Grenzen, offene Grenzen, keine Grenzen

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
Jörn Budesheim
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Mi 29. Jan 2025, 13:50

Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 29. Jan 2025, 12:22
Ich würde gerne verstehen, wie man #87597 und #87626 miteinander vereinbaren kann.
In Beitrag 87626 hab ich einen Link zu einem längeren Beitrag mit Pro & Con von Deutschlandfunk.de zum Thema gepostet, inklusive zweier Beispiele; dort werden verschiedene, natürlich auch kontroverse Ansätze diskutiert, die sind logischerweise nicht alle mit meiner Postion vereinbar.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 29. Jan 2025, 12:22
ich wüßte gerne, wie aus der Gleichheit aller die Individualität aller hervorgeht
Die Gleichheit an (z.B. Menschen-)Rechten soll Möglichkeit der Individualität aller garantieren, weil sie (neben anderem) die Möglichkeit der Selbstbestimmung garantieren soll.
Wolfgang Endemann hat geschrieben :
Mi 29. Jan 2025, 12:22
ich wüßte gerne, [...] wie man sich selbst bestimmen kann, ohne sich mit dieser Bestimmung von anderem abzugrenzen.
Selbstbestimmung kann idealtypisch auf zwei Weisen geschehen: durch Selbstzuschreibung oder durch Abgrenzung. Man kann sich positiv selbst bestimmen, ohne sich negativ von anderen abzugrenzen. Unterschiede sind nicht per se Grenzen, die man ziehen muss.
  • Selbstzuschreibung / expressive / positive Identität: Wer sich (aus sich) selbst bestimmt, sagt: Ich bin Künstler, ich bin Hedonist, ich bin dies und jenes. Die Identität entsteht hier primär aus eigenen Werten, aus etwas, das man positiv ist/sein will. Sie wird positiv bestimmt, nicht primär in Abgrenzung, also negativ.
  • Abgrenzung / reaktive / negative Identität: Anders ist es, wenn man sich wesentlich über das bestimmt/abgrenzt, was man nicht ist. Dann sagt man: Ich bin nicht wie die Spießer, ich bin keiner von den Mitläufern. Identität formt sich hier nicht primär aus eigenem positiven Selbstverständnis, sondern negativ im Gegensatz zum Anderen. Das geht schon her in Richtung Grenzziehung.
Das ist natürlich nur eine grobe, holzschnittartige Skizze. Wichtig ist jedoch: Selbstbestimmung erfordert nicht zwingend das Ziehen von Grenzen, schon gar nicht nationaler Grenzen – Unterschiede (keine Grenzen!) können auch aus positiver Selbstbestimmung entstehen. Selbstzuschreibung und Abgrenzung sind zwar nicht immer trennscharf, sondern können sich auch ergänzen und beeinflussen, aber ich kann auf keinen Fall sehen, dass positive Selbstbestimmung nationale Grenzen braucht. Es gibt unzählige andere Formen der Selbstbestimmung: über Berufe, Überzeugungen, Beziehungen, Lebensweisen. Eine Welt ohne nationale Grenzen nimmt diese (und tausende andere) Möglichkeiten nicht weg. Vielleicht erweitert eine solche Welt sie sogar, weil zum Beispiel den freien Zugehörigkeitsgefühlen keine nationalen Grenzen gesetzt wird.

*negative Identität gibt es erstaunlich oft auch bei Künstler:innen, manchmal wird dabei übersehen, dass man sich damit in fataler Weise abhängig vom "Gegner" macht - aber das ist ein anderes Thema



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Quk
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Mi 29. Jan 2025, 19:14

Auf CSU-Parteitagen in Bayern ist oft zu hören: "Wia san wia!"

Welche Polarität hat so eine Gruppierung? Ist sie negativ oder positiv?




Jörn Budesheim
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Mi 29. Jan 2025, 19:27

Das ist meines Erachtens (so wie es da steht, für sich genommen) offensichtlich keine positive Bestimmung, sondern eine negative. Wir sind wir - und nicht ihr.

Mit Polarität hat es aber eigentlich nichts zu tun.



