Verteilungsdilemma

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Schimmermatt
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Mo 22. Okt 2018, 19:18

Ich mache das hier oft mit meinen Schulklassen zum Einstieg in manche Reihe über politische Philosophie und es könnte Euch auch Spaß machen, darüber nachzudenken, also voilá:

Bei einer Schiffsreise fallen bei einer hohen Welle in der Nacht drei Personen über Bord. Keiner bekommt es mit, niemand hört ihr Rufen und sie schaffen es nur mit Mühe, zu einer einsamen Insel zu schwimmen. Dort angekommen mustern sie sich und stellen sich vor:

"Aye, ich bin Brutus Starkarm, ich betreibe seit meinem zwölften Lebensjahr Bodybuilding, sowie Crosscountry und habe den schwarzen Gurt in Karate. Ich sehe hier viele gefährliche, giftige Tiere, die kann man nicht essen, aber die muss ich fernhalten, entschuldigt mich!" Daraufhin rauscht der Hüne davon und schreckt mit seiner imposanten Gestalt die erkennbare aggressiven Giftbiester ab.

"Hey, ich bin Fritz Flinkfinger, ehemaliger Olympiazweiter im Speerwurf. Wenn ich mir die Baumsplitter da hinten so ansehe, dann könnte ich damit eventuell das Speerfischen probieren. Ich sag mal, zehn Fisch sollte ich bis heut Abend, wenn es zu dunkel zum Speerfischen wird, schaffen." Er macht sich ans Werk.


"Tja, bleibe wohl ich, Anton Auabein. Leider habe ich mir bei dem Sturz vom Schiff drei Rippen und das linke Wadenbein gebrochen, ich kann außer für n Feuerchen sorgen und es nicht ausgehen lassen nun mal gar nichts tun, bis ich wieder gesund bin. Dann wollen wir mal,"


Abends kommen die drei wieder am mittlerweile lodernden Feuer zusammen. Wie erwartet fing Fritz zehn Fische. Der Größe nach zu urteilen müsste ein Mensch fünf Fische am Tag essen um umfänglich ernährt zu sein.


Wie viele Fische soll wer bekommen?



"Manche Leute werden heutzutage langsam wahnsinnig. Ich schnell." C. Schlingensief

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Jörn Budesheim
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Di 23. Okt 2018, 05:43

Wir teilen fair: jeder bekommt 3 1/3 Fisch.




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Di 23. Okt 2018, 07:21

Diese Geschichte erinnert mich sehr an das Beispiel mit dem von Terroristen entführten Flugzeug. Lässt man es in ein Stadion stürzen oder schiesst man es vom Himmel? Tötet man 100 oder tötet man 1000?

Ich habe nie verstanden, was Diskussionen dieser Art bringen sollen. Ohne die Frage überhaupt lösen zu können, quält man sich und die anderen, lamentiert ewig und ergebnislos. Und wofür? Den "philosophischen Diskurs"? Der weicht in diesen Debatten für gewöhnlich dem Stammtisch.
Ich würde (Kindern) ethisches Denken positiver vermitteln, als etwas Gewinnbringendes, wovon alle profitieren können. Ethisches Handeln muss weder kompliziert noch ein Nullsummenspiel sein.

P.S: Fliege hat diese Beispiele immer gerne gebracht, wenn er zeigen wollte, dass Ethik kein Allheilmittel ist. Meistens, um sie dann generell in Frage zu stellen.
P.P.S: Wir lassen natürlich die lahme Krücke verhungern.




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Jörn Budesheim
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Di 23. Okt 2018, 15:38

Legen wir über die Situation mal den berühmten Schleier des Nichtwissens: Jeder von uns stellt sich vor, er käme in einem neuen Leben in die oben dargestellte Situation. Niemand von wüsste jedoch zuvor, wer der drei Protagonisten er sein wird. Welche Verteilung schlägt man in dieser Situation des "Nichtwissen" vor?




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Friederike
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Di 23. Okt 2018, 16:26

Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 22. Okt 2018, 19:18
Der Größe nach zu urteilen müsste ein Mensch fünf Fische am Tag essen um umfänglich ernährt zu sein.
Falls ich die Formulierung richtig auslege, geht es lediglich darum, daß man ein bißchen an Gewicht verliert?




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Di 23. Okt 2018, 16:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 23. Okt 2018, 15:38
Legen wir über die Situation mal den berühmten Schleier des Nichtwissens: Jeder von uns stellt sich vor, er käme in einem neuen Leben in die oben dargestellte Situation. Niemand von wüsste jedoch zuvor, wer der drei Protagonisten er sein wird. Welche Verteilung schlägt man in dieser Situation des "Nichtwissen" vor?
Puuuh. :lol: Dann bin ich für die von Dir vorgeschlagene Lösung, daß die Menge an Fisch auf alle Dreie gleich verteilt wird.

