und oft leider auch noch heute), es gäbe triftige Gründe, Menschen ihre Freiheit vorzuenthalten: Schwarzen, weil sie schwarz sind. Frauen, weil sie Frauen sind. Schwulen, weil sie schwul sind. Schließlich entdeckt man, dass die angeblichen Gründe alle Unsinn sind. Und darin besteht die Entdeckung, dass die vorgeschobenen Behauptungen, die eine Ungleichheit zementieren sollten, eben nicht standhalten: Könige sind gar nicht von Gott legitimiert. Dabei werden Irrtümer und Lügen aufgedeckt, so dass die ursprüngliche Wahrheit, dass wir alle frei und gleich sind nicht mehr davon verdeckt wird.
Du hast auf meine Frage hin auf eine Methode hingewiesen, die negative, die ich schlüssig und plausibel finde.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 4. Dez 2019, 17:09

Das ist jedoch keine Methode, sondern ein Weg von ganz vielen verschiedenen!




Benutzeravatar
Cosma
Beiträge: 13
Registriert: So 24. Nov 2019, 23:44

Mi 4. Dez 2019, 20:24

Friederike hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 15:52
Cosma hat geschrieben : Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Theorie & Experiment und muss eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten.
Mittels welcher Methode entdeckt man praktische bzw. moralische Tatsachen? (die immer "wahr" sind, oder gibt es auch "falsche" Tatsachen?). Ich frage anders: Wie überprüft man die Wahrheit der praktischen Tatsachen?
Das Zitat ist aber arg gestaucht! Der Satz lautete:

"Das moralische Regulativ, die Wahrheit, wird gesetzt oder vereinbart; die naturwiss. Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Theorie & Experiment und muss eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten."

Das sind zwei verschiedene Formen von Wahrheit.



Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!
* Rosa Luxemburg *

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 4. Dez 2019, 20:38

Cosma hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 20:24
"Das moralische Regulativ, die Wahrheit, wird gesetzt oder vereinbart; die naturwiss. Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Theorie & Experiment und muss eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten."
Könntest du das mit ein paar Beispielen illustrieren?




Benutzeravatar
Cosma
Beiträge: 13
Registriert: So 24. Nov 2019, 23:44

Do 5. Dez 2019, 10:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 20:38
Cosma hat geschrieben :
Mi 4. Dez 2019, 20:24
"Das moralische Regulativ, die Wahrheit, wird gesetzt oder vereinbart; die naturwiss. Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Theorie & Experiment und muss eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten."
Könntest du das mit ein paar Beispielen illustrieren?
In der Naturwissenschaft ist eine Theorie dann (relativ) wahr, wenn sie richtige Resultate voraussagt. Es sind Antworten auf die Frage: "Wie funktioniert die Natur"?
In der Ethik wird "Andere schlagen" als verwerflich gesetzt. Es sind Antworten auf die Frage: "Wie lässt sich ein friedliches Zusammenleben organisieren"?
Völlig andere Fragestellung.



Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!
* Rosa Luxemburg *

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Do 5. Dez 2019, 11:13

:-)

Ich hatte eigentlich gehofft, dass du anhand von Beispielen erläuterst, was es heißt, dass die naturwissenschaftliche Wahrheit eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten muss. Mir ist nicht klar, was du damit meinst.

Außerdem hab ich keine wirkliche Vorstellung davon, was es heißt "Andere schlagen" sei als verwerflich gesetzt.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Do 5. Dez 2019, 17:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Dez 2019, 11:13
Ich hatte eigentlich gehofft, dass du anhand von Beispielen erläuterst, was es heißt, dass die naturwissenschaftliche Wahrheit eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten muss. Mir ist nicht klar, was du damit meinst.
Man nehme einen Stein und lasse ihn los. Das ist die Handlungsanweisung. Wann immer man so vorgeht, muß der Stein runterfallen, falls die Theorie (welche? :lol: Schwerkraft?) wahr/richtig sein soll. Originelleres fällt mir leider nicht ein. So jedenfalls habe ich den Satz von @Cosma verstanden. Sagst Du selber?




Benutzeravatar
Cosma
Beiträge: 13
Registriert: So 24. Nov 2019, 23:44

Do 5. Dez 2019, 18:02

Friederike hat geschrieben :
Do 5. Dez 2019, 17:13
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Dez 2019, 11:13
Ich hatte eigentlich gehofft, dass du anhand von Beispielen erläuterst, was es heißt, dass die naturwissenschaftliche Wahrheit eine überprüfbare Handlungsanweisung enthalten muss. Mir ist nicht klar, was du damit meinst.
Man nehme einen Stein und lasse ihn los. Das ist die Handlungsanweisung. Wann immer man so vorgeht, muß der Stein runterfallen, falls die Theorie (welche? :lol: Schwerkraft?) wahr/richtig sein soll. Originelleres fällt mir leider nicht ein. So jedenfalls habe ich den Satz von @Cosma verstanden. Sagst Du selber?
Ja gutes Beispiel! Das hast du richtig verstanden. Man würde es nur w.f. präzisieren (für Jörn):

Behauptung:
"Alle Körper fallen wegen der Schwerkraft (im Vakuum) gleich schnell: v = Wurzel (2 g h) ........ v=Geschwindigkeit, g=Erdbeschleunigung (10 m/s^2), h=Fallhöhe

Nachweis:
durch Experimente im Vakuum mit unterschiedlichen Gegenständen (Feder, Hammer) und Fallhöhen.

Resultat:
Volle Bestätigung sowohl auf der Erde alsauch auf dem Mond mit einem sechstel der Erd-Schwerkraft (g=1/6)
Zuletzt geändert von Cosma am Do 5. Dez 2019, 18:59, insgesamt 1-mal geändert.



Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht!
* Rosa Luxemburg *

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Do 5. Dez 2019, 18:11

Die Handlungsanweisungen soll sich darauf beziehen, wie man die fragliche Wahrheit überprüft? Aber sie gehört nicht zur Wahrheit. Okay?




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23418
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Do 5. Dez 2019, 18:17

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 5. Dez 2019, 11:13
Außerdem hab ich keine wirkliche Vorstellung davon, was es heißt "Andere schlagen" sei als verwerflich gesetzt.
Das hier interessiert mich aber noch mehr.




Antworten