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Wolfgang Endemann
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Mi 29. Jan 2025, 19:35

Ein gesundes Selbst ist ein Selbst, das seine Grenzen kennt - sagt uns die Wissenschaft. Jeder, der Kinder hat, weiß, daß man Kindern Grenzen setzen muß, sonst werden sie asozial. Eine Gesellschaft, nicht nur eine nationale, aber besonders die, braucht Rechtssicherheit, einen Gesellschaftsvertrag, in dem geregelt ist, was man darf und was nicht. Aber darüber muß man sich einigen, und es gibt sehr unterschiedliche Arten, auf die man sich einigen kann. Nationale Grenzen bestehen darin, daß sie den Gültigkeitsbereich dieser Selbstbestimmung markieren. Dabei geht es nicht nur um Freiheitsrechte, sondern auch um soziale Pflichten. Die Rechte und Pflichten gelten nicht überall, können gar nicht überall gelten, sonst gäbe es keinen Pluralismus von Werten. Wenn Werte eine Realität haben sollen, grenzen sie sich von anderen ab.

Die Sicht, Geschichte als einen gerichteten Prozeß der Entgrenzung zu sehen, ist grundfalsch. Die Verbürgerlichung ist eng an die bürgerliche Nationenbildung gegen den grenzenlosen feudalen Universalismus gebunden. Der Mensch wird nicht als Weltbürger geboren, und nicht mit universalen Menschenrechten. Wenn wir in irgendeinem Sinn von richtig und falsch reden können, so ist das nicht angeboren, sondern Ergebnis unserer Erfahrungen. Unsere kindliche Erfahrung ist eine sehr enge Nahwelt, die sich dann weitet, aber auch für die menschliche Population setzt die Welterfahrung relativ spät ein, mit Handelsvölkern, lange nach dem seßhaft werden. und dann gibt es den Imperialismus, in dem der ganzen Welt eine imperiale Ordnung aufgezwungen werden soll. Dagegen formiert sich der Regionalismus.

Kurz: Ich habe weder Verständnis für einen Provinzialismus noch für die ein-/allseitige Entgrenzung. Ich möchte mir die pointe nicht entgehen lassen, daß viele Migranten die Grenzen zu überwinden suchen, um innerhalb sicherer Grenzen zu leben, zB die Religionsfreiheit, die erlaubt, einen sich abgrenzenden Glauben zu praktizieren, ich muß wohl mit dem Gesang des Muezzin in unserer Nachbarschaft leben.




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Quk
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Mi 29. Jan 2025, 19:36

Vielleicht kommen wir in der Diskussion weiter, wenn wir auf den Kulturinhalt schauen anstatt auf die Polarität bezüglich Abgrenzung und Zuschreibung?

Meine Mentalität beispielsweise gehört zu einer Gruppe, in der man es bunt mag. Ich fühle mich im Bunten zuhause. Ich grenze mich ab vom Uniformierten; ich wähle also für mich die Abgrenzung vom Uniformierten; die Abgrenzung ist negativ, gleichwohl ist meine selbstbestimmte Wahl etwas positives. Nun liegen bei mir also beide Polaritäten vor. Ist das paradox? Aber wenn ich auf den Inhalt schaue, sehe ich: Das Bunte per se beinhaltet auch Exemplare verschiedener Uniformierter. Das Bunte ist vielgestaltiger und somit aufnahmefähiger -- während umgekehrt das Uniformierte nichts buntes aufnimmt. Die Formalität von negativ und positiv ist also womöglich zu abstrakt und vielleicht sogar paradox. In der Frage nach der Art der Grenzbetrachtung ist der konkrete Inhalt einer Kultur vielleicht ausschlaggebender?




Jörn Budesheim
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Mi 29. Jan 2025, 19:44

Wir kommen vielleicht weiter, wenn wir auf die Ausgangsfrage schauen, können wir uns selbst bestimmen ohne Nationalität? Ich stelle mir vor, ich wäre in einer Welt ohne Nationen geboren, könnte ich dann keine Identität bilden? Natürlich könnte ich es dennoch.



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Quk
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Mi 29. Jan 2025, 20:02

Selbstbestimmung benötigt Raum. Wenn ich in einem Saal bin, in dem bayrische Blasmusik gespielt wird, möchte ich fliehen. Ich fliehe in den Nebenraum, wo es still ist. Die Tür zwischen den Räumen ist nicht verschlossen. Jeder kann von einem Raum in den anderen wechseln. Nun kommen immer mehr Leute in den stillen Raum und es wird eng. Jetzt gibt es ein Problem mit der Position der Trennwand. Zwei Möglichkeiten: Sie wird verschoben, oder sie wird aufgelöst. Wenn sie aufgelöst wird, ist im nun vereinigten Raum bayrische Blasmusik zu hören und die Stille ist verschwunden.