Schon gibt es einen Haken. Der Hüne braucht mehr an Kalorien als die Anderen. Sonst würde er mehr abmagern (ich gehe vorläufig von der harmlosen Variante aus). Oje. Der Hüne kriegt 4 und die beiden Anderen je 3 Fische.




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Schimmermatt
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Mi 24. Okt 2018, 00:20

Warum soll Eurer Meinung nach nicht der Minderleister weniger kriegen?



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Stefanie
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Mi 24. Okt 2018, 06:15

Ist er denn ein Minderleister?
Ohne das Feuer dürfte es mit dem Essen der Fische schwierig werden.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Mi 24. Okt 2018, 08:06

Am Ende wird es heißen, dass wir den Kommunismus unterstützen :-) Denn Ungleichverteilung ist ja bei uns der Standard.




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Friederike
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Mi 24. Okt 2018, 10:41

Schimmermatt hat geschrieben :
Mi 24. Okt 2018, 00:20
Warum soll Eurer Meinung nach nicht der Minderleister weniger kriegen?
Ich möchte zurückfragen, warum die Leistung berücksichtigt werden sollte. Das ist ernst gemeint, denn spontan intuitiv ist mir dieses Kriterium überhaupt nicht eingefallen. Später natürlich schon. Aus meiner Sicht ist es also gar nicht selbstverständlich, daß die Leistung im Kriterien-Katalog auftaucht. Deswegen meine ich, daß es "andersherum gehen muß" - wer die Leistung einführt, muß sagen, warum sie eingeführt werden sollte. Die Frage unterstellt ja bereits, daß die Leistung eine Rolle in der Verteilungsgeschichte spielen soll.




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Mi 24. Okt 2018, 13:12

Tommy hat geschrieben :
Mi 24. Okt 2018, 11:45
Ich finde diese Frage im Prinzip schon berechtigt.
@Tommy, meine spontane Reaktion und der "Schleier des Nichtwissens" haben mich -assoziativ- darauf gebracht, daß man bei dem Versuch, die Fische zu verteilen, am besten alles vergißt, was man weiß, :lol: d.h. auch, was in unserer Gesellschaft für selbstverständlich angesehen wird. Wenn man aus dem fiktiven Urzustand bzw. dem "Sichnaivstellen" auf das "Leistungskriterium" kommt, dann ist es natürlich in Ordnung, aber dies schon für gegeben anzunehmen, nur weil es seit Jahrhunderten so ist, dagegen wollte ich mich wenden.




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Friederike
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Mi 24. Okt 2018, 13:36

Tommy hat geschrieben :
Mi 24. Okt 2018, 11:45
Man kann zum Beispiel die Frage stellen ob jemand der jeden Tag schwere körperliche Arbeit leistet und sich damit auch seine Gesundheit für die Gesellschaft ruiniert, weniger bekommen soll als irgend so ein Bürofuzzi? Wer hat das so festgelegt, dass die Arbeit des Managers die "höhere Leistung" ist? Und wieso?
Oja, dazu kann man viele Fragen stellen bzw. Fragezeichen setzen ... ich beteilige mich an solchen Gesprächen nicht, weil, ich könnte mich endlos echauffieren über derlei Ungerechtigkeiten (im Sinne des Thread-Themas wäre es zu begründen, warum ich diesen Leistungsmaßstab ungerecht finde. Ich begründe es trotzdem nicht).

Ich vermute, ich bin deswegen bei den Fischen nicht auf die Leistung gekommen, weil es in dem Beispiel um das Überleben der drei Personen geht. Die Anzahl der Fische reicht gerade mal hin, damit alle wenigstens überleben. Gäbe es einen Überfluß an Fischen, so wäre ich sicher auch schneller darauf gekommen, ob und inwiefern das, was jeder für die Gemeinschaft gibt, nicht auch eine Rolle spielen sollte dafür, was jeder kriegt.




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Friederike
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Mi 24. Okt 2018, 16:28

Mir ist vorhin noch eingefallen, daß man auch dafür plädieren könnte, dem Schwächsten, nämlich dem Verletzten den größeren Anteil an Fischen zu geben. Eine Begründung wäre, daß er es ist, der am meisten Eiweiß und Nahrung zur Kräftigung braucht, und die Begründung, auf die es mir in diesem Zusammenhang aber hauptsächlich ankommt, wäre die, daß es ihm am Schlechtesten geht. Denn er ist lädiert, nicht im Vollbesitz seiner Kräfte und er ist also am Hilflosesten.

Noch besser. Man läßt die 3 Personen untereinander aushandeln, wie sie die Fische verteilen wollen. Sie bilden eine Kommunikationsgemeinschaft, in der alle gleich berechtigt sind mitzusprechen.




