Tommy hat geschrieben : ↑ Sa 16. Dez 2017, 12:37
dass der Vegetarier der schlechtere Mensch sei, weil er eine angeblich natürliche Fressordnung umkrempelt.
Was heißt hier "angeblich"? Natürlich gibt es diese natürliche Fressordnung. Das wird dir jeder Biologie bestätigen.
Und nein, weil sich jemand aus dieser Ordnung rausnimmt ist er kein schlechter Mensch. Sicher nicht.
Die vegetarische Lebensweise hat genauso ihren Platz in der Natur, wie die carnivore.
Es geht wirklich darum, sich mit dem Wert von Leben auseinanderzusetzen.
Wessen Leben? Nur das Leben der Beute, oder darf es hier auch um das Leben der Räuber gehen?
Nein, natürlich geht es um den Wert des Lebens an sich, auch jener der Menschen, vielleicht sogar in erster Linie der Menschen.
Aber wenn du auf der einen Seite feststellst, dass sich etwas am Verhalten der Menschen auf diesem Planeten ändern muss, dann ist jede Bestrebung, die diese Veränderung stützt, grundsätzlich begrüssenswert. Klar ist, dass der Vegetarismus nicht eine Weltverbesserungsideologie ist (oder so verstanden werden muss), aber ihre ethisch begründeten Ziele decken sich ja mehrheitlich mit dem geforderten Wandel in Richtung eines bewussteren Ressourcenverbrauchs. Wenn man diesen Wandel begrüsst, gar fordert, dann ist die Ablehnung der Gründe für den Vegetarismus kontraindiziert
Man muss ja mit den Gründen nicht einverstanden sein, aufgrund derer jemand vegetarisch lebt, die Konsequenzen kann man dennoch für gut halten. Aber es scheint mir gar viel verlangt, wenn man vom Vegetarier erwartet, dass er seine Gründe für die vegetarische Lebensweise aufgibt oder wenn man ihn vom Unsinn seiner Begründungen überzeugen will. Es ergibt keinen Sinn, weil man niemandem einen Gefallen tut: weder sich selbst, da man ja den Umweltschutz und das Tierwohl fördern will, nicht dem Tier, das von der vegetarischen Lebensweise profitiert, aber auch nicht dem Vegetarier, der sich für seine Überzeugungen rechtfertigen muss, obwohl sie ja gerade niemanden zu schaden beachsichtigen.
Die Frage also, um die es geht, lautet: Wie kann ein sorgvoller Umgang zwischen Mensch und Natur gepflegt werden, ohne dass sich jemand als Verlierer dieses Wandels fühlen muss. Wenn es aber einen Wandel geben soll, bedeutet das, dass nicht alles beim Alten bleiben kann. Auch der Mensch muss sich ändern, ich würde meinen, vor allen anderen Lebewesen.
Die etablierte Fressordnung halte ich denn für eine angebliche, weil wir in der Lage sind, die naturgegebenen Ordnungen zu durchbrechen. Es ist unbestreitbar, dass es Töten und Fressen gibt, Fressen und Gefressenwerden - gar keine Frage. Und dagegen ist nichts einzuwenden. Aber man muss es nicht einfach hinnehmen, wenn man es nicht will. Die Frage ist, ob man es will oder nicht.
Nun halte ich das Argument, dass der Mensch bei all diesen Abwägungen nicht zu kurz kommen dürfe, für relativ schwach. Der Mensch steht ja gerade als erster in der Verantwortung für die Ausbeutung der Natur. Er ist nicht der zu kurz gekommene Erleider eines Unrechts, er ist nicht die unterdrückte Art, vielmehr die unterdrückende. Man kann das eventuell etwas differenzierter darstellen, aber im Grunde ist es doch nicht falsch, von den Menschen etwas mehr abzuverlangen als von allen anderen Arten: erstens, weil er bereits von allen anderen Arten diejenige ist, die über alle anderen Arten verfügt, herrscht und gedeiht, andererseits, weil er über die kognitiven, intellektuellen und industriellen Fähigkeiten verfügt, es zu tun. Von einem Wolf zu verlangen, dass er kein Schaf reisse, das mag gelingen mit Dressur, aber der Wolf ist kein Wesen mit derselben Fähigkeit, seine eigene Natur zu bedenken oder aus eigener Kraft zu durchbrechen. Von einem Menschen zu verlangen, dass er keine Tiere töte, ist in diesem Sinne nicht minder gegen seine mögliche Natur, aber er hat aufgrund seiner Fähigkeiten die Möglichkeit zur bewussten Wahl. Und darum geht es ja, dass wir uns als Individuen betrachten, die frei und aus guten Gründen wählen können. Ein guter Grund kann aber nicht der Hinweis auf die natürliche Fressordnung sein, denn gerade diese ist ja Gegenstand des Unterschieds zwischen Mensch und Tier. Die natürliche Ordnung ist ja gerade die, die uns an die Spitze aller Arten befördert und uns eine kulturelle Seinsweise ermöglich hat: Die Seinsweise des Menschen ist die bewusste, reflektierte und die bedachte. Wenn man auf diese Fähigkeiten verzichtet, verzichtet man auf die volle Entfaltung der Möglichkeiten, die es bedeutet, Mensch zu sein.
Man kann also durchaus carnivor leben, und man ist deshalb dennoch voller Mensch. Man muss sich als Mensch auch nicht davor fürchten, dass man Tieren Leid zufügt aus Gründen des eigenen Fleischgenusses. Man sollte es nur wissen und nicht verdrängen, sondern ganz bewusst in Kauf nehmen, ohne Rechtfertigung mit einem Verweis auf eine natürliche Ordnung, denn diese bedeutet eben nicht die volle Entfaltung des Menschseins. Und man sollte Anerkennung haben für jene Menschen, die mit Rücksicht auf anderes Leben, ihr Leben gestalten: in welcher Form auch immer. Denn sie sind ihrem natürlichen Zwang entstiegen und leben als volle Menschen den rücksichtsvollen Weg.
Man mag den rücksichtsvollen Weg für minderwertig halten oder für unwürdig im Kampf ums Überleben des Stärkeren. Aber das muss man nicht, gerade nicht, wenn man den Wert erkannt hat, den es bedeutet, Rücksicht auf die Natur und ihre Kreaturen zu nehmen. Denn was nützt es dem Stärksten, wenn er als einziger überlebt hat, aber der Preis seines rücksichtslosen Kampfes ist, dass alles andere um ihn untergegangen ist? Wahrscheinlich nichts.