Pragmatix
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Mi 29. Jan 2025, 21:08

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 27. Jan 2025, 16:28
15-jährige Schülerin hat geschrieben : In einer Zukunft ohne Landesgrenzen lebt die Menschheit als globale Gemeinschaft, in der nationale Interessen durch ein gemeinsames Ziel ersetzt werden: eine friedliche, gerechte und nachhaltige Welt.
Wohin gehen die Menschen dann ins Exil, die dort nicht leben möchten?




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Consul
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Do 30. Jan 2025, 05:01

Quk hat geschrieben :
Di 28. Jan 2025, 10:09
Bei Popper habe ich übrigens auch mal eine Bemerkung über Nationalgrenzen gelesen. Er würde sie auch gerne auflösen. Aber es gibt dabei ein Problem. Leider finde ich die Stelle nicht mehr; meine Popper-Bücher sind alle aus Papier. Vielleicht weiß Consul, der Quellen-Experte, eine digitale Quelle.
Meinst du diese Stelle?
"[E]in Staat kann nie, wie ein Bürger, eine «natürliche» Einheit sein; ein Staat hat keine natürlichen Grenzen. Die Grenzen eines Staates verändern sich und können sich nur durch Anwendung des Prinzips eines Status quo, definieren lassen; und da sich jeder Status quo auf ein willkürlich gewähltes Datum beziehen muß, so ist die Bestimmung der Grenzen eines Staates eine rein konventionelle Angelegenheit.

Der Versuch, «natürliche» Grenzen für einen Staat zu finden und den Staat dementsprechend als eine «natürliche» Einheit zu betrachten, führt zum Prinzip des Nationalstaates und zu den romantischen Fiktionen des Nationalismus, der Rassenlehre und dem Stammesmythos. Aber das Prinzip des Nationalstaates ist nicht «natürlich» und die Idee, daß es natürliche Einheiten gibt, wie Nationen, oder sprachliche oder rassisch einheitliche Gruppen, ist völlig fiktiv. Hier, wenn überhaupt, sollten wir von der Geschichte lernen; denn seit dem Beginn der Geschichte haben sich die Menschen ständig gemischt, vereinigt, getrennt und wieder gemischt; und das kann nicht ungeschehen gemacht werden – selbst wenn es wünschenswert wäre.

Die Analogie zwischen dem zivilen und dem internationalen Frieden bricht auch noch an einer zweiten Stelle zusammen. Der Staat hat die Aufgabe, die individuellen Bürger, seine Einheiten oder Atome, zu beschützen; aber die internationale Organisation muß in letzter Linie gleichfalls menschliche Individuen beschützen – nicht aber ihre Einheiten oder Atome, d. h. die Staaten oder Nationen.

Die völlige Aufgabe des Prinzips vom Nationalstaat (ein Prinzip, das seine Popularität nur dem Umstände verdankt, daß es die Stammesinstinkte anspricht und daß es die billigste und sicherste Methode ist, mit der ein Politiker, der nichts Besseres zu bieten hat, seinen Weg machen kann) und die Einsicht in die notwendigerweise konventionellen Grenzen aller Staaten sowie die weitere Einsicht, daß auch internationale Organisationen nicht auf Staaten und Nationen, sondern letztlich doch wieder auf menschliche Individuen zu achten haben, wird uns helfen, die Schwierigkeiten zu erkennen und zu überwinden, die sich aus dem Zusammenbrechen unserer fundamentalen Analogie ergeben."

(Popper, Karl R. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1: Der Zauber Platons. Übers. v. P. K. Feyerabend. 4. Aufl. München: Francke (UTB), 1975. S. 686-7)



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Quk
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Do 30. Jan 2025, 07:11

Ah, danke! Es überrascht mich gerade ein bisschen, dass das Thema schon in diesem recht alten Buch von 1945 vorkommt. Das hatte ich vergessen. Ich dachte, ich hätte in seinen letzten Texten so um 1990 herum auch etwas darüber gelesen. Die Argumentation kann ich absolut nachvollziehen und die Idee finde ich nach wie vor schön, nur: Ist sie mit den derzeitigen Mentalitäten umsetzbar? Die Mehrheit der Menschheit müsste deutlich ihre Haltung ändern. Diese Bedingung gehört zur Vision dazu, denke ich.




