Ich und Wir

Ursprünglich in der praktischen Philosophie beheimatet sind Theorien der Gesellschaft heute weitgehend von der Soziologie aufgegriffen worden.
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Stefanie
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So 27. Aug 2017, 21:34

Weiß jemand, ob und wenn ja welche philosophische Theorie/Auffassung sich mit dem "Ich" und dem "Wir" beschäftigen? Ich kann mich dunkel -sehr dunkel- an eine Diskussion vor zig Jahren zu dem Thema erinnern, weiß es aber nicht mehr genau.
Holismus?



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Friederike
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Mo 28. Aug 2017, 12:07

Stefanie hat geschrieben : Weiß jemand, ob und wenn ja welche philosophische Theorie/Auffassung sich mit dem "Ich" und dem "Wir" beschäftigen? Ich kann mich dunkel -sehr dunkel- an eine Diskussion vor zig Jahren zu dem Thema erinnern, weiß es aber nicht mehr genau. Holismus?
Hmhmhm, könntest Du nicht noch ein erklärendes Wörtchen dranhängen, Stefanie?




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Stefanie
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Mo 28. Aug 2017, 12:17

Im groben geht es mir darum, was ist "wichtiger", das "Ich" oder das "Wir". Ist das "Ich" ohne "Wir" überhaupt denkbar, oder ist das "Wir" ohne das "Ich" überhaupt denkbar.
Ansatzpunkt für mein grübeln ist seit geraumer Zeit der sog. Claim der Aktion Mensch "Das Wir gewinnt". Mich stört daran was, ohne im Moment genau zu wissen was. Da dies eine sehr bekannte Organisation ist, wollte ich das Anfangspunkt eines Threads nehmen.
Ich suche Argumentationsfutter und einen Anfangspunkt.

So und jetzt lege ich mich mittels eines Liegestuhls auf meinen Balkon.



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Tosa Inu
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Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 12:17
Im groben geht es mir darum, was ist "wichtiger", das "Ich" oder das "Wir".
Beides schließt sich nicht nur nicht aus, sondern bedingt einander.
Der Schwerpunkt in Europa (und kulturell verwandten Ländern) liegt auf dem Ich.
Dass "das Wir gewinnt" soll wohl hier eher heißen, dass man den ungesunden Egoismus etwas zurückschrauben sollte, gegen einen reifen Individualismus ist ja nichts zu sagen.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Mo 28. Aug 2017, 13:15

Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 12:17
"Ich" oder das "Wir"
Es könnte sein, dass dir das Begriffspaar "Kommunitarismus/Individualismus" auf der Zunge liegt :-)

p.s.: Hat nicht gerade Friederike gerade irgendwo Charles Taylor erwähnt, das ist nach dem wenigen, was mir bekannt ist, ein Autor, die sich in diesem Themenfeld bewegt. Vielleicht kann sie was dazu sagen?!




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Friederike
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Mo 28. Aug 2017, 13:59

Stefanie hat geschrieben : [...] Ansatzpunkt für mein grübeln ist seit geraumer Zeit der sog. Claim der Aktion Mensch "Das Wir gewinnt". Mich stört daran was, ohne im Moment genau zu wissen was. Da dies eine sehr bekannte Organisation ist, wollte ich das Anfangspunkt eines Threads nehmen. Ich suche Argumentationsfutter und einen Anfangspunkt.
Jörn Budesheim hat geschrieben : Es könnte sein, dass dir das Begriffspaar "Kommunitarismus/Individualismus" auf der Zunge liegt :-) p.s.: Hat nicht gerade Friederike gerade irgendwo Charles Taylor erwähnt, das ist nach dem wenigen, was mir bekannt ist, ein Autor, die sich in diesem Themenfeld bewegt. Vielleicht kann sie was dazu sagen?!
Erwähnt hatte ich T. vorhin als "Roman-Isten" in der Philosophenzunft. Zur Befassung mit gesellschaftpolitischen Organisationsformen habe ich keine Lust. :lol: Da müßte man doch übrigens das Begriffspaar "Kommunitarismus" und "Liberalismus" bilden?
Aber der Slogan mit dem "Das Wir gewinnt", der mißfällt mir auch. Dazu wäre meine Idee, Stefanie, daß dieser Spruch sehr an uniformierende Denkmuster erinnert, der Einheitsbrei der Mehrheiten, ein die Vielfalt ausschließendes "Wir" ... so in die Richtung assoziiere ich.




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Jörn Budesheim
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Mo 28. Aug 2017, 14:05

Friederike hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 13:59
Da müßte man doch übrigens das Begriffspaar "Kommunitarismus" und "Liberalismus" bilden?
Yepp, es gibt da diverse Variationen - es gibt neben "Kommunitarismus" noch ein anderes Etikett, was mir aber gerade nicht einfällt :-)




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Jörn Budesheim
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Mo 28. Aug 2017, 14:08

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 12:57
Beides schließt sich nicht nur nicht aus, sondern bedingt einander.
Yepp, sehe ich auch so. Das lässt dennoch Möglichkeiten für verschiedene Schwerpunktsetzungen ...




