Demokratie ist irrelevant

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Alethos
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Sa 12. Okt 2019, 10:23




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Stefanie
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Sa 12. Okt 2019, 21:35

Spontane, erste Reaktion.
Der letzte Satz des Herrn im Interview lautet: Das ist dumm.

Dumm, und zwar sehr dumm ist es, Drohnen über einen Flughafen fliegen zu lassen und dabei wohl zu denken, ein so grosser Flughafen könne sehr schnell den Flugbetrieb einstellen, so dass keine Menschenleben gefährdet werden. Entweder ist der Mann naiv, oder er nimmt bewusst die Gefährdung von Menschen in Kauf.
Solche Aktionen lehne ich. Und zwar nicht, weil er gegen das Verbot Drohnen fliegen zu lassen, verstößt, sondern weil solche Aktionen gefährlich sind.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Stefanie
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Mo 14. Okt 2019, 21:14

Das ist interessant.

Dieser Artikel über Extinction Rebellion  beschreibt das Gegenteil von dem was der Extinction Rebellion Mitbegründer in dem Artikel von oben sagt, nämlich, dass Demokratie irrelevant sei.
https://www.spektrum.de/kolumne/endlich ... en/1679818

Aus dem Artikel:
Vielleicht zielen »Vice« und »Zeit« mit ihrer Kritik auf die anderen beiden Forderungen: Die Regierungen sollen den Klimanotstand ausrufen und Bürgerversammlungen mit zufällig ausgewählten Volksvertretern einberufen, in denen über die notwendigen Maßnahmen diskutiert und entschieden wird. Das klingt nicht nach Rebellion, sondern fast schon staatstragend. Die Forderungen, merkt »Vice« mit einiger Skepsis an, »hängen allesamt von der Dialogbereitschaft der Politik ab«. Zudem lässt Extinction Rebellion offen, auf welchem Weg das Klima, die Artenvielfalt und die natürlichen Ressourcen geschützt werden sollen, denn das sollen schließlich die Bürger bestimmen. Man kann das als unkonkret bezeichnen, aber auch als demokratisch.

Die Kommentatoren verkennen das revolutionäre Potenzial der Forderungen: Im Rahmen des demokratischen Prozesses und mit einem gerechten Ausgleich aller Interessen, so die Aktivisten, lässt sich die Klimakrise noch einigermaßen bewältigen – zumindest können wir hoffen, gemeinsam die größten Schäden abzuwenden oder wiedergutzumachen
.

Der Mitbegründer sagt, Demokratie sei irrelevant, und eine der Forderung der Gruppe ist ein demokratischer Prozess.
Irgendwie widersprüchlich.



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Alethos
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Mo 14. Okt 2019, 21:43

Stefanie hat geschrieben :
Sa 12. Okt 2019, 21:35
Spontane, erste Reaktion.
Der letzte Satz des Herrn im Interview lautet: Das ist dumm.

Dumm, und zwar sehr dumm ist es, Drohnen über einen Flughafen fliegen zu lassen und dabei wohl zu denken, ein so grosser Flughafen könne sehr schnell den Flugbetrieb einstellen, so dass keine Menschenleben gefährdet werden. Entweder ist der Mann naiv, oder er nimmt bewusst die Gefährdung von Menschen in Kauf.
Solche Aktionen lehne ich. Und zwar nicht, weil er gegen das Verbot Drohnen fliegen zu lassen, verstößt, sondern weil solche Aktionen gefährlich sind.
Solche Aktionen sind gefährlich, noch gefährlicher ist aber ideologisch motivierte Demokratiefeindlichkeit.
So sehr ich mit den Anliegen der Bewegung sympathisiere, so sehr kann ich es nicht begreifen, wenn man sich zur Aussage versteigt, Demokratie sei irrelevant. Was bedeutet das denn in Konsequenz gedacht? Dass Drohnen über den Flughafen fliegen sollen oder sich Menschen mit Ankettungs-Aktionen gegen die Staatsgewalt auflehnen, das ist ja noch harmlos, aber wenn die Ansicht ist, dass Demokratie irrelevant sei, dann heisst das doch, dass auch Menschen irrelevant sind, denn das ist ja Demokratie: eine von Menschen für Menschen gemachte Teilhabe am politischen Miteinander. Drohnenattacken sind hier nur den Anfang, Bombenattentate auf Banken oder Grosskonzerne der nächste oder übernächste Schritt. Denn wenn man schon Demokratie für irrelevant erklärt, dann auch alle (universal geltenden) mit ihr verknüpften Rechte, oder? Das ist dann ökoterroristisches Gedankengut - und brandgefährlich.