Pragmatix
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Do 30. Jan 2025, 09:37

Quk hat geschrieben :
Do 30. Jan 2025, 07:11
Ah, danke! Es überrascht mich gerade ein bisschen, dass das Thema schon in diesem recht alten Buch von 1945 vorkommt. Das hatte ich vergessen. Ich dachte, ich hätte in seinen letzten Texten so um 1990 herum auch etwas darüber gelesen. Die Argumentation kann ich absolut nachvollziehen und die Idee finde ich nach wie vor schön, nur: Ist sie mit den derzeitigen Mentalitäten umsetzbar? Die Mehrheit der Menschheit müsste deutlich ihre Haltung ändern. Diese Bedingung gehört zur Vision dazu, denke ich.
Es ist ein weiterer Entwurf eines Idealstaates. Alle diese Entwürfe basieren in der einen oder anderen Weise auf dem Gedanken, dass „die Menschheit deutlich ihre Haltung ändern müsste“. Das ist der Kern aller Idealstaatsphantasien. Am Ende dieser utopischen Entwürfe steht die Theorie des Weltstaates.

Alexander Demandt schreibt zu dieser finalen Version des Weltstaates, wie er in dem Aufsatz der 15-jährigen skizziert wurde:
Das Wort multi-, ultra-, trans-oder international ist ein alles nobilitierendes Wertprädikat, Kosmopolitisierung eine Fortschrittsdevise. Im Bereich der Wirtschaft gelingt ein Zusammenschluss vielleicht durch Verträge zum gegenseitigen Nutzen, im Bereich der Politik dagegen, wo Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden sollen, geht es um Macht. Ökonomisch profitieren können alle im Verbund, herrschen hingegen kann nur einer. Der mächtigste Partner übernimmt die Ordnungsaufsicht, Polizeigewalt mit police bombing und Drohung mit nuklearen Waffen, im Weltstaat ganz legal. Eine unanfechtbar hegemoniale Position tendiert zu einer unkontrollierbar totalitären Politik. Aus dem Weltstaat kann man nicht emigrieren, die elementarste politische Freiheit entfällt. So bringt auch der Weltstaat den Idealstaat nicht, und es bleibt bei dem bescheidenen Vorschlag Marc Aurels: „Hoffe nicht auf Platons Staat, sondern sei zufrieden, wenn es in kleinen Schritten vorangeht. Und achte auch ein solches Ergebnis nicht gering, denn die Haltung der Menschen wirst du nicht ändern.“

Alexander Demandt, Der Idealstaat, Vandenhoek-Ruprecht, S.445




Wolfgang Endemann
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Do 30. Jan 2025, 12:20

Pragmatix hat geschrieben :
Do 30. Jan 2025, 09:37


Es ist ein weiterer Entwurf eines Idealstaates.
Sehr gut von Alexander Demandt analysiert.
Der Idealismus von Popper ist selbst nur eine Ideologie. Das liegt daran, daß Idealismus und Realismus getrennt sind, nicht in ihrer Dialektik begriffen werden. In diesem Fall ist es ein Idealismus, der die Realität der Macht ausblendet. Gleiche Rechte (und Pflichten) sind keine, wenn der eine mächtig ist, der andere schwach, ohnmächtig. Für Gleichheit einzutreten, ohne die materielle Ungleichheit zu bekämpfen, ist ein (Selbst-)Betrug. Gleichheit unter Ungleichen bedeutet Zementierung der Ungleichheit. Wenn der Reiche und der Arme 1000€ Steuern zahlen müssen, ist der Arme ruiniert, den Reichen juckt das überhaupt nicht. Nun, so schlimm ist es ja nicht bei uns. Der Reiche muß mehr Steuern zahlen. Aber die Ungleichheit wächst, statt vermindert zu werden. Wenn alle 4% des Staatshaushalts in Rüstung investieren müssen, ruiniert das die schwachen Länder, macht die reichen noch mächtiger und führt zu einer Politik der Starken, zum Recht des Stärkeren. Mehr Gleichheit ist nur zu erreichen, wenn die Reichen sich selbst beschränken, oder die Armen sich zusammenschließen und den Reichen die Macht entreißen.