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Stefanie
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Mo 28. Aug 2017, 17:18

Danke, danke für die Informationen. Was Neues gelernt. Ich habe es eben mal kurz quergelesen... ziemlich amerikanisch geprägt.
Vielleicht will ich in Richtung Unterscheidung, Mensch, Person, Gesellschaft, Gemeinschaft und die Zusammenhänge. Es will mir einfach nicht einfallen... *hmpf*

Friederike hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 13:59

Aber der Slogan mit dem "Das Wir gewinnt", der mißfällt mir auch. Dazu wäre meine Idee, Stefanie, daß dieser Spruch sehr an uniformierende Denkmuster erinnert, der Einheitsbrei der Mehrheiten, ein die Vielfalt ausschließendes "Wir" ... so in die Richtung assoziiere ich.
Na ja, die Aktion Mensch meint es wohl so: Gerade die Vielfalt der Menschen, einschließlich derjenigen, die gehandicapt sind, bewirkt, dass alle von der Vielfalt der Menschen profitieren. Weswegen es erforderlich ist, diejenigen zu stärken, die "schwächer" sind als die Mehrheit.
Ich bin auch nicht sicher, ob die Außenwirkung dieses Spruches, so ist, wie sich das die Aktion Mensch vorstellt.



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Hermeneuticus
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Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 17:18
Vielleicht will ich in Richtung Unterscheidung, Mensch, Person, Gesellschaft, Gemeinschaft und die Zusammenhänge. Es will mir einfach nicht einfallen... *hmpf*
Versuch's doch mal mit Wikipedia. In den Beiträgen mit genau diesen Stichwörtern wirst Du sicher weitere Hinweise finden. Ich weiß ja nicht, wie tief Du in die philosophische Gesellschaftstheorie einsteigen möchtest; wenn Du Dich fürs Grundsätzliche interessierst, könnte ich Dir weitere Tipps geben. ;-)




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Stefanie
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Mo 28. Aug 2017, 17:34

Das habe ich schon versucht, links rum, rechts rum, in unterschiedlichen Varianten, bis jetzt kam nur der Holismus dabei raus.
"Holismus (griechisch ὅλος holos „ganz“), auch Ganzheitslehre, ist die Vorstellung, dass natürliche (gesellschaftliche, wirtschaftliche, physikalische, chemische, biologische, geistige, linguistische usw.) Systeme und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind."

Es muss aber doch eine Gegenposition dazu geben, die finde ich nicht.



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Hermeneuticus
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Mo 28. Aug 2017, 18:31

Gegenpositionen sind der ---> Individualismus und vielleicht manche Ausprägungen des ----> Liberalismus (zurückgehend auf Hobbes und Locke)

Der Knackpunkt ist dabei die Frage, was den Vorrang hat: die Gruppe/Gesellschaft oder das Individuum. Setzt sich die Gesellschaft aus - quasi atomaren - Individuen zusammen, die von Natur aus frei und gleichberechtigt sind? Oder können die Individuen nur im Zusammenhang einer arbeitsteiligen Gesellschaft a) überleben, b) ein gutes Leben führen und c) zu freien, selbstbestimmten Subjekten werden? - Ich persönlich finde die zweite Position sehr viel überzeugender realistischer; die Pro-Argumente sind drückend überlegen. Jedenfalls bewegt sich die zweite, "kommunitarische" Position auf der Traditionslinie Aristoteles - Hegel. Hegel hat ganz explizit das atomistische Denken kritisiert und zurückgewiesen - in allen Belangen, sowohl in der Logik als auch der Natur- und der Gesellschaftsphilosophie.




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Stefanie
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Mo 28. Aug 2017, 18:43

Oh danke schön.
Der Knackpunkt ist dabei die Frage, was den Vorrang hat: die Gruppe/Gesellschaft oder das Individuum. Setzt sich die Gesellschaft aus - quasi atomaren - Individuen zusammen, die von Natur aus frei und gleichberechtigt sind? Oder können die Individuen nur im Zusammenhang einer arbeitsteiligen Gesellschaft a) überleben, b) ein gutes Leben führen und c) zu freien, selbstbestimmten Subjekten werden?
Meine Fragestellung intelligent formuliert.

Ich tendiere spontan - na ja so spontan auch wieder nicht- zu einer Mischung aus der ersten Meinung und den Unterpunkten a) und b) der zweiten Meinung.

(Ich frage mich nur gerade selber, wie ich meine Gedankensammlungen aus den letzten Tagen abarbeiten soll).



