Was ist Gesellschaft.

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Stefanie
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Do 26. Okt 2023, 18:36

Eine Verteidigung des Menschen, ohne den Menschen in seiner Gesamtheit mit all seine positiven und negativen Facetten zu berücksichtigen?
Die Systemtheorie ist eine Theorie, eine rein deskriptive Theorie, keine Empirie und der bewusste Verzicht auf normative, wertende Elemente. Und dies ist auch ihr Schwachpunkt, denn sie vergisst den Menschen auf der normativen Ebene. Damit kann man keine Verteidigung des Menschen vornehmen.
Ich hatte mich mit Luhmann nur hinsichtlich des Themas Inklusion und Exklusion beschäftigt.

Man setze eine Sozialwissenschaftlerin neben eine Erziehungswissenschaftlerin zusammen mit einer Pädagogin, man muss dann jemanden dazwischen setzen, vielleicht eine Philosophin, damit sie sich gegenseitig an den Kragen gehen.



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Nauplios
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Do 26. Okt 2023, 19:00

Timberlake hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 16:46

Wo ist denn die "Beobachtung" , die diese Kommunikation wahrscheinlich macht ?
Bei der Systemtheorie ist es so, daß in ihr mehrere andere Theorien verschachtelt sind. Man hat zunächst mal eine allgemeine Theorie sozialer Systeme. Dann gibt es eine spezifische Theorie der Kommunikation, eine Theorie der Beobachtung, eine Theorie der Evolution, eine Theorie funktionaler Differenzierung, einen polykontexturalen Zuschnitt usw. Bei allen diesen Theoriestücken ist es so, daß man mit dem bisherigen und alltäglichen Verständnis von Kommunikation, Beobachtung usw. so gut wie nichts mehr anfangen kann. Die Schwierigkeit besteht nun darin, daß die Erklärung des einen die Erklärung des anderen voraussetzt und umgekehrt. Man muß diese Stücke wie ein Tellerjongleur im Varieté ständig aktualisieren und nach erfolgreichem Durchgang reaktualisieren. Mit jedem Durchgang werden die Dinge dann ein wenig klarer und: tauchen neue Schwierigkeiten auf.

30 Jahre Theoriearbeit lassen sich ohnehin nicht in 30 Beiträgen befriedigend darstellen. Mir ging es auch nur darum, daß man sich bei der Frage "Was ist Gesellschaft?" Irritationen leistet. Das Ganze ist auch keine Sozialtechnologie ohne jede Kontakte zur Realität.

Wirft man einen Blick auf die Generation der Luhmann-Schüler*innen und auf deren Schüler*innen, dann trifft man auf ein recht handfestes Anwendungsszenario:

Dirk Baecker; Womit handeln Banken?

Dirk Baecker; Poker im Osten. Probleme der Transformationsgesellschaft


Dirk Baecker; Die Form des Unternehmens

Dirk Baecker; Wozu Theater?

Peter Fuchs; Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme

Peter Fuchs; Das System "Terror". Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne


Peter Fuchs; Die Psyche. Studien zur Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt


Peter Fuchs; Die Verwaltung der vagen Dinge: Gespräche über die Zukunft der Psychotherapie

Peter Fuchs; Der Papst und der Fuchs. Eine fabelhaft unaufgeregte Unterhaltung

Peter Fuchs; Der Fuß des Leuchtturms liegt im Dunkeln. Eine ernsthafte Studie zu Sinn und Sinnlosigkeit

Die Systemtheorie ist nicht nurmehr das exotisches Terrain eines Verwaltungsbeamten. ;)




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Nauplios
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Do 26. Okt 2023, 19:26

Stefanie hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 18:36

Die Systemtheorie ist eine Theorie, eine rein deskriptive Theorie, keine Empirie und der bewusste Verzicht auf normative, wertende Elemente. Und dies ist auch ihr Schwachpunkt, denn sie vergisst den Menschen auf der normativen Ebene. Damit kann man keine Verteidigung des Menschen vornehmen.
Ja, das ist die Quintessenz des Ganzen wenn man Soziologie als eine Veranstaltung zur Verbesserung der Gesellschaft ansieht. Das ist aber nicht der Anspruch der Systemtheorie. Ihr Anspruch ist die Verbesserung der Beschreibungsparameter der Gesellschaft.