Kommen wir auf die offenen Grenzen zurück. Wenn die Gleichheit nur Bewegungsfreiheit meint, nicht auch (im Wesentlichen) Gleichheit der Lebensbedingungen, ist sie eine perfide Lüge. Man möge also erklären, wie man Migranten aufnehmen kann, ohne die Ungleichheit zu erhöhen. Dann und nur dann ist sie gerechtfertigt, sogar geboten. Und selbstverständlich muß man Menschenleben ohne Vorbehalte retten, denn die größte Ungerechtigkeit ist, daß einer leben darf, ein anderer sterben muß. Diese Logik, und ich kenne keine andere, spielt in den "demokratischen", "Menschenrechts"-Parteien eine untergeordnete Rolle, die meisten, nicht alle, sind Heuchler, die sich in einem guten Gewissen betten, ohne den Preis dafür zahlen zu wollen. Das gilt auch für einen Großteil derer, die sie wählen.

Zum anderen liegt der Wahlerfolg der Heuchler daran, daß Sozialisation/Ausbildung ungleich zugute gekommen, angeborene Intelligenz ungleich verteilt ist, und Wissen im Eigeninteresse als Macht eingesetzt wird, die Schwachen lassen sich manipulieren, auch hier müßten Politiker gegen ihre Interessen agieren, wenn sie für Ausgleichung eintreten wollten. In der Realität wirkt also vieles ungleichheitsverstärkend. Unter diesen Bedingungen ist die Forderung "nieder mit den Grenzen" einfach naiv. Es ist immer zu fragen, ob Grenzen allgemein die Freiheit einschränken oder Schutz gewähren. Es ist soziale Blindheit, die andere Seite, die Kehrseite der Freiheit nicht zu sehen, Freiheit ohne Verantwortung.




Jörn Budesheim
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Fr 31. Jan 2025, 11:37

Quk hat geschrieben :
Mi 29. Jan 2025, 19:36
Die Formalität von negativ und positiv ist also womöglich zu abstrakt und vielleicht sogar paradox.
Ich kann daran weder etwas Formales, Abstraktes noch etwas Paradoxes erkennen. Zumal ich auch Beispiele genannt habe. Hier ein weiteres: Hans, 16 Jahre, möchte nicht wie seine Eltern werden. Das ist keine positive Selbstbestimmung, weil es nicht besagt, wie er werden will, sondern nur wie er nicht werden will. Das Gleiche gilt für die Idee, nicht uniformiert sein zu wollen. Also: Hans "grenzt" sich von seinen Eltern ab, aber für seine Identität liefert das praktisch nichts, weil er damit natürlich immer noch nicht weiß, wie er sein sollte, er weiß nur, wie er nicht sein will. Anders, als oben behauptet wurde, hilft ihm die Grenze (die Abgrenzung) allein also nichts oder fast nichts. Was ist stattdessen braucht, ist eine positive Selbstbestimmung, diese etabliert damit natürlich auch einen Unterschied, aber die logischen Verhältnisse sind anders. Die Abgrenzung liefert noch keine Identität, während eine positive Bestimmung zugleich einen Unterschied liefert. 

Ein anderer Punkt: Bei all den Analogien, z. B. auch die mit der Musik, aber nicht nur deinen, wird nicht erläutert, wie man sie auf die Frage nach den Staatsgrenzen anwenden sollte. Eine Staatsgrenze kann zwar eine Mauer sein, muss aber nicht. Staatsgrenzen sind eher rechtlich/politische Entitäten, die man nicht ohne weiteres mit dreidimensionalen Gebilden wie Wänden in einem Haus oder Unterschieden von Eigenschaften (bei der identitätsfindung einer Person z.b.) vergleichen kann. 

Ich sehe in den Texten keine Argumente, die dafür sprechen, dass man Staatsgrenzen braucht, um sich eine Identität zu schaffen, das halte ich für komplett abwegig.



