Postmoderne Ethik und Politik

Ethische Fragen und ihre rationale Begründbarkeit bewegen das philosophische Denken in einer Zeit, in der die Politik wieder über "Werte" debattiert und vertraute Grundlagen des politischen Handelns zur Disposition stehen.
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Schimmermatt
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So 29. Mär 2020, 19:47

Ich habe hier einen Text von mir reaktiviert, den ich bereits vor Jahren mal geschrieben habe, mit der Absicht, mir die Struktur weltanschaulicher Positionen etwas genauer anzusehen.

Eine sehr wichtige Analyse hat zu diesem Thema Panajotis Kondylis beigetragen, der erkannte, dass erkenntnistheoretische Implikationen immer in einem engen Verhältnis zu moralisch-weltanschaulichen Positionen stehen. Die Aufwertung der Sinnlichkeit etwa, die während der rationalistischen Neuzeit starken Auftrieb bekam, war als Antagonismus gegen die vorthomistische Scholastik intendiert, welche in allzu platonischer Tradition die Wahrheiten rein im intellektualistischen Geiste witterte. Es steht anzunehmen, dass nicht bloße Erkenntnistheorie (diese Disziplin der Philosophie war damals noch unbekannt, eine Epistemologie, welche sich von der theologischen Ontologie unterscheidet, gabe es noch nicht) das Ziel dieser Neubewertung war, sondern ein herrschaftliches Interesse an der Brechung der scholastischen Dogmatik.

Insofern ist alles Denken polemisch, um es mit Kondylis auszudrücken, oder kritisch, falls man der arendt'schen Diktion zuneigt. Allerdings gilt es, den Nihilismusverdacht auszuräumen, weshalb der totale Relativismus, wie er zum Beispiel in pantheistischen Konzeptionen (Spinoza, aber auch in Ansätzen bei Nikolaus von Kues) oder offen atheistischen Weltanschauungen zum Tragen kommt, zu vermeiden war (und ist). Aus diesem Grunde bildeten sich innerhalb des neuzeitlichen Spektrums, welches sich durch Emanzipationsbemühungen von der strammen Autorität der Scholastik kennzeichnen lässt, wiederum Antagonismen aus. Das polemisch-kritische Moment des Denkens findet sich zwischen der recht extremen intellektualistischen Front der Scholastik und der nicht minder extremen materialistischen Sinnlichkeit wieder. Letzteres Extrem hatte die Philosophie in ihrer Bemühung um Ablösung der Theologie als primäre Wissenschaft selbst mit beschworen - nun graut es manchem vor den Geistern (bzw dem Mangel an "Geist") die gerufen worden waren und die positionelle Abgrenzung nach links und rechts fällt bisweilen schärfer antimaterialistisch aus, als eine in Abgrenzung zur Theologie entstandene Philosophie vermuten lassen würde. Der Antagonismus entbrennt von Neuem, denn nun streitet man innerhalb des neuzeitlichen Spektrums um die Schlüsselbegriffe der Epoche, etwa um "Vernunft" und "Natur" - manch einer bedient sich alter Argumente um eine idealistische Position zu verteidigen und damit letztlich die althergebrachte Ordnung der Welt zu retten. Jetzt zeigt sich, weshalb der Dualismus, nicht nur der kartesische, solch starke Überlebensfähigkeit hat. Er ist nämlich seit Platon die unangreifbarste, flexibelste und konservativste Denkschule und erhält in besonders erfolgreicher Weise die traditionellen Werte.

Ein Monismus verneint entweder die Domäne des Geistes oder die der Materie (bzw subsumiert den Bereich des einen unter den des anderen). Erkenntnistheoretisch hat dies entweder intellektualistischen Rationalismus oder sensualistischen Empirismus (als extreme Idealtypen) im Gepäck. Interessant ist aber die anthropologische und letzten Endes impliziert ethische Bewandnis: Entweder gibt es das Primat der ratio, welches die traditionelle christiche Auffassung der "great chain of being" nach sich zieht, oder wir sind Individuen unter Gleichen, wie es eine egalitäre Demokratie, aber auch ein nihilistisches Anarchiegebaren (solange sie keine Änderungsvorschläge am status quo macht, denn dann setzt sie ja wieder auf die Überzeugungskraft des Arguments, also der ratio) beschreibt. Beide Seiten sind sehr radikal und würden einen dialektischen Diskurs in ihrer Reinform wohl nicht überleben - aus diesem Grunde geben sich Philosophen, die sich nicht selbst für die Öffentlichkeit irrelevant machen wollen, stets ein wenig dualistisch. Leibniz gibt der metaphysischen Substanz gleich der aristotelischen Entelechie nicht nur die Metaphysik, sondern auch die Phänomenologie mit auf den Weg. Kant behält das Intelligible, aber auch das Sensigible in der Anthropologie bei. Sehr einseitig verfahrende Vertreter aus Metaphysik oder Sensualismus machen sich schnell irrelevant oder dem Verdacht der Ideologie verdächtig - etwa Spinoza, Lenin oder Berkeley. Ich sehe persönlich auch die "neuen Realisten", die sich hier in diesem Forum recht guter Beliebtheit erfreuen, als wenigstens vage einem Substanzdualismus angehörig, wenngleich die behauptete Metaphysiklosigkeit so etwas nicht gerne hört.

Lange Rede, kurzer Sinn, was hat das alles mit der postmodernen Vernunft zu tun, die sich selbst auch kritisch gegenüber steht?

Kurz gesagt: diese selbstkritische Haltung ist in der späten Moderne nicht mehr en vogue. Das oben geschilderte Machtinteresse hinter scheinbar neutralen, rationalen erkenntnistheoretischen Positionen wird zwar keinesfalls zugegeben, aber die Wirkmächtigkeit guter Rhetorik, die sich immer eng an den Menschen und sein Wohlgefühl anschmiegt, spricht eine eigene, unmissverständliche Sprache. Und der Erfolg gibt zB politischen Akteuren in aller Welt derzeit ziemlich Recht: wen interessiert es, dass Trump sechs Wochen Zeit vergeudet hat, in denen er prahlerisch über das Coronavirus lachte? Die Zustimmungsraten zum "anpackenden Krisenmanager" steigen gerade mal wieder, der besonnene und seit Wochen warnende Joe Biden sitzt derzeit einsam in Delaware herum. Jair Bolsonaro könnte seine zynische Wette gewinnen, dass in zweieinhalb Jahren bei seiner Wiederwahl kaum noch einer diese eh nicht zu meisternde und ohnehin globale Krise mit etlichen alten und schwächlichen Toten im Gedächtnis hat, aber seine Wirtschaftswerte, was ist schon so rational wie Zahlen?, schon! Mehr denn je scheint zu gelten, dass erstens Macht Recht schafft und zweitens die Wahrheit im Auge des Betrachters liegt - was ganz schlecht für die Wahrheit selber ist! Ganz langsam dämmert es den jubelsingenden Claqueren der postmodernen Freiheit, dass wir alle verlieren. Sade, Nietzsche, sie schienen Recht zu haben, dass "Wahrheit" eine gute Rhetorik für die Massen abgibt, aber ein schwaches Philosophem...



"Manche Leute werden heutzutage langsam wahnsinnig. Ich schnell." C. Schlingensief

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