Wenn man den Menschen als Letztelement der Gesellschaft betrachtet, dann läuft die Verbesserung dessen, was gerne die "gesellschaftlichen Verhältnisse" genannt wird, am Ende über die Verbesserung des Menschen. Daß im Gefolge der Aufklärung Erziehungstraktate wie Pilze aus dem Boden sprießen, ist kein Zufall.




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Nauplios
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Do 26. Okt 2023, 19:40

Für die Systemtheorie ist der Mensch in seiner Totalität keine ansprechbare Größe. Man kann das Bewußtsein als "psychisches System" konzipieren, aber der Mensch als (Geist)wesen mit leibgebundener Körperlichkeit taucht in der Systemtheorie nicht auf.

Das ist aber doch kein Nachteil, oder? ;)




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Stefanie
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Do 26. Okt 2023, 19:43

Luhmann soll mal folgendes gesagt :
"Luhmann selbst hat in einer seiner späteren Arbeiten, wohl auch aufgrund sehr persönlicher Erfahrungen, erkennen lassen, dass bestimmte Phänomeneder Exklusion mit dem vorliegenden Theorieinventar nicht erfasst werden:
„Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, dass es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in Siedlungen, die die Stilllegungdes Kohlebergbaus in Wales hinterlassen hat, kann davon überzeugen. Es bedarf dazu keiner empirischen Untersuchungen. Wer seinen Augen traut,
kann es sehen, und zwar in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern“ (Luhmann 1996, 227)."
Zitiert aus: Inklusion und Behindertenhilfe – Anmerkungen aus systemtheoretischer Sicht von Michael Weber


Der ist auch gut...ich musste etwas schmunzeln
https://blog.soziologie.de/2014/03/inklusion/



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Stefanie
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Do 26. Okt 2023, 21:52

Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 19:40
Für die Systemtheorie ist der Mensch in seiner Totalität keine ansprechbare Größe. Man kann das Bewußtsein als "psychisches System" konzipieren, aber der Mensch als (Geist)wesen mit leibgebundener Körperlichkeit taucht in der Systemtheorie nicht auf.

Das ist aber doch kein Nachteil, oder? ;)
Warum?



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AufDerSonne
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Do 26. Okt 2023, 22:59

Ich habe gerade keine Lust mich in Luhmanns Theorie einzuarbeiten. Ich bin vielleicht theoretisch nicht belastbar, aber praktisch. Eine Theorie der Gesellschaft, die den Menschen ausschliesst, kann irgendwie nicht viel wert sein. Es tönt alles sehr gut, was ihr da von Luhmann bringt, aber definitiv zu theoretisch. Eine gute Theorie muss praktisch belastbar sein. Irgendwie muss sie der Menschheit etwas bringen. Was soll's! Der Grundbaustein einer Gesellschaft ist der Mensch. Ich kann mir das nicht anders erklären. Eine Gesellschaft sind dann viele Menschen, die zusammenleben müssen. Es hat gar kein Sinn, dass ich hier diskutiere, wenn ich Luhmanns Theorie nicht kenne, oder?
Aber so als Mensch möchte ich nicht irgendein System über mir haben, dass irgendwie bestimmt wie ich zu funktionieren habe.



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Nauplios
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Fr 27. Okt 2023, 01:58

Stefanie hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 21:52
Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 19:40
Für die Systemtheorie ist der Mensch in seiner Totalität keine ansprechbare Größe. Man kann das Bewußtsein als "psychisches System" konzipieren, aber der Mensch als (Geist)wesen mit leibgebundener Körperlichkeit taucht in der Systemtheorie nicht auf.