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Fr 31. Jan 2025, 13:37

Schönes Fundstück: "Du kennst mich doch, ich hab' nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!" Methusalix, in Asterix und Obelix



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Fr 31. Jan 2025, 15:56

Quk hat geschrieben :
Do 30. Jan 2025, 07:11
die Idee finde ich nach wie vor schön, nur: Ist sie mit den derzeitigen Mentalitäten umsetzbar? Die Mehrheit der Menschheit müsste deutlich ihre Haltung ändern. Diese Bedingung gehört zur Vision dazu, denke ich.
Die Frage, ob geschlossene Staatsgrenzen ethisch vertretbar sind oder ob die Öffnung einer Staatsgrenze ethisch sinnvoll ist, kann meines Erachtens unabhängig davon diskutiert werden, ob die Voraussetzungen für diese Öffnung oder Schließung gegenwärtig schon gegeben sind. Gleiches gilt für die Frage, ob alle Staaten zugunsten eines demokratischen Weltstaates abgeschafft werden sollten. Bevor man sich fragt, ob (oder unter welchen Bedingungen) die Sache pragmatisch machbar ist, sollte man doch wissen, ob die Sache überhaupt richtig ist, oder?

Ich könnte mir auch vorstellen, dass es so etwas wie eine Staffelung der Ziele oder Zwischenziele geben könnte. Wenn es z.B. das Ziel ist, einen föderalen Weltstaat zu schaffen, dann kann man vielleicht erst einmal daran arbeiten, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, und als Zwischenschritt vielleicht die Grenzen öffnen und so weiter.

Darüber hinaus finde ich es in einem philosophischen Forum durchaus angemessen, Utopien durchzuspielen, auch wenn klar ist, dass sie in den nächsten Jahrzehnten sicher nicht umgesetzt, wahrscheinlich nicht einmal angegangen werden.



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Pragmatix
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Fr 31. Jan 2025, 19:35

Zum Durchspielen gehört der Gedanke, wer dann regiert und wohin man emigrieren kann.




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Fr 31. Jan 2025, 22:44

Nachtrag: Wenn es keine Grenzen gibt, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder es gibt nur eine staatliche Ordnung, die Recht und Gesetz überall durchsetzt, wie Demandt das beschrieben hat. Dann gibt es keine Möglichkeit, zu emigrieren. Oder es gibt gar keine staatliche Ordnung, es herrscht das Recht des Stärkeren, wie etwa Cormac McCarthy sie in seinem Roman „Die Straße“ beschreibt.

Der Nationalstaat entwickelte sich als Folge des 30-jährigen Krieges. Religion und Kirche konnten das Individuum nicht mehr garantieren, ihre Ordnung nicht mehr durchsetzen. Es bedurfte eines anderen Garanten. Das war der Nationalstaat, der das bis heute geblieben ist.




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Quk
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Fr 31. Jan 2025, 22:45

"Hans will nicht so sein wie seine Eltern." -- Dieser Ausschluss-Satz impliziert folgenden Einschluss-Satz:

"Hans will alles andere sein nur nicht so wie seine Eltern."

"Alles andere" ist auch eine Beschreibung. An der Imbissbude werde ich etwas essen, und auf dem Menü steht Pommes oder Wurst oder Salat. Ich sage, ich will keinen Salat. Dies impliziert, dass ich Pommes und Wurst bestellen werde.

Also, ich glaube, mit dieser positiv/negativ-Methode wird die Diskussion nicht präziser. Man kann es immer wenden, wie man will.


Ja, Utopien entwickeln, finde ich gut. Ich sage nur, die Mentalitätsänderung gehöre zur Utopie. Ich präzisiere die Utopie. Viele Marxisten, beispielsweise, denken, alle Menschen würden mit der selben Mentalität geboren und man bräuchte sie nur von Geburt an "richtig" erziehen, dann würden alle Menschen die gleiche, richtige Haltung annehmen. Wenn diese Hypothese wahr wäre, könnte die Utopie schneller Wirklichkeit werden. Ich hingegen denke, dass die Evolution die Mentalitäten ständig ein bisschen variiert, von Geburt an, und daher könnte diese Utopie sich nur über sehr viele Generationen hinweg verwirklichen.


Meine Frage der Kulturgesetze und des kulturell-variablen Raumbedarfs wurde in der Diskussion noch nicht weiter behandelt. Wenn es einen Weltstaat geben wird, der weiterhin eine föderale Provinzenstruktur beibehält, dann geht es doch letzendlich um einen Kompromiss. Das meinte ich. Man behält regionale Kulturen und Kulturgesetze, man lässt die Leute reisen wohin sie wollen, nur im politischen Überbau wird globalisiert, und zwar mit den Menschenrechten im juristischen Sinn. Diese gibt es schon heute; sie werden nur schlecht angewendet. Im Prinzip kommt nur dieser eine Punkt hinzu: Man lässt im Weltstaat die Leute reisen wohin sie wollen. Jeder darf auf Mallorca seinen Sommer verbringen. Jeder darf nach Tibet ziehen und sich dort ein Haus bauen.