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Tommy hat geschrieben :
Mi 24. Okt 2018, 11:45
Die Antwort darauf ist: Wieso soll jemand, der sich weniger beteiligt das Gleiche bekommen wie Diejenigen die sich mehr beteiligen?
Ich finde diese Frage im Prinzip schon berechtigt. Wer mehr arbeitet soll auch mehr bekommen.
Der Punkt ist, und da hinkt der Vergleich mit der Insel, dass wir mehr als genug Fische hätten. Für alle. Die Geschichte schildert eine Knappheit, die es so nicht gibt. Jeder Mensch braucht 3-4 Fische am Tag. Der Starke angelt 30 Fische, isst 26 selber und übergibt den anderen beiden 4 Fische mit dem Kommentar "Es wird knapp, Leute!"

Du darfst das Insel-Beispiel nicht auf unsere Gesellschaft anwenden, weil wir keine Verhungernden auf einer Insel sind.




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Anmerkung: Im gesellschaftlichen Real-Life angelt der Starke auch nicht alleine die Fische aus dem Wasser. Im Grunde erbringt keiner eine Leistung für sich alleine ohne auf andere angewiesen zu sein.




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Tommy hat geschrieben :
Do 25. Okt 2018, 08:57
Ottington hat geschrieben :
Do 25. Okt 2018, 07:05
Anmerkung: Im gesellschaftlichen Real-Life angelt der Starke auch nicht alleine die Fische aus dem Wasser. Im Grunde erbringt keiner eine Leistung für sich alleine ohne auf andere angewiesen zu sein.
Das ist schon richtig. Aber glaubst Du denn, dass dabei jeder die selbe Leistung erbringt?
Oder anders gefragt: Ist es für Dich in Ordnung, dass einer sagt er bringe mehr Leistung als Andere und er wolle dafür dann auch mehr entlohnt werden?
Oder ist das für Dich eine gänzlich unangebrachte Forderung? Und wenn ja, wieso sollte dann irgendwer noch mehr Leistung erbringen? Wieso sollte sich irgendwer mehr anstrengen, wenn er, egal wie viel Leistung er bringt, immer das Selbe bekommt?
Da kann ich nur auf @'Friederike' verweisen: Warum sollte Leistung relevant sein? Und, wenn ja: Was gilt als bewertbare Leistung?
Wenn wir z.B. an den Care-Bereich denken, werden nach Meinung vieler Menschen all die Lehrer, Pädagogen, Pfleger und Helfer "von arbeitenden Menschen mitgezogen", weil sie im finanziellen Sinne keine produktiven Leistungen erbringen, sondern nur kosten. In Unternehmen werden die Bereiche, die Umsätze erbringen, immer höher eingestuft. Dass diese nur mit Hilfe der anderen überhaupt arbeiten können, wird gerne übersehen.




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Jörn Budesheim
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Do 25. Okt 2018, 13:42

Leistung allein kann es nicht sein, sonst würden Frauen nicht systematisch benachteiligt - ach, in dem Beispiel ist gar keine dabei, oder?




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Stefanie
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Do 25. Okt 2018, 18:41

Wenn ich mit Nichtwissen als eine Betroffende auf der insel bin, es um das Überleben geht, ist es doch so, dass alle überleben wollen. Das hängt davon ab, dass die Gruppe sich einig ist. Einig auch darin, dass man selber die identische Chance zum überleben haben will, wie die anderen. Da dies jeder will, muss dazu gekommen, dass jeder jede den anderen so behandelt, wie man selber behandelt werden will.
Ergo bekommt jeder den gleichen Anteil von den Fischen.

Die geschilderte Situation ist schon eine Grenzsituation, und insofern nicht so einfach übertragbar.



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Stefanie
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Do 25. Okt 2018, 19:40

Ich bin mal erbsenzählerisch. Da steht nicht, dass 5 Fische zum Überleben notwendig sind, sondern, dass 5 Fische zur umfänglichen Ernährung notwendig seien. Bei 3 und ein bischen Fischen gibt es wahrscheinlich einen Mangel, aber dass man bei weniger als 5 Fische stirbt, steht da so nicht.

Das ist ja ein Beispiel für den Unterricht an der Schule, als Einleitung steht politische Philosophie, also überlege ich so vor mich hin und suche die Pädagogik und den politischen Bezug. Vielleicht geht es auch darum, wie wir einen Text richtig lesen sollen. Allein die namensbezeichnung schuppst einen in eine Richtung, oder?



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Do 25. Okt 2018, 19:43

Tommy hat geschrieben :
Do 25. Okt 2018, 15:59
Der Grund ist die Gegenfrage: Wieso soll jemand mehr Leistung bringen, wenn sich Mehrleistung gar nicht lohnt?
Tja, fragen wir die Lehrer, die Erzieher und die Altenpfleger, warum sie ihrer Arbeit nachgehen. Vielleicht ist die finanzielle Entlohnung nicht das wichtigste im Leben.

Fragen wir die Hebammen, warum sie in einer für sie schlimmer werdenden Situation immer noch Kinder auf die Welt bringen.




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