Tangens Alpha hat geschrieben : ↑ So 3. Nov 2019, 17:49
Friederike hat geschrieben : ↑ So 3. Nov 2019, 14:24
Tangens Alpha hat geschrieben : ↑ Fr 1. Nov 2019, 16:54
Ich denke, der Mensch ist weder gut noch böse, sondern lediglich von der Natur (in der Steinzeit) mit Eigenschaften ausgestattet, die es ihm zu überleben ermöglichten. Einziges Kriterium: das Überleben der Art! Diese egoistischen Eigenschaften sind in der Zivilisation unsozial - deshalb müssen moralische Gesetze den Umgang miteinander regeln und wie sich zeigt, ist der Mensch wohl zum Guten oder Bösen
fähig. Was gut und was böse ist, ist vom geschichtlich-sozialen Kontext abhängig - eben relativ. (zB war es im antiken Rom absolut nicht unmoralisch, Sklaven juristisch als "bewegliche Sache" zu sehen.)
Obwohl ich intuitiv Deine Auffassung teile -ohne sie bereits genau zu kennen- die Stoßrichtung würde ich mit dem Schlagwort "Historisierung" der Moral kennzeichnen, möchte ich doch einhaken und Dich fragen: Wenn das Überleben der Menschen-Art das einzige Ziel der menschlichen Art ist, in der genetischen Ausstattung festgelegt, wie kommt es dann zum Sprung in die Zivilisation, in der die genetische Ausstattung sozusagen gezähmt wird? Es will mir jedenfalls als "Sprung" scheinen. Vielleicht habe ich Dich nur nicht richtig verstanden.
Ich glaube nicht, dass es diese Sprünge gibt. Wenn man sich die Geschichte Mesopotamiens (das als Wiege der Zivilisation gilt), anschaut, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Mensch sich in einem langen Prozess unter großen Mühen und Quälereien aus dem Tierreich emporgearbeitet hat.
Der Übergang in die Zivil. war eher fließend: einige Bauern kamen auf die Idee des künstlichen Bewässerungsanbaus; sie haben diese Methode dann derart perfektioniert, dass sie eine Produktionsrate von 1:76 erreichten! Derartige Überschüsse konnten gehandelt werden und das hat Uruk & Co. reich gemacht. Die Folge war ein Zustrom von Menschen in diese reichen Städte, was eine nie dagewesene Bevölkerungsdichte mit einhergehendem Dichtestress & Kriminalität nach sich zog, die wiederum eine Ethik, Verhaltensregeln, erforderlich machte. Man sieht hier sogar den Zus.-hang von Moral und Wirtschaftsweise. Ich denke, Moral ist uns nicht eingegeben, sondern aufgegeben und damit kontextabhängig.
Nun, das ist eine legitime Ansicht und ich möchte sie dir auch nicht streitig machen.
Natürlich gibt es zwischen den Artefakten des Paläolithikums und der damaligen Moralvorstellung einen engen Zusammenhang. Wer nämlich nichts weiter zu tun fähig ist, als Steine zu schärfen oder Nüsse zu knacken, der hat wohl auch nicht umfassende Einsichtsfähigkeit in die Möglichkeiten, die ihm die Wahrheit sonst bietet.
Es wäre nämlich schon damals wahr gewesen, dass ein handelsüblicher Nussknacker aus dem Kaufhaus wesentlicher effizienter ist. Und ebenso wäre ein Laser geschärftes Steakmesser bei weitem effektiver gewesen. Es war damals also schon wahr, dass man sich irrte, wenn man glaubte, dass der Stein das beste aller möglichen Werkzeuge war. So wie man sich irrte, als man dachte, dass es besser wäre, den Beutedieb zu erschlagen, als die Beute mit ihm zu teilen.
Was ich sagen will: Es mögen die Fähigkeiten zur Wahrheitserkenntnis relativ sein zur Kultur, zur Epoche, zum Zeitgeist, ja, zur Epistemologie des Individuums, das alles aber kümmerte die Wahrheit nie. Denn es war schon immer wahr, was wahr ist, unabhängig davon, ob wir es erkennen oder es die heutigen Möglichkeiten offenbaren.
Man mag also sagen, dass unsere Vorstellungen von Moral ganz gegeben sind durch Erziehung, durch Zeitgeist, durch Kultur, und dass sie sich mit ihnen auch ändern. Man hat aber dabei bloss festgestellt, dass man sich selbst änderte, seine Einstellungen und Ansichten, nicht aber die Wahrheit selbst, die durch sich selbst scheint im Licht der Tatsachen. Es mögen also die Hethiter oder Babylonier oder Griechen und Römer gedacht haben, dass Sklaverei ganz in Ordnung sei, dabei haben sie sich ganz einfach geirrt, wie wir uns irren, wenn wir denken, dass die Wahrheit in irgendeinem Bezug relativ sei zu unserer Erkenntnis von ihr.
Dieses hier vorgeschlagene Verständnis impliziert, dass alle Tatsachen, auch die moralischen, ganz unabhängig davon sind, ob wir sie verstehen. Aber es impliziert ebenso klar, dass sie uns deutlicher erscheinen, je mehr wir zur Wahrheit vordringen und dazu benötigen wir Werkzeuge: Theorien sind solche Werkzeuge, nicht nur Technologien, aber auch Empathie ist ein solcher Schlüssel zur moralischen Wahrheit. Dass wir auch irren können, auch ich hier irren kann, das ist ganz gewiss die Voraussetzung für die eben vorgebrachte These: dass Wahrheit ist.
Und nun mag man auf dem langen Weg vom Paläolithikum über die Hochkulturen Mesopotamiens bis hin zur Gegenwart eine bruchlose Kontinuität feststellen: dass alles aus allem hervorgeht, alles in allem begründet sei durch alles. Oder man stellt fest, dass Kausalität mit der Komplexität und in der Komplexität neu entsteht, so dass wir sagen können, wir seien nicht einfach "hochgerüstete Affen", sondern ein Schlag Mensch ganz neuen Typs: freie, mitfühlende und zur immer besseren Wahrheitserkenntnis fähige Mitmenschen. Fröhliche. Und solche, die Sklaverei und andere Grausamkeiten verurteilen, weil sie schlecht sind, weil sie amoralisch sind, weil sie böse sind. Per se.