Das ist aber doch kein Nachteil, oder? ;)


Warum?
... weil damit eine Sichtbarriere abgebaut wird, die den Blick auf die Funktionsweise der modernen Gesellschaft verstellt hat. Diese Barriere besteht darin, daß die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe des 18. und 19. Jahrhunderts das junge Fach der Soziologie mit ihrer subjekt-zentrierten Ausrichtung um ihren Gegenstand gebracht haben. Soziologen verstanden sich als Philosophen mit dem Spezialgebiet Soziales. An einer Figur wie Georg Simmel läßt sich das beobachten, der ja über Mode und die Formen der Vergesellschaftung ebenso schrieb wie über Kant und Goethe oder Emile Durkheim, der über soziale Arbeitsteilung schrieb und über die elementaren Formen des religiösen Lebens oder Max Weber, dessen Thema sowohl Wirtschaft und Gesellschaft war als auch die protestantische Ethik oder Alfred Schütz, der sich in der Tradition Husserls sah. Dann gab es die empirische Sozialforschung, die es bei ihren Erhebungen und Befragungen aber auch wiederum mit den von Menschen gegebenen Auskünften zu tun hatte. Es gab später die allgemeine Soziologie, die man von speziellen Soziologien (der Familie u.ä.) unterschied usw. Es gab soziologische Studien der Kritischen Theorie von Adorno, Kracauer u.a. - Aber bei all dem mangelte es dem Fach an einer soziologischen Theorie der Gesellschaft, die abstrakt genug war, um die Komplexität der modernen Gesellschaft abzubilden. Wenn Theorie, dann war sie in der Regel philosophisch ausstaffiert mit Aufklärung, Vernunft, Freiheit usw. - Es gibt von Luhmann der schönen Satz:

"Für einen Soziologen liegen die Fenster in den philosophischen Auditorien zu hoch." 

Darin liegt die für Luhmann typische freundliche Bescheidenheit, die sich hier mit leiser Ironie paart.




Timberlake
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Fr 27. Okt 2023, 02:27

Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 19:00
. Man hat zunächst mal eine allgemeine Theorie sozialer Systeme.
Ich korrigiere ... . Man hat zunächst mal eine allgemeine Theorie von Systemen. Systeme, die dadurch entstehen , dass Operationen aneinander anschließen. Das können als solches übrigens auch anorganische Systeme sein. Nehmen wir als Beispiel nur das Sonnensystem. Auch in diesem System schließen Operationen aneinander an. Das , was in einem organischen bzw. sozialem System Operationen anschließen lässt und zwar die Kommunikationsmedien Macht, Geld, Liebe, Kunst und Wahrheit , vollzieht sich beim anorganischen Sonnensystem vorallem über die Gravitation .
AufDerSonne hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 22:59
Ich habe gerade keine Lust mich in Luhmanns Theorie einzuarbeiten. Ich bin vielleicht theoretisch nicht belastbar, aber praktisch. Eine Theorie der Gesellschaft, die den Menschen ausschliesst, kann irgendwie nicht viel wert sein. .
In einer Theorie der Gesellschaft, den Menschen aus zu schließen wollen ist deshalb in etwa so sinnvoll , wie das man in einen Sonnensystem , die Sonne ausschließt. Nach meinem Verständnis wird in dieser Theorie , wenn schon denn schon der Mensch , als Mensch ausgeschlossen. Bin ich doch , wenn ich als Mensch , die "menschliche" Gesellschft beobachte befangen.
Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 16:37
Liegt in der Systemtheorie nicht auch eine "Verteidigung des Menschen" beschlossen, sofern er damit nicht länger ein Rädchen in ambitionierten Fortschrittserwartungen ist, nicht länger Prototyp für ein humanistisches Modell, das in der Zukunft liegt? :o
Als solches liegt , wenn schon denn schon , in der Systemtheorie der Ausschluss des Menschen , als Beobachter des Menschen beschlossen. Denn nur mit dieser Distanz von Beobachter und beobachteten Gegenstand , lassen sich Aussagen über den Gegenstand machen. Um das mal an Hand des Themas im Sinne von @AufDerSonne „praktisch“ zu machen.

  • "Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. ... Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zuviel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken. ... Ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind."
    Friedrich Nietzsche .. Also sprach Zarathustra


Merke
Wenn ich wissen will , was eine Gesellschaft ist , dann sollte ich nicht Teil dieser Gesellschaft sein bzw. weil mitunter unmöglich , zumindest wie Zarathustra um eine maximale Distanz zu dieser Gesellschaft bemüht sein. Ganz wichtig! . maximale Distanz ist nicht gleich zu setzten mit maximaler Ablehnung. Außerirdische wären übrigens als solches dafür prädestiniert. Ganz so , wie wir dazu prädestiniert sind , auf Erden jene Systeme zu untersuchen, die zumindest vordergründig so ganz und gar nichts mit uns tun haben. Beispielsweise organische Systeme im Tierreich.
Zuletzt geändert von Timberlake am Fr 27. Okt 2023, 03:02, insgesamt 7-mal geändert.




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Nauplios
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Fr 27. Okt 2023, 02:44

AufDerSonne hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 22:59

Ich habe gerade keine Lust mich in Luhmanns Theorie einzuarbeiten. Es hat gar kein Sinn, dass ich hier diskutiere, wenn ich Luhmanns Theorie nicht kenne, oder?
Die Systemtheorie hat eine besondere Eigenschaft darin, daß viele ihrer Sätze kontraintuitiv sind. Ihre Theoreme und Begriffsverwendungen bürsten die Leser*innen gegen den Strich. Das kann man empört zurückweisen, man kann aber darin auch ein Anregungspotential sehen. Die Systemtheorie ist in der Soziologie inzwischen in der dritten Generation und im Fach fest verankert. Sie ist auf unseren Beifall weder angewiesen noch ist sie durch unsere Ablehnung bestandsgefährdet.

Ich hätte jetzt eher vermutet, daß ein Philosoph wie Du, AufDerSonne, neugierig auf solcherart Herausforderung ist. Man will doch von einer Theorie nicht das erfahren, was man ohnehin schon weiß, sondern ist begierig nach Überraschendem, Verblüffendem, liebt Amouren mit dem Koketten und Skandalösen - oder nicht? ;)

Dieses ganze Universum des systemtheoretischen Denkens ist von großer Eleganz und betörendem Liebreiz - oder nicht?

Daß der Mensch darin nicht vorkommt, ist das Ergebnis theoretischer Optionen, aber keineswegs das Ergebnis von Verachtung. Was als "alteuropäische Tradition" den Anschein des Veralteten und Zurückgebliebenen erweckt, dem die Systemtheorie nun den Garaus machen würde, ist in Wirklichkeit eher Objekt der Bewunderung. Gegen die "Obligation, Menschliches nicht verlorenzugeben" (Blumenberg) ist die Systemtheorie kein Verstoß.




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Nauplios
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Fr 27. Okt 2023, 02:57

Timberlake hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 02:27

Nach meinem Verständnis wird in dieser Theorie (...) der Mensch als Mensch ausgeschlossen.
Darüber Erleichterung zu verspüren ist nicht despektierlich. :)




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Nauplios
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Fr 27. Okt 2023, 03:06

Ich will aber jetzt diesen Thread nicht in ein systemtheoretisches Versuchslaboratorium ummodeln. Bei YouTube findet sich der vollständige Mitschnitt einer einführenden Vorlesung Luhmanns und überhaupt ist ja die Systemtheorie im Netz vielfältig dokumentiert.




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Quk
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Fr 27. Okt 2023, 08:09

Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 13:31
Quk hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 09:09
Ich denke, wenn man das Paradoxon vorschlägt, Menschen gehörten nicht zur Gesellschaft, dann muss man sehr genau beschreiben, was man unter dem Verb "dazugehören" versteht, andernfalls bleibt der Vorschlag paradox.
Daß der Mensch keine adressierbare Größe für die Systemtheorie ist, ist ja kein Paradoxon, sondern ergibt sich aus der differenztheoretischen Unterscheidung von System und Umwelt. -
Das Verb "dazugehören" hatte ich von einem Vorkommentar aufgegriffen. Wenn Du es ersetzt durch "adressierbar", lautet das Wort offensichtlich nicht mehr "dazugehören"; mit dieser Änderung könnte vielleicht eine Auflösung des Paradoxons erfolgen. Die ist leider, so weit ich es sehe, nicht erfolgt. Auch wenn Du schreibst: "... ist ja kein Paradoxon", wird in meinen Augen das Paradoxon durch das Adjektiv "unadressierbar" ebenfalls nicht aufgelöst. Mir scheint, Dein zweiter Halbsatz macht aus dem ganzen Satz selbst auch noch ein Paradoxon im Paradoxon: Du sprichst von einer Unterscheidung von System und Umwelt. Diese Unterscheidung löse das Paradoxon. Daraus lese ich: In diesem Paradigma gehört der Mensch nicht zum System, sondern zur Umwelt. (Irgendwo muss er ja sein, wenn es am Ende um Soziales geht.) So weit, so gut. Aber das System muss doch auch seine Umwelt adressieren? Insofern gehört die Umwelt zum System, meiner Sichtweise nach. Damit stehen wir wieder am Anfang des Gedankens. Wir sind zwar gerade in ein paar luhmannschen Zettelkästen herumgehüpft, haben aber das Ziel, nämlich die totale Objektivität, nicht erreicht, glaube ich.

Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 13:31
Autopoietische Systeme unterliegen der Paradoxie der Selbstbezüglichkeit, die sie unsichtbar machen müssen, um operieren zu können. Diese Zivilisierung von Paradoxien kann erkenntnistheoretisch durch den Einzug einer zweiten Ebene erfolgen; dann hat man wie bei Platon beispielsweise auf der einen Seite die Welt der Dinge und auf der anderen Seite die Welt der Ideen der Dinge oder man hat jenseits der empirischen eine transzendentale Ebene (Kant) oder man verteilt die Erkenntnis auf mehrere Beobachter oder invisibilisiert sie unter Zuhilfenahme von Zeit.
Da wiederum sehe ich kein Paradoxon. Selbsterhaltende Systeme sind selbstbezüglich. Ich verstehe nicht, warum Selbstbezüglichkeit paradox sein sollte. So sehe ich auch keinen Anlass zur Aufteilung in zwei Ebenen.

Allerdings sehe ich in einem selbsterhaltenden System keine Leere, sondern Akteure. Die Akteure, also die Menschen, stellen Beziehungen her. Ohne Mensch, keine Beziehung. Ohne Beziehung, kein System.

Ich denke, wir springen in dieser Diskussion von einem Zettelkasten zum nächsten, und landen am Ende doch immer wieder beim ersten Gedanken.

Nauplios hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 13:31
Systemtheorie ist ein riskantes Unternehmen. Sie ist der Versuch, es sich in der Höhle des Polyphem gemütlich zu machen. Die üblichen Navigationsinstrumente wie zweiwertige Logik, Hypothesenbildung, Wahrheit im Sinne der adaequatio usw. versagen hier; die Kompassnadel dreht sich im Kreis. Paradoxien müssen ausgehalten, Verfremdungen in Kauf genommen werden und ab einer bestimmten Abstraktionshöhe ist Schwindelfreiheit gefordert.
Warum Paradoxa aushalten, wo doch der Mensch keine adressierbare Größe für die Systemtheorie sei und somit erst gar kein Paradoxon bestünde?

Hmm, ist die Unadressierbarkeit nun paradox oder nicht?

Wie auch immer, "Verfremdung" und "Abstraktion in Schwindelhöhen" sind in meinen Augen keine Problemlöser, sondern eine Sackgasse. Ich sehe eine Sackgasse voller Zettelkästen. Man kann verfremden und abstrahieren bis zur Unkenntlichkeit: Die totale Objektivität kommt trotzdem nicht zustande, meiner Auffassung nach.




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Okt 2023, 09:11

AufDerSonne hat geschrieben :
Do 26. Okt 2023, 22:59
Eine Theorie der Gesellschaft, die den Menschen ausschliesst, kann irgendwie nicht viel wert sein.
Die Systemtheorie schließt den Menschen nicht aus, sondern ein.

Dazu eine kurze, hoffentlich anschauliche Skizze, in der ich den Aspekt betone, dass der Mensch nicht ausgeschlossen wird, wobei in dieser Skizze viele andere Dinge unter den Tisch fallen...

Luhmann hat ja den Systembegriff aus der Biologie entlehnt und dann für seine Theorie modifiziert. Stellen wir uns zur Veranschaulichung also Lebewesen vor. Lebewesen sind Systeme. Wichtig: Ein System wird hier immer als etwas verstanden, das in eine Umwelt eingebettet ist. Ein Vogel kommt nicht ohne diejenige Umwelt vor, ohne die es ihn nicht gäbe, von der er sich aber auch unterscheidet, solange er lebt. Zu leben heißt (neben anderem auch) diese Differenz aufrechtzuerhalten, sie gegen die Entropie zu "verteidigen". Das ist schon bei den Bakterien der Fall, sie müssen sich irgendwie von der Umwelt "abschotten", sind aber gleichzeitig auf die Umwelt angewiesen, weil sie ihr die Energie entziehen, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Autopoiesis (Selbsterhaltung/Selbstreproduktion) brauchen.

Ein System ist also in diesem Verständnis immer eine "Form" mit zwei Seiten. Die "eine Seite" ist das System und seine innere Organisation, seine "inneren Strukturen". Bei Lebewesen spricht man von Organen und Organismus. Die "andere Seite" dieser Form, die zwei Seiten hat, ist die Umwelt des Systems. Beide Seiten verweisen aufeinander: Lebewesen, also biologische Systeme, existieren immer nur in einer Umwelt. Wer von einem System spricht, wie Luhmann es formuliert, spricht immer auch von der spezifischen Umwelt des Systems, beides hängt offensichtlich eng zusammen. Ergo: Die Umwelt wird nicht aus der Betrachtung ausgeklammert, sondern sie ist unverzichtbarer Bestandteil der Betrachtung, man könnte vielleicht sagen, beides (System und Umwelt) sind irgendwie gekoppelt.

In der Umwelt des biologischen Systems tauchen natürlich viele andere Systeme auf: andere biologische Systeme zum Beispiel, die meisten biologischen Systeme sind in irgendeiner Form auf andere biologische Systeme bezogen. Viele biologische Systeme sind ihrerseits eine "innere Kopplung" verschiedener Systeme. Sie sind organische Systeme, die mit psychischen Systemen gekoppelt sind, oder wie immer man es nennen will. Ein Beispiel für ein psychisches System ist das Denken. Ein Beispiel für ein solches System von Systemen ist natürlich der Mensch. Menschen können mit anderen Systemen, in Kontakt treten, indem sie in irgendeiner Form kommunizieren. Ein Beispiel sind Menschen, die miteinander sprechen.

Jetzt erst kommt langsam die Systemtheorie ins Spiel. Diese Kommunikation kann nämlich ihrerseits zu einem System werden, das bestimmte "innere" Eigenschaften, Muster, Regeln usw. aufweist. Das Wort "intern" steht in Anführungszeichen, weil es etwas irreführend sein kann, wenn man vergisst, dass "Systeme" im hier verwendeten Sinn Formen mit zwei Seiten sind, die miteinander "verbunden" sind. Diese Kommunikationen (in komplexen Gesellschaften) beschreibt Luhmann mit seiner komplexen Begrifflichkeit, die ursprünglich aus der Biologie stammt. Aus diesen Kommunikationen, die für Luhmann auch Systeme sind, können sich schließlich ausdifferenzierte moderne Kommunikationen entwickeln, die auf komplexe Weise interagieren, wobei einige der Systeme bestimmte Funktionen haben (Gesundheit, Recht, Wirtschaft usw.).

Der Mensch ist aus dieser Betrachtung nicht ausgeschlossen, aber er ist nicht einfach identisch mit den komplexen Kommunikationssystemen (Gesundheit, Recht, Wirtschaft usw.). Dass der Mensch nicht ausgeschlossen ist, lässt sich leicht erkennen, wenn man bedenkt, dass z.B. das Gesundheitssystem ohne die Menschen, die es in Anspruch nehmen, völlig sinnlos wäre.




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Nauplios
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Fr 27. Okt 2023, 09:21

Quk hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 08:09

Wir sind zwar gerade in ein paar luhmannschen Zettelkästen herumgehüpft, haben aber das Ziel, nämlich die totale Objektivität, nicht erreicht, glaube ich.

(...)

Allerdings sehe ich in einem selbsterhaltenden System keine Leere, sondern Akteure. Die Akteure, also die Menschen, stellen Beziehungen her. Ohne Mensch, keine Beziehung. Ohne Beziehung, kein System.

Ich denke, wir springen in dieser Diskussion von einem Zettelkasten zum nächsten, und landen am Ende doch immer wieder beim ersten Gedanken.
Um in diesem Bild zu bleiben: ich befürchte, wir stehen vor verschlossenen Zettelkästen.

Um darin herumzuhüpfen, wird kein Weg daran vorbeiführen, das herkömmliche Verständnis von System, Umwelt, Beobachtung, Kommunikation usw. aufzugeben und sich auf die Systemtheorie zumindest so weit einzulassen, daß man den Fuchsbau der Luhmann'schen Theorie(n) besichtigen kann. Beharrt man auf das eigene Vorverständnis ("für mich ist aber"), bleiben die Zettelkästen für immer verschlossen.

Es gibt im Netz ein "Luhmann-Wiki", welches das Beobachtungsparadoxon umschreibt:

"Eine Beobachtung ist immer eine systeminterne Operation. Der Beobachter kann zum Zeitpunkt der Operation sich selbst nicht beobachten, ob und wie hinreichend genau beobachtet wurde. Dieses Paradox wird als blinder Fleck einer Beobachtung bezeichnet. Aus diesem Grund kann eine Beobachtung nie den Anspruch auf Vollständigkeit geschweige denn auf die Richtigkeit einer Beschreibung erheben. Das beobachtende System kann nur auf eigene und systemspezifische Weise die Umwelt beobachten, demnach gelangen andere Systeme zu anderen Beobachtungsergebnissen desselben beobachteten Phänomens."

https://luhmann.fandom.com/de/wiki/Beobachtung




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Stefanie
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Fr 27. Okt 2023, 10:29

Man muss ja nicht mit Herrn Luhmann einer Meinung sein, oder?

Was ist ein Paradox bei Herrn Luhmann?

1.)
Definition nach Luhmann-Wiki Paradox: https://luhmann.fandom.com/de/wiki/Paradoxie
Paradoxie ist allgemein Begriff für etwas, was zugleich ist/gilt und nicht ist/nicht gilt. Logisch strenger: Paradox ist etwas, was zutrifft, weil/obwohl es nicht zutrifft. Jede Beobachtung ist paradox, sie operiert mit einer Unterscheidung, die sich ihrer Reflexion als Einheit entzieht; jeder Versuch die Einheit einer Differenz zu beobachten, die beide Seiten einer asymmetrischen Unterscheidung, läuft auf eine Paradoxie auf.[1]

2.)
Definition Paradox: Metzler Philosophie Lexikon:
https://www.spektrum.de/lexikon/philoso ... tion%20dar.
griech. para: gegen, doxa: Meinung, Erwartung).
Das Adjektiv spezifiziert im weiteren Sinne Sachverhalte oder Aussagen, die der geläufigen Meinung oder Erwartung entgegenstehen und alogisch, unsinnig oder widersprüchlich erscheinen; im engeren Sinne wird Paradoxon gleichbedeutend mit Antinomie gebraucht und stellt einen Widerspruch in Form einer Kontradiktion dar. P.n haben als Möglichkeit, Modelle revolutionärer Entwicklungen darzustellen, eine fördernde Funktion in der Geistesgeschichte. Sobald sich ein Problem nicht mehr innerhalb des dafür zuständigen Bezugssystems lösen lässt, kann eine paradoxe These zur Veränderung oder Aufgabe des Systems führen.

3.)
Paradoxien und paradoxe Interventionen
Die Paradoxie wird synonym zu dem Begriff Paradoxon verwendet. Paradoxien sind Aussagen, die neben (para) der allgemein akzeptierten Meinung (doxa) stehen und die deshalb widersinnig, sinnlos, absurd oder einfach nur kurios erscheinen1 .

Definition
Laut Wikipedia ist das Paradoxon (Plural Paradoxa; auch Paradox oder Paradoxie, Plural Paradoxe bzw. Paradoxien; vom altgriechischen Adjektiv παράδοξος parádoxos „wider Erwarten, wider die gewöhnliche Meinung, unerwartet, unglaublich“1) ist ein Befund, eine Aussage oder Erscheinung, die dem allgemein Erwarteten, der herrschenden Meinung oder Ähnlichem auf unerwartete Weise zuwiderläuft oder beim üblichen Verständnis der betroffenen Gegenstände bzw. Begriffe zu einem Widerspruch führt2



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Fr 27. Okt 2023, 10:45

Stefanie hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 10:29

Man muss ja nicht mit Herrn Luhmann einer Meinung sein, oder?
Stimmt, das muß man nicht. - Nur wenn man über Luhmanns Systemtheorie sprechen will, dann hat es sich bewährt, über Luhmanns Systemtheorie zu sprechen.




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Fr 27. Okt 2023, 11:07

Stefanie hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2023, 10:29
Paradoxie ist allgemein Begriff für etwas, was zugleich ist [...] und nicht ist...
Der Begriff System (im Sinne der Systemtheorie) ist nach meinem Verständnis in gewisser Weise so. Ein System ist sowohl das, was es ist (System), als auch das, was es nicht ist (Umwelt). Es geht also um die beiden Seiten der "Form" System/Umwelt. Ganz anders der Begriff der Substanz: Etwas ist Substanz, wenn es (theoretisch) aus sich selbst heraus existieren könnte. Sie hat nur "positive" Eigenschaften, d.h. Eigenschaften, die sich nur auf das Etwas selbst beziehen. Ein System hingegen ist immer auch das, was es nicht ist. Das klingt natürlich paradox für eine Substanz-Sichtweise.




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Stefanie
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Fr 27. Okt 2023, 11:33

War zu erwarten.... ich habe den Faden verloren. ;- )))
Gleichzeitig diverse Schreiben aufsetzen, dabei gleichzeitig mit Kollegen zu diskutieren, und hier mitlesen und schreiben.... klappt oft, aber jetzt nicht.
Ich bin in zwei Subsystemen unterwegs und war in beiden vollinkludiert, was laut Luhmann zum Thema Inklusion gar nicht geht, denn man kann niemals vollständig in einem Subsystem inkludiert sein. Ich exkludiere mich jetzt freiwillig aus dem Subsystem Forum, und außerdem habe ich Hunger.
Diese Willenentscheidungen gepaart mit natürliche Bedürfnissen sind, soweit ich das verstanden habe, im Luhmann System nicht inkludiert. Dsa wäre ja normativ. Oder?



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Dass die Theorie selbst nicht normativ ist, heißt doch nicht, dass sie die Normativität ihrer Gegenstände leugnet. Hier ein Beleg.
Suhrkamp hat geschrieben : Niklas Luhmann
Die Moral der Gesellschaft
Herausgegeben von Detlef Horster

Das Nachdenken über Moral gilt gemeinhin als Domäne der Philosophie. Um so überraschender mag es erscheinen, daß mit Niklas Luhmann einer der einflußreichsten Vertreter der Soziologie des 20. Jahrhunderts sich seit den spätern 60er Jahren bis kurz vor seinem Tod im Jahre 1998 kontinuierlich mit moraltheoretischen Fragen auseinandergesetzt hat. Der vorliegende Band präsentiert erstmals die wichtigsten Texte Luhmanns zu einer Theorie der Moral. Luhmanns großes Projekt – eine Theorie der Gesellschaft – bestimmt auch seinen Blick auf die Moral, die er nicht, wie in der Philosophie üblich, substantiell betrachtet, sondern funktional. In einer individualisierten Gesellschaft stellt sich aus seiner Perspektive stets die Frage, wie Handlungskoordinationen auf der Ebene der Interaktionen möglich sind. Hier gewinnen moralische, aber auch rechtliche Regeln und Konventionen ihre Bedeutung. Um diese zu erfassen, bedarf es laut Luhmann einer Reflexionstheorie der Moral, deren Konturen in den hier versammelten Aufsätzen sichtbar werden.




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