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sokrates_is_alive
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Sa 26. Sep 2020, 16:09

Ich nehme zwei Äußerungen Hallams im Interview zum Anlass für weiterführende Fragen:
1. "Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant. Dann kann es nur noch direkte Aktionen geben, um das zu stoppen."
2. Hallam sagt: "Unsere Eliten führen uns in diese Heroinzone, in die letzten Stufen der CO2-Katastrophe."

Ich beginne mit 2. Hallam, der sich selbst als "struktureller Soziologe" bezeichnet, geht davon aus, dass strukturelle Parameter soziale Strukturen unabhängig von Intentionen und Handeln der Akteure prägen. Hallam scheint "prägen" inhaltlich durch "determinieren" zu ersetzen. "Prägen" würde ich noch mittragen, bei Determiniertheit kommen wir in die Grundsatzdiskussion des Determinismus. Im vorliegenden Fall geht Hallam allerdings davon aus, dass Eliten (auch dieser Begriff und die genaue Benennung wären diskussionswürdig) die Strukturen so gestalten, dass wir - falls wir uns an "die Spielregeln" halten - diese Strukturen und damit die Machtansprüche und die Bedeutungshoheit der Eliten nicht durchbrechen und damit Missstände nicht beseitigen können, die uns existenziell bedrohen. Dies würde zutreffen, wenn der Nachweis gelänge, dass es erstens zwei oder mehrere in der jeweiligen "Einheit" homogene Eliten gibt, die das gemeinsame Ziel verfolgen - im vorliegenden Fall etwas platt und undifferenziert - "weiter so" um z.B. den eigenen Profit zu maximieren und zweitens diese nur durch ein Brechen der Regeln von ihrem schädlichen Verhalten abgebracht werden können. Betrachte ich politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Eliten, so erscheint mir die suggerierte Einheit der Eliten gegenüber "der Masse" nicht vorzuliegen, dafür gibt es zu viele kritische Stimmen in den genannten Eliten selbst. In vielen Bereichen hat "die Masse" durchaus großen Einfluss durch Kaufverhalten, Verweigerung von Zuschreibungen etc. Hallam wirft nun allerdings der Gesellschaft unmoralisches Handeln vor. Dass wäre dann also die Masse. Die Frage könnte zugespitzt lauten: Handelt die Masse nach Hallam unmoralisch, weil sie unmoralisch ist oder weil die geschaffenen Strukturen sie zur Unmoral verdammen? Das kurze Interview reicht hier nicht zu einer angemessenen Beurteilung aus. Dennoch mündet Punkt 2. zu Beginn konsequenterweise in Punkt 1. Die unmoralische Handlungsweise der Gesellschaft (also der Masse?) rechtfertigt für Hallam das bewusste Verletzen oder Ignorieren gesetzter Spielregeln, so interpretiere ich zumindest sein Verständnis von direkter Aktion. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass ein Einzelner oder eine Gruppe für sich die Legitimation beansprucht, festzusetzen, was unmoralisch ist und dieses mit allen, auch bzw. im vorliegenden Fall gerade außerhalb der "gesellschaftlichen Spielregeln" stehenden Mittel durchzusetzen - etwa "Der Zweck heiligt die Mittel" und "ich weiß, was für euch gut ist".
Diese verkürzt dargestellte Form der Opposition hat in der Tat eine lange Geschichte. Es macht für mich jedoch einen erheblichen Unterschied, ob sich eine Gruppe an die Spitze einer Mehrheit stellt, die keine anderen Möglichkeiten zur Willensäußerung und zum Eingreifen hat, oder ob man den langen, schwierigen und mit vielen Rückschlägen versehenen Weg von Demonstrationen, Eingaben, Petitionen und Überzeugungsarbeit mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit einfach für obsolet erklärt. Die Diskussion innerhalb der Umweltaktivisten, aber auch verschiedenen, nicht in Vereinen/ Gruppen organisierten Akteuren zeigt, dass Hallam durchaus nicht unumstritten ist und wohl nicht die Mehrheit der Umweltaktivisten repräsentiert.
Glaube, es gibt genug Diskussionsstoff - auch abstrakt vom Einzelfall.



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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