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Sa 1. Feb 2025, 08:35

Quk hat geschrieben :
Fr 31. Jan 2025, 22:45
Hans will alles andere sein nur nicht so wie seine Eltern."
Das mag eine syntaktisch korrekte Umformulierung sein, eine positive Beschreibung ist es dennoch nicht, weil man kein Wort darüber erfährt, wie Hans denn nun (positiv bestimmt) sein will. Was er will, erfahren wir nicht, nur, was er nicht will.
  • Machen wir es diesmal tatsächlich formal:
    positive Bestimmung | negative Bestimmung
    Eigenschaft x | nicht Eigenschaft x (alle Eigenschaften außer x)
    7 | nicht 7 (alle anderen Zahlen)
In beiden Fällen wird metaphorisch gesprochen eine "Grenze" etabliert, symbolisiert durch "|". Im Fall der positiven Bestimmung auf der linken Seite erfahre ich die Zahl, nämlich 7. Im Fall der negativen Bestimmung, erfahre ich bloß, welche Zahl nicht gemeint ist. Im zweiten Fall habe ich also zwar eine "Grenze", aber keine wirkliche Bestimmung der Identität über eine negative "Abgrenzung" hinaus.

Jede Zuschreibung einer Eigenschaft/Unterscheidung etabliert zwei Seiten. Die benannte und die nicht benannte. Aber nur bei der positiven Bestimmung, erfahre ich, welche Eigenschaft eigentlich gemeint war. Der Unterschied ist elementar, mir fällt es schwer zu erkennen, wie man das bezweifeln kann. Eine Abgrenzung allein ist noch keine wirkliche Bestimmung. Was wir stattdessen dafür brauchen, ist eine positive Bestimmung die sozusagen "inklusive" einen "Grenze" etabliert.

Aber es ist keineswegs so, wie oben suggeriert wurde, dass die "Grenze" die Eigenschaft "hervorbringt". Außerdem muss klar bleiben, dass der Ausdruck der Grenze hier gewissermaßen metaphorisch ist, weil wir ja eigentlich über Staatsgrenzen sprechen.



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Quk hat geschrieben :
Fr 31. Jan 2025, 22:45
Man behält regionale Kulturen und Kulturgesetze, man lässt die Leute reisen wohin sie wollen, nur im politischen Überbau wird globalisiert, und zwar mit den Menschenrechten im juristischen Sinn. Diese gibt es schon heute; sie werden nur schlecht angewendet. Im Prinzip kommt nur dieser eine Punkt hinzu: Man lässt im Weltstaat die Leute reisen wohin sie wollen. Jeder darf auf Mallorca seinen Sommer verbringen. Jeder darf nach Tibet ziehen und sich dort ein Haus bauen.
Nach meinem Kenntnisstand gibt es die Menschenrechte im juristischen Sinn, über die wir hier sprechen, noch nicht in vollständiger Form. Es gibt – in meinen Worten, also wahrscheinlich juristisch nicht korrekt ausgedrückt – ein verbrieftes Menschenrecht auf Freizügigkeit innerhalb eines Staates, auf Ausreise aus einem Staat und auf Rückkehr in einen Staat. Ebenso existiert ein Menschenrecht auf Asyl. Doch ein rechtlich verbrieftes und rechtlich verbindliches Menschenrecht auf freie Bewegung über den gesamten Globus hinweg gibt es bislang nicht.

Die bisher bestehenden Menschenrechte beruhen – as far as I know – unter anderem auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Sie sind eine Reaktion auf Internierungen, Vertreibungen, erzwungene Umsiedlungen, Zwangsarbeit, die Aberkennung von Staatsbürgerschaften und anderes mehr.

Der Grundgedanke dieser Rechte ist nach meinem Verständnis die Freiheit des Menschen, zu der auch die Wahl des Aufenthaltsortes, also die Freizügigkeit des Menschen, gehört. Dieses Recht kann selbstverständlich durch übergeordnete Güter eingeschränkt sein. Doch es ist offenkundig nicht vollständig realisiert, denn die bestehenden Grenzen sind offensichtlich nicht offen. Es gibt zum Beispiel nicht so etwas wie global citizenship.



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