Dreißig Jahre später allerdings klingt die Berufung auf das "Volk" und den "Volkswillen" - die europaweit Konjunktur hat - nicht mehr so klar und rein. Sie ist zum Vehikel rechter Ideologen geworden, die dem liberalen Rechtsstaat und der repräsentativen Demokratie den Kampf angesagt haben. Diese Ideologen berufen sich zwar gern auf den Willen des Volkes, aber sie lassen durchblicken, dass nicht das real existierende Staatsvolk in seiner Diversität und Pluralität meinen, sondern ein idealisiertes, da erst noch zu schaffendes, ethnisch zu bereinigendes Volk...
Doch auch für die Populisten und ihre Vordenker scheint das Prinzip der Volkssouveränität - das basale demokratische Prinzip also - nicht in Frage zu stehen. Ja im Gegenteil, sie gebärden sich, als wollten sie diesem Prinzip erst recht zur Geltung verhelfen - nämlich gegen das bestehende politische System, das ihrer nach Ansicht den wahren Volkswillen missachtet, wenn nicht sogar unterdrückt.
Um sich in diesen Diskussionen orientieren und die vertretenen Ansichten beurteilen zu können, ist es jedenfalls hilfreich, die dabei gern in Anschlag gebrachten Begriffe ein wenig zu klären. Also Begriffe wie "Volk" (bzw. "Nation"), "Wille des Volkes" und eben "Volkssouveränität". Das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn es gibt bestimmt ganze Bibliotheken dazu. Aber als einigermaßen wacher Staatsbürger und Demokrat sollte man schon so halbwegs wissen, wovon da eigentlich geredet wird und was man selbst sagt, wenn man mitredet. Also muss man einfach irgendwo einen Anfang machen und sich weiter durchwuseln. Immer mit dem Mut, sich des eigenen Verstandes bedienen...
Mein Vorschlag für den Einstieg ist der Artikel "Volkssouveränität", den die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Online-Lexikon zur Verfügung stellt. Da dieser Artikel selbst auf die historischen Voraussetzungen des Begriffs V. aufmerksam macht, werden wir nicht darum herum kommen, weitere Literatur zu Rate zu ziehen. Aber gemach - ich gehe selbst als Lernender in diese Diskussion und habe noch keine festen Vorstellungen von ihrem Verlauf. Hinweise und Vorschläge der Teilnehmer sind jedenfalls immer willkommen.
Hier der Anfang des genannten Artikels: "1. Begriffliches". Wie man sieht, ist das sehr kompakt formuliert - im typischen Lexikon-Stil eben. Und typischer Weise tauchen beim Lesen auch sofort die nächsten, weiterführenden Fragen auf...
1. Begriffliches
Seit den bürgerlichen Revolutionen in Nordamerika und Frankreich Ende des 18. Jh.s findet das Sprachsymbol "Volkssouveränität" (V.) als normativer Grundbegriff in der Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaates Verwendung. Auf charakteristische Weise verbindet V. den von Bodin in die neuzeitliche Staatstheorie eingeführten, vom Lateinischen "superioritas" abgeleiteten "Souveränitäts"-Begriff mit dem eher politisch unbestimmten "Volks"- Begriff. V. wird dann im 19. und 20. Jh. zur allgemein anerkannten Bezeichnung für die verfassungsgebende, "konstituierende" Gewalt (pouvoir constituant) und zur Kurzformel für die demokratische Legitimation des Verfassungsstaates in deutlicher Kontraposition einmal gegenüber allen noch nachwirkenden Formen monarchischer Legitimation ("Monarchisches Prinzip"), zum anderen gegenüber den verschiedenen, durch die Systematik der Gewaltenteilung "konstituierten Gewalten" (pouvoirs constitués) Legislative, Exekutive und Judikative, die erst durch den Bezug auf die V. als solche konstituiert werden und Legitimation gewinnen. "Konstituierte Gewalten" in diesem Verständnis sind übrigens auch direktdemokratische oder plebiszitäre Elemente in demokratischen Verfassungssystemen; Einrichtungen wie Volksentscheide, Referenda, Volksabstimmungen etc. können entsprechend nur im Rahmen der vorgegebenen normativen Verfassungsordnung ausgeübt werden; insofern sind sie zwar Ausdruck des Prinzips der V. und durch sie legitimiert; nicht aber die V. selbst. Als konstituierende Gewalt "erschöpft" sich die V. im Akt der Verfassungsgebung; sie bleibt in der Verfassungsordnung "aufgehoben", bis es – aus welchen internen oder externen Gründen auch immer – zu einer Erneuerung des verfassungsgebenden Aktes kommen muss. In den sprachlichen Formeln "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", "Alle Macht kommt vom Volke" etc. hat dieses V.-Prinzip inzwischen Eingang in alle geltenden, auch in die neuesten osteuropäischen Verfassungen gefunden und gehört damit zu den tragenden Legitimationsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates der Gegenwart überall in der Welt.