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Jörn Budesheim
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Mo 28. Aug 2017, 19:18

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 18:31
die Pro-Argumente sind drückend überlegen
Das heißt, die "Gegenseite" ist bloß stur? :-)




Segler
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Di 29. Aug 2017, 09:23

Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 18:43
Der Knackpunkt ist dabei die Frage, was den Vorrang hat: die Gruppe/Gesellschaft oder das Individuum. Setzt sich die Gesellschaft aus - quasi atomaren - Individuen zusammen, die von Natur aus frei und gleichberechtigt sind? Oder können die Individuen nur im Zusammenhang einer arbeitsteiligen Gesellschaft a) überleben, b) ein gutes Leben führen und c) zu freien, selbstbestimmten Subjekten werden?
Meine Fragestellung intelligent formuliert.

Diese Position bestreitet die Autonomie des Individuums. Damit dürfte es in der zeitgenössischen Philosophie - Hegel hin oder Hegel her - eine Minderheitenposition sein. Ohne die Autonomie des Individuums können wir zum Beispiel unsere gesamten Moralvorstellungen über Bord werfen. Auch das positive Recht, besonders das Strafrecht, wäre sinnlos. Weshalb sollte man jemanden bestrafen dürfen, der nicht autonom entscheiden kann, wie er handeln will?




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Jörn Budesheim
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Di 29. Aug 2017, 09:42

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 18:31
Der Knackpunkt ist dabei die Frage, was den Vorrang hat ...
Segler hat geschrieben :
Di 29. Aug 2017, 09:23
Diese Position bestreitet die Autonomie des Individuums.
Um das zu beurteilen, muss man vermutlich klären, was Hermeneuticus mit "Vorrang" eigentlich meint. Ich denke auch, dass "Autonomie des Individuums" und "Individualismus" sehr große Errungenschaften sind, die gar nicht in Frage stehen. Ich vermute aber, das Hermeneuticus das auch gar nicht in Frage stellen würde ... man wird sehen :-)

Vielleicht sollte man daraus einen eigenen Thread machen? Was haltet ihr davon?




Hermeneuticus
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Di 29. Aug 2017, 09:54

Ja, ein eigener Thread wäre schick. :-) Natürlich widerspreche ich Segler energisch! :)




Hermeneuticus
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Segler hat geschrieben :
Di 29. Aug 2017, 09:23
Stefanie hat geschrieben :
Mo 28. Aug 2017, 18:43
Der Knackpunkt ist dabei die Frage, was den Vorrang hat: die Gruppe/Gesellschaft oder das Individuum. Setzt sich die Gesellschaft aus - quasi atomaren - Individuen zusammen, die von Natur aus frei und gleichberechtigt sind? Oder können die Individuen nur im Zusammenhang einer arbeitsteiligen Gesellschaft a) überleben, b) ein gutes Leben führen und c) zu freien, selbstbestimmten Subjekten werden?
Meine Fragestellung intelligent formuliert.
Diese Position bestreitet die Autonomie des Individuums. Damit dürfte es in der zeitgenössischen Philosophie - Hegel hin oder Hegel her - eine Minderheitenposition sein. Ohne die Autonomie des Individuums können wir zum Beispiel unsere gesamten Moralvorstellungen über Bord werfen. Auch das positive Recht, besonders das Strafrecht, wäre sinnlos. Weshalb sollte man jemanden bestrafen dürfen, der nicht autonom entscheiden kann, wie er handeln will?
Ich stimme Dir so weit zu: ohne individuelle Autonomie keine Moral und kein Recht. Aber wieso meinst Du, dass die (ich nenne sie mal:) "kommunitäre" Herangehensweise die Autonomie des Individuums bestreitet?

Von Rousseau stammt das berühmte Diktum "Der Mensch wird frei geboren und liegt doch überall in Ketten." So eröffnet er seine Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen. Aber wenn oder was meint er mit dem Menschen, der frei geboren wird? Doch nicht die wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut, denn die kommen als völlig abhängige, unselbständige, hilflose Würmchen zur Welt, die ohne die Zuwendung der Erwachsenen nicht überlebensfähig wären. Soll das etwa individuelle Autonomie sein? Offenbar meint Rousseau nicht den realen Menschen, sondern den Menschen als Idee, als reines Vernunftwesen oder so etwas ähnliches.

In der Realität ist es jedenfalls so, dass jeder Mensch erst durch einen langen Bildungs- oder Sozialisationsprozess zu einem selbstbestimmten Wesen wird, das entscheiden, sagen, tun und verantworten kann, was es will. Es gibt das Sprichwort: "Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein Dorf." D.h. es braucht nicht nur Vater, Mutter und Geschwister, sondern eine größere, schon funktionierende Gesellschaft, um aus einem Kind einen selbstbestimmten Erwachsenen werden zu lassen, der sein Leben dann IN dieser Gesellschaft auf eigene Verantwortung leben kann.

Halten wir also schon einmal als schiere Fakten fest, dass

1. die Gesellschaft schon da ist und da sein muss, damit überhaupt ein neues Individuum entsteht und heranwachsen kann, und
2. dieser tatsächliche Vorrang der Gesellschaft nicht nur kein Hindernis für die Autonomie des neuen Mitglieds ist, sondern sogar eine notwendige Voraussetzung.

Bei dieser objektiven Sachlage fällt es mir schwer, Deine Behauptung zu verstehen und zu akzeptieren. Die kommunitäre Position bestreitet in keiner Weise die Autonomie des menschlichen Individuums. Vielmehr hat sie ein realistisches Bild davon, worin menschliche Autonomie besteht und wie sie überhaupt möglich ist.




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Jörn Budesheim
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Di 29. Aug 2017, 11:32

Für die Genese des Einzelnen mag das alles gelten. Aber daraus, dass A B für seine Entwicklung braucht, folgt nicht ohne weiteres ein Vorrang von B in welcher Hinsicht auch immer, schätze ich.




Hermeneuticus
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Di 29. Aug 2017, 12:23

Gut, der Ausdruck "Vorrang" ist erläuterungsbedürftig. Ich meine ihn im Sinne von "notwendiger Voraussetzung". Explizit: Ohne ein funktionierendes soziales Umfeld würde kein menschliches Individuum a) überleben und b) zu einer selbstbestimmten Person heranwachsen können.

Diese Behauptung lässt sich doch schwer bestreiten. Sie ist von biologischen und entwicklungspsychologischen Fakten untermauert. Was Menschenkinder zu einem selbstbestimmten Leben brauchen, müssen sie in der Gesellschaft lernen, in der sie leben. Das ist evident für alle zentralen kulturellen Techniken und besonders auch für die Sprache, die von grundlegender Bedeutung für ein selbstbestimmtes Leben ist. Aber das Eigentümliche bei diesen Lernprozessen ist ja, dass den Heranwachsenden nicht einfach Regeln eingetrichtert werden, die sie dann starr und fremdbestimmt befolgen. Sondern sie erwerben ein geregeltes Können, das sie dann selbstständig ausüben und beherrschen. Wer z.B. rechnen kann, rechnet ja nicht nur wie ein Automat, wann immer ihm von außen eine Aufgabe gestellt wird, er kann diese Fähigkeit jederzeit auch spontan einsetzen, wenn sie ihm erforderlich oder nützlich erscheint. Oder noch simpler: Wer das Gehen lernt, bewegt sich dann nicht wie ein Soldat beim Drill - nämlich immer auf äußeres Kommando -, sondern ihm verhilft diese Fähigkeit dazu, sich nach eigenem Willen hierhin oder dorthin zu bewegen. Die mühsam erlernten Kulturtechniken machen aus den Lernenden keine fremdbestimmten Automaten, sie verhelfen ihnen stattdessen zur Selbstständigkeit.

Von daher besteht zunächst einmal noch gar kein Widerspruch zwischen dem Wir und dem Ich. Man kann also schlecht behaupten, dass dies ein natürlicher, grundlegender Gegensatz sei. Dieser Vorrang der Gesellschaft vor dem Individuum bedeutet also nicht, dass er zulasten des Individuums und seiner persönlichen Freiheit geht. Im Gegenteil: Das Individuum braucht die Gesellschaft, um überhaupt selbständig zu werden - und damit in Lagen zu geraten, wo es seine persönlichen Ansprüche mitunter auch gegen die Gesellschaft geltend machen kann. - Das ist ein wichtiger Punkt für das Verständnis von individueller Autonomie. Hobbes, Locke und Rousseau sind einfach von einem illusorischen Menschenbild ausgegangen: Sie nahmen an, dass der Mensch im Naturzustand - also ohne soziale Ordnung - ein freies, selbständiges, ja autarkes Individuum sei. Und so konnte dann die Vergemeinschaftung des Individuums von vornherein nur als eine Einschränkung der (naturgegebenen) persönlichen Freiheit konzipiert werden.

Dieses Vorurteil ist bis heute weit verbreitet. In jeder Moraldiskussion wird es wieder präsentiert. Moral, Recht und Staat werden von vornherein als fremde Mächte angesehen, die den Einzelnen in seiner natürlichen Freiheit bedrohen und einschränken. Das ist alles a priori "bäh-bäh". Man wehrt sich mit Händen und Füßen gegen den Gedanken, dass ein geordnet funktionierendes Gemeinwesen eine unverzichtbare Voraussetzung für individuelle Autonomie sein könnte. Man phantasiert lieber von einer zukünftigen Befreiung des Menschen durch die Anarchie oder vom Übermenschen, als sich diesem fact of life zu stellen